Gehört Deutschland zum Islam? Der Islam passt nicht zum Westen – glaubt auch hier eine Mehrheit. Also: Wie leben Muslime in Deutschland? Ein Einblick in eine ungeahnte Seite unserer Kultur Seite 17–20 AUSGABE BERLIN | NR. 11053 | 25. WOCHE | 38. JAHRGANG W SONNABEND/SONNTAG, 25./26. JUNI 2016 | WWW.TAZ.DE € 3,50 AUSLAND | € 3,20 DEUTSCHLAND T I T L , L E E N B R O I D T L A L IN E EUROPA Das Yes zum Brexit erschüttert den Kontinent. Die Populisten aller Länder haben Jubellaune, doch unter jungen Europäern ist die Wut groß Ein Dossier SEITE 2–11, 16 My home is my castle, wie der Brite sagt Foto: Ron Bambridge/getty images; Miriam Stanke (oben) DAV I D CA M E RO N D E R STÄRKSTE SATZ RECH TS P OP U L IS MUS Hohe Wette, große Niederlage „Männer waren noch nie Maschinen und werden es auch nie sein. Viagra ist eine Prothese“ Das Gift des Wutbürgertums Der britische Premier wollte das Land mit dem Referendum in der EU halten. Nun ist auch er „out“. Doch eine Exit-Strategie hat niemand SEITE 5 60625 4 190254 803208 Die Soziologin ILKA QUINDEAU über junge Männer von heute SEITE 24, 25 TAZ MUSS SEIN Die tageszeitung wird ermöglicht durch 16.020 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 taz.berlin Nazis MarzahnEs gibt viele Gründe, Hellersdorf hat sich zur warum der Spaltpilz Hochburg rechter so tief sitzt in Europa. Gewalt entwickelt. Alle Gegenstrategien Warum bekommt der sind verkopft. Ein Bezirk das Problem Plädoyer für mehr Herz nicht in den Griff? Eine von Robert Misik SEITE 11 Spurensuche Seite 41, 44, 45 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 | [email protected] | [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de | twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune ANZEIGE DIE GRÜNE BUNDESTAGSFRAKTION LÄDT EIN: INTEGRATION GEFLÜCHTETER FRAUEN IN DEN ARBEITSMARKT Fachgespräch am 1. Juli im Deutschen Bundestag Infos & Anmeldung: » gruene-bundestag.de » Termine 02 TAZ.AM WOCH EN EN DE Aus dem Inhalt Out! 11 Seiten zum Brexit GB Cameron ist ebenfalls out. Wie die Briten ab gestimmt haben und das Land reagiert Seite 4–5 EU Was heißt die Ent scheidung nun für Brüssel und Europa? Seite 6–7 Populisten Die Sieger der Abstimmung heißen Farage, Le Pen, Petry & Strache Seite 8 Berlin Auf Kanzlerin Mer kel kommt Arbeit zu. Wie das politische Deutsch land reagiert Seite 9 Meinung Small Britan nia. Kommentare und Analysen Seite 10, 11 Kultur Auswandern? Für viele britische Pop musiker ist das nun ernst hafte Option Seite 16 Brexit SON NABEN D/SON NTAG, 25./26. JU N I 2016 Wir verlassen euch nicht! I ch rief laut „Scheiße“, als ich herausfand, dass Großbritan nien dafür gestimmt hatte, die EU zu verlassen. Ich bin 39 Jahre alt und habe mein halbes Leben in England verbracht. In London wurde ich zur Europäerin, dort lernte ich, was es bedeutet, mit Menschen zusammenzuleben, die anders sind als ich. Dort wurde ich an getrieben, Macht zu hinterfra gen. Heute fällt es mir schwer, zu glauben, dass „mein Großbri tannien“ so gewählt hat. Aber ich muss wohl noch viel über die Briten lernen. Ich dachte, ihre Verachtung für Europa würde kurz vor dem „Leave“-Vo tum aufhören. Aber jetzt wird mir klar, dass ich meine Freunde aus London fälschlicherweise für einen Querschnitt der Ge sellschaft hielt. Es ist erschütternd zu sehen, dass im Jahr 2016 – einer Zeit, in der viele unzufrieden und unsi cher sind – mehr als die Hälfte der Wähler ihren Glauben in Po litiker setzen, die Fiktionen ver kaufen. Der EU die Schuld zuzu weisen geht nicht. Liebes Großbritannien, wir sind eins. Du kannst die EU ver lassen, aber die EU verlässt dich nicht. ■■Silvia Boarini, 39, ist eine Journalistin aus Italien Und die ganzen Fördermittel? H eute Morgen bin ich aufgewacht und war sofort wütend. Dann hatte ich Angst. Und seitdem mache ich mir eine Menge