Investigativer Journalismus in Deutschland

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Investigativer Journalismus, Teil 2: Die Historie
Das Genre im Portät
Ann-Kathrin Lindemann · 24. Juni 2016
Der investigative Journalismus, in den USA zunächst mit dem wenig schmeichelhaften
Begriff “Muckraking” belegt, entwickelte sich vom radikal-politischen Kampf zu einem
sachlichen, an Hintergründen interessierten Genre. Den langen Weg vom Anprangern
von Missständen bis zur Vertretung öffentlicher Interessen verfolgen Sie hier.
Um zu verstehen, mit welcher Motivation investigative Journalisten arbeiten, hilft ein
Blick in die Entstehungsgeschichte des Genres. Insbesondere in den USA spielt es seit
Langem eine bedeutende Rolle.
Die Wurzeln in den USA
Während in Deutschland bis 1945 immer wieder Gesetze zur Pressezensur eingeführt
wurden, die eine freie, unabhängige Presse und somit auch die Entwicklung von
investigativem Journalismus erschwerten, fehlten in den USA solche Repressionen.1
Dort wandelte sich die Presse schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von
einer Parteipresse zu einer kommerziell orientierten Penny Press, die ihre Verkäufe
nicht über eine klare politische Haltung, sondern über sensationalistische Inhalte
generierte.2 Für eine möglichst hohe verkäufliche Auflage gaben viele Zeitungen ihre
klare politische Orientierung auf und widmeten sich breiteren, gesellschaftlich relevanten Themen, die die Leser über alle Parteigrenzen hinweg ansprechen sollten.3
In diesem Umfeld entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts eine Frühform des
investigativen Journalismus, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Begriff
“Muckraking” bekannt wurde. Die Bezeichnung Muckrakers wurde vom damaligen
amerikanischen Präsidenten Theodor Roosevelt geprägt. Er adaptierte den Begriff aus
dem Buch “Pilgrim’s Progress” von John Boyan, in dem ein “muckraker” als ein Mann
dargestellt wird, der den Blick stets auf den Boden gerichtet hält und so nur den
Dreck wahrnimmt, den er mit seiner Mistgabel beseitigen muss.4 Ähnlich dem literarischen Namensvetter richteten auch die Muckraker-Journalisten ihren Blick nach
unten und berichteten über gesellschaftliche Missstände, soziale Probleme der
Unterschichten, die Behandlung und Ausbeutung der Arbeiterklasse oder das
Fehlverhalten von Konzernen und Politikern.
Die fortschreitende Industrialisierung sowie der Ausbau der Infrastruktur führten
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dazu, dass Zeitungen erstmals national vertrieben werden konnten. Aufgrund der
dadurch deutlich erhöhten Reichweite wurde die Wirkung der investigativ
recherchierten Artikel vergrößert und die Muckraker konnten erste Reformen
anstoßen.5
Der Anfang des 20. Jahrhunderts markierte die Blütezeit des Muckrakings. Die
Muckraker verwendeten dabei bereits alle Techniken, die später fester Bestandteil
des investigativen Journalismus wurden. Sogar Methoden der verdeckten Recherche
wurden in dieser Zeit als wichtiges Instrument etabliert.6
Mit Beginn des Ersten Weltkriegs endete diese Blütezeit. Als Gründe werden hierfür
unteren anderem die Auswirkungen des Krieges, das Ende der progressiven
politischen Bewegung, das Greifen der angestoßenen Reformen, die den Muckrakers
den “Dreck” zum Durchwühlen nahmen, sowie Veränderungen im Mediensektor
genannt,7 mit jeweils unterschiedlichem Anteil am Niedergang dieser Spielart des
frühen investigativen Journalismus.8
Motivation als Unterschied
In Themenwahl und Recherche entsprach Muckraking also bereits dem heutigen
investigativen Journalismus. Der zentrale Unterschied zwischen den beiden Genres
liegt jedoch in der Motivation der Journalisten. Während ein heutiger investigativer
Journalist als objektiver Berichterstatter operiert, der Missstände zwar aufdeckt und
öffentlich macht, dabei jedoch nicht politisch agiert, sahen sich die Muckraker als
radikale politische Akteure und Reformer ihrer Zeit. Sie verfolgten mit ihrer
Berichterstattung eine zum Teil sozialistische Agenda und sahen ihre Recherche und
Artikel als Werkzeug, um bestimmte Reformen und Veränderungen durchzusetzen
oder doch wenigstens anzustoßen. Ein Muckraker wurde demnach primär von seinen
idealistischen Motiven angetrieben.9
Vordergründig bildeten die Muckraker damit das Gegenstück zur