Sorgen. Die britische Wirtschaft hat sich durch die EU prächtig entwickelt. Jetzt, wo wir austreten, frage ich mich, ob das so weitergehen wird. Ich mach mir Sorgen um unsere Zukunft. Ich bin ein freischaffender Filmemacher. Meine Kollegen und ich haben bisher viel mit Fördermitteln aus der EU gearbeitet. Jetzt haben wir Angst, dass wir diese EU-Gelder verlieren werden. Der Wahlkampf auf beiden Seiten wurde mit Angst geführt. Aber ich glaube, jetzt ist es wirklich Zeit, Angst zu haben. Angst um unsere wirtschaftliche Zukunft. Angst um unsere arbeitenden Familien. Angst, die Arbeit zu verlieren. Aber es ist nun mal passiert. Wir können es nicht ändern. Jetzt müssen wir unseres Bestes geben. Es ist gruselig, aber wir kommen da schon durch – das machen wir immer. ■■Scott Stevens, 20, ist freischaf fender Filmemacher und lebt in Devon. Vor allem ältere Leute haben in Großbritannien für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt. Sie zerstören damit unsere Zukunft, finden viele Junge. Neun wütende Stimmen GENERATION EU Fuck the Methusalemkomplott! Kultur Theater Die Kampagne gegen den Castorf-Nach folger an der Berliner Volksbühne grenzt an Verleumdung Seite 13 Politbuch Nach den An schlägen von Paris wurde das Bistro zum Ort des Widerstands. Marc Augé erzählt, warum Seite 15 Gesellschaft Kultur Wie das Land den Islam bereits geprägt hat: Eine kleine Deutsch landreise Seite 17–20 Männer Warum nimmt schon die Generation Y Viagra? Intime Fragen an die Soziologin Ilka Quindeau Seite 24, 25 Genuss Alle und überall: Deutschland grillt wieder. Nur einer macht da nicht mit Seite 33 Sind wir noch willkommen? E Nominiert Tobias Burdu kat findet das sächsische Grimma viel zu schön, um wegzugehen Seite 27 Vorschau Die Niedrig risikospieler. Am Sonntag trifft die deutsche Elf auf die Slowakei Seite 29–32 Medien Bildsprache Warum ein Foto von Angela Merkel völlig unterschiedliche Geschichten erzählen kann Seite 35 Reise Adria Titos Hawaii: Die kroatische Insel Lastovo ist ein guter Ort für Verrückte Seite 39 AUS DER TAZ SEITE 28 TV-PROGRAMM SEITE 34 LESERBRIEFE SEITE 37 DIE WAHRHEIT SEITE 40 E s stimmt mich traurig, dass sich die Brexit-Befürworter mit ihrem billigen Populismus und ihren falschen Fakten beim Referendum knapp durchsetzen konnten. Ich befürchte, dass viele Menschen in Großbritannien diese Entscheidung noch bereuen werden. Doch vor allem eine Stimme für Europa war deutlich: Die jungen Menschen haben sich mit großer Mehrheit für unsere europäische Gemeinschaft ausgesprochen. Wir überzeugten Europäerinnen und Europäer müssen uns die Hand reichen und sollten nicht verzagen. Jenseits aller wirtschaftlichen Beziehungen müssen wir dabei vor allem das soziale Gesicht Europas stärken. Natürlich gibt es in der Europäischen Union Reformbedarf – sie sollte solidarischer, bürgernäher und transparenter sein. Dafür sollten wir uns gemeinsam einsetzen, statt den Rechtspopulisten mit ihren nationalen Egoismen, ihrer Angstmacherei und ihren Hassparolen einfach das Feld zu überlassen. Den europäischen Zusammenhalt lassen wir uns als junge Generation jetzt erst recht nicht kaputtmachen. ■■Agnieszka Brugger, 31, Grüne, in Polen geboren, ist Mitglied des Deutschen Bundestags taz Panter Preis EM taz Europa braucht ein soziales Gesicht Hat bald einen Stern weniger: die EU-Flagge, gestern in London Foto: Neil Hall/reuters Ihr jungen Leute! W er hätte das gedacht? Die Briten haben sich entgegen den letzten Umfragen doch getraut. Ich verstehe ja, dass ihr jungen Leute euch darüber ärgert, weil die EU euch Reisefreiheit beschert hat. Oftmals müsst ihr im Ausland nicht mal Geld wechseln. Das fand ich früher auch prima. Aber die Kosten dafür sind zu hoch. Nehmen wir Irland als Beispiel: Die Iren müssen die Spekulationsverluste nicht nur ihrer eigenen, sondern auch der deutschen, französischen, britischen und US-Banken ausgleichen. Dafür hat ihnen die Troika, und dazu gehört auch die EU, sieben aufeinanderfolgende Sparhaushalte aufgezwungen. Die Folgen sind ein drastischer Anstieg der . . . beruhigt euch. Ralf Sotscheck sagt mit der Gelassenheit von 62 Jahren: Der Brexit hat auch sein Gutes Obdachlosigkeit und eine Verarmung weiter Teile der unteren Mittelschicht. Für diese Menschen spielt Reisefreiheit nicht unbedingt die erste Geige. Deshalb finde ich es gut, dass diese Art von EU jetzt anfängt zu bröckeln. Natürlich ist meine Freude darüber nicht grenzenlos, denn die überwiegende Mehrheit vor allem der älteren Generation ist den Rechtspopulisten auf den Leim gegangen. Das sind die Menschen, die sich nie damit abgefunden haben, dass das briti- sche Weltreich nur noch in den Geschichtsbüchern vorkommt. Sie haben nicht bedacht, dass dieses ehemalige Weltreich nun noch kleiner wird, weil Schottland und irgendwann auch Nordirland abtrünnig werden. Aber die positiven Folgen aus dem Brexit-Votum reichen weiter. In den anderen Ländern der Europäischen Union muss man sich nun ernsthaft mit Reformen dieses EU-Eliteclubs auseinandersetzen und kann nicht einfach weitermachen wie bisher. Selbstverständlich besteht die Gefahr, dass die Rechtspopulisten in vielen EU-Ländern nun den Reaktionären der United Kingdom Independence Party (Ukip) nacheifern wollen. Aber es ist auch eine Chance für die Linke, die es ja noch gibt, auch wenn sie meist auf dem Rückzug ist. Jetzt seid Ihr gefordert, die junge Generation. Es gilt, sich zusammenzuschließen und eine gemeinsame Strategie zu entwickeln, um eine Alternative zur EU anzubieten, die nicht dem Kapital, sondern den Bürgern verpflichtet ist. Damit könnt Ihr Ukip und Konsorten letztendlich eine ganz schön böse Überraschung bereiten. ■■Ralf Sotscheck, 62, ist taz-Kor respondent für Großbritannien und Irland. Vor langer Zeit war auch er einmal jung und wütend. Dann zog er nach 22 Semestern Studium in Berlin nach Dublin und schrieb unzählige Bücher und Reiseführer über Irland, England und Schottland. Seitdem ist er milder s ist ein erfolgreicher Tag für den Populismus in ganz Europa und ein trauriger Tag für die europäische Idee und die Werte, die diese Idee stützen. Der Brexit ist ein Sieg der Schreihälse und nicht der zukunftsorientierten Politik. Es werden leider diejenigen die Konsequenzen tragen, die sich in Großbritannien als Europäer fühlen und die ihr Leben geografisch nicht begrenzen wollen. Gerade für junge Leute, die sich mehrheitlich Europa zugewandt haben, dürfte dies eine herbe Enttäuschung darstellen. Ich bin in Montenegro geboren und habe in Deutschland studiert. Wenn man den Brexit aus der Perspektive des Westbalkans betrachtet, wird durch ihn die Unsicherheit weiter verstärkt, die die Bürger dort ohnehin schon spüren. Sie fragen sich, inwiefern die Europäische Union nun noch bereit ist, die Erweiterung voranzutreiben. Der Erweiterungsprozess muss aber weiterverfolgt werden. Zwar muss er den Westbalkanstaaten viel abverlangen, aber die EU sollte eine klare Botschaft senden: Ihr seid – trotz Euroskepsis – in der EU herzlich willkommen. ■■Katarina Milacic, 27, ist Politik wissenschaftlerin und arbeitet in der Politikberatung. Sie wurde in Montenegro geboren, kam aber vor vier Jahren zum Studieren nach Deutschland. Heute lebt sie in Berlin Brexit SON NABEN D/SON NTAG, 25. / 26. JU N I 2016 TAZ.AM WOCH EN EN DE 03 Wir müssen eine neue Linke aufbauen I ch bin tief enttäuscht. Vor allem aber bin ich wütend. Am allermeisten auf David Cameron, weil dieses Referendum gar nicht erst hätte stattfinden dürfen. Es hat zu einem tiefen gesellschaftlichen Riss geführt. Wir werden lange brauchen bis er heilt. Das Referendum ließ die spaltende Rhetorik der Politiker noch krasser werden. Sie nutzten die ganz realen Ängste der Menschen zynisch für ihren Erfolg aus. Das Referendum brachte das Schlechteste in unseren Medien hervor. Ich versuche, nicht wütend auf „die Briten“ zu sein und auf die Leute, die für „Leave“ gestimmt haben. Ich weiß, dass es nicht sie sind, auf die wir uns jetzt stürzen sollten. Wenn du „beschämt“ bist oder sauer, dann richte deine Wut auf das politische Establishment und die Finanzeliten in Großbritannien. Der Kern dieser Spaltung ist Ungerechtigkeit, sie ist größer als in den letzten hundert Jahren. Ich bin wütend auf die, die diese wachsende Ungerechtigkeit nicht stoppen konnten, die sich immer so eindeutig für den Neoliberalismus ausgesprochen haben, die nach dem Crash 2008 keine Bankenreform eingeführt haben, die keine innovative Arbeitsmarktpolitik geschaffen haben, die versagt haben bei der Bildung, beim Wohnungsmarkt, beim Gesundheitssystem und so weiter. Ich bin nicht wütend auf die, die die Auswirkungen dieses Versagens zu spüren bekamen. Wer Angst hat und sich wegen der Einwanderung Sorgen macht, ist nicht gleich rassistisch. Ich bin wütend auf die, die diese Ängste ausnutzten. Ich bin wütend, weil die Linken nicht mehr getan haben, um die zu stoppen, die immer wieder Öl ins Feuer gossen. Ich bin wütend, weil wir uns keine differenzierte und ehrliche Debatte erlaubt haben. Ich bin wütend, weil wir das Potenzial der EU nicht besser kommunizieren konnten. Wir müssen eine neue Linke aufbauen. Wir müssen Wege finden, um diese Spaltung zu heilen. Wir müssen kämpfen. Jetzt, jeden Tag. ■■Echo Collins-Egan, 28, lebt in London und ist ProgrammManagerin Zwei, die lieber dringeblieben wären: Unterstützer der Kampagne „Stronger In“, als sie das Ergebnis der Abstimmung am Freitagmorgen hören Foto: Rob Stothard/ap Brexit, Nexit, Frexit D er Brexit zeigt nicht so sehr die Kluft zwischen den Generationen, sondern zwischen den Klassen. In Orten, wo viele Akademiker wohnen, wie Edinburgh, Oxford und Cambridge, waren im Schnitt 58 Prozent der Wähler für den Verbleib. In den Orten mit dem niedrigsten Akademikeranteil waren nur 39 Prozent dafür. Es war eine Abstimmung, in der ein kosmopolitisches und liberales Großbritannien dem sozial konservativeren Teil des Landes unterlag. „Blue collar Britain“ macht sich große Sorgen wegen unkontrollierter Immigration, für die es der EU die Schuld gibt. Das ist nicht irrational, sondern logisch. Die unteren Schichten müssen mit Immigranten um Jobs und Wohnungen konkurrieren, während die oberen Schichten von billiger Arbeit und steigenden Immobilienpreisen profitieren. Eines ist ganz wichtig zu begreifen: Diese „Blue-collar-Rebellion“ manifestiert sich in vielen EU-Ländern, vor allem in Frankreich und den Niederlanden. Im Frühjahr 2017 werden Geert Wilders und Marine Le Pen dort Wahlen gewinnen und versuchen, den „Nexit“ und „Frexit“ voranzutreiben. Die Pro-Immigrationspolitik der EU und die Tatsache, dass die Es wird Zeit für einen Neustart I ch bin 22 Jahre alt. Kriege zwischen Deutschland und benachbarten Ländern kenne ich nur aus den Geschichtsbüchern. Ein vereintes Europa ist für mich immer selbstverständlich gewesen und alleine der Gedanke, dass diese Errungenschaft wieder aufgegeben werden könnte, lag mir bislang fern. Doch nun hat der Brexit deutlich gezeigt, dass die EU, dieses historische Friedensprojekt, keinesfalls einer Ewigkeitsgarantie unterliegt, sondern im Kern bedroht ist. Die EU wird nicht mehr nur mit Frieden, Freiheit und Wohlstand verbunden, sondern auch mit Bürokratie, Überregulierung und hohen Kosten. Das, was Generationen vor mir einst für die Idee der EU begeistert hat, ist selbstverständlich geworden und genügt offensichtlich allein nicht mehr, um die Menschen davon zu überzeugen, dass wir gemeinsam stärker sind. Diesem Empfinden, das europaweit von rechten und rechtspopulistischen Parteien ausgenutzt wird, müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten nun entschlossen entgegentre- Ich will keine Britin mehr sein EU allen ihren Bürgern gleiche soziale Rechte garantiert, haben dem Glauben, dass die EU für Wohlstand und Sicherheit steht, einen fatalen Schlag versetzt – in weiten Teilen der Arbeiterklasse. Die EU muss dringend aufwachen und der Angst der Arbeiter vor Massenmigration zuhören, oder das gesamte europäische Projekt wird scheitern. Und dann werden Rechtsextreme über ein zersplittertes Europa herrschen. ■■Joren Vermeersch, 34, hat Recht und Geschichte studiert und arbeitet als Ghostwriter in der belgischen Politik I ch bin Britin und lebe in der Türkei. Dort arbeite ich bei einer NGO, die sich mit der Syrien-Irak-Krise beschäftigt. Viele unserer Projekte werden mit EUMitteln finanziert. Als der EUTürkei-Deal geschlossen wurde, brachte das alle, die in humanitären Organisationen arbeiten, in eine schwierige Situation: Wir akzeptieren das Geld, aber die EU bricht ihre Prinzipien der Solidarität. Seit diesem Deal bin ich skeptisch, was EU angeht. Trotzdem hat die Entscheidung der Briten, die Europäische Union zu verlassen, mich heute traurig und wütend gemacht. Traurig, weil sie einen weiteren Sieg für Abschottung und Xenophobie bedeutet. Die Briten haben sich gegen ein Projekt entschieden, das Gegengift ist für den extremen Nationalismus, der uns in den Zweiten Weltkrieg geführt hat. Wut, weil es schwer zu begreifen ist, wie ein Wahlkampf voller rassistischer Propaganda mehr als die Hälfte meiner Mitbürger überzeugen konnte. Ich habe Glück. Ich bin in Spanien aufgewachsen. Heute habe ich mich um eine spanische Staatsbürgerschaft beworben. ■■Maria del Mar Marais, 27, arbeitet bei einer NGO in Istanbul Ich bin wütend auf uns Politiker ten. Es wird Zeit, der EU einen Neustart zu verpassen. Abschottung, Schlagbäume und Zölle sind für mich keine Alternative zu einem friedlichen, freiheitlichen und vereinten Europa. Jetzt wieder in Kleinstaaterei und nationale Egoismen zu verfallen, wäre ein historischer Fehler, den ich gegenüber den nächsten Generationen nicht verantworten möchte. ■■Dominik Erb, 22, ist stell- vertretender FDP-Vorsitzender des Kreisverbands Gießen und studiert dort Jura I ch bin wütend über den Brexit. Aber nicht wegen der Wählerinnen und Wähler, die mehrheitlich eine für sie selbst und uns alle schlechte Entscheidung getroffen haben. Sondern wegen der Mehrzahl der Politikerinnen und Politiker. Weil es uns nicht gelungen ist, den Menschen die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit darüber, dass wir die Herausforderungen der Zukunft nicht mehr werden national lösen können. Dass unsere Souveränität eben nicht mehr allein in Westminster oder im Bundestag, sondern vor allem im Europäischen Parlament verteidigt wird. Nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Deutschland und anderen EU-Ländern wird die europäische Politik seit Jahren als lästig und unfähig beschrieben, während die Unzulänglichkeiten nationaler Politik schöngeredet werden. Als Justizminister Maas jüngst stolz neue Regeln im Kampf gegen Menschenhandel verkündete, erwähnte er nicht mit einem Wort, dass diese eigentlich aus Brüssel stammen und die Bundesregierung sie eigentlich be- reits drei Jahre zuvor hätte umsetzen müssen. Keine einzige Zeitung war in der Lage, diese Information unter die Leute zu bringen. Kein Einzelfall, sondern der alltägliche Wahnsinn in einer Europäischen Union, in der die nationalen Eliten in Kauf nehmen, dass diese großartige Idee immer weniger Menschen begeistert. ■■Jan Philipp Albrecht, 33, Grüner, ist stellvertretender Vorsitzender des Innen- und Justizausschusses im Europäischen Parlament
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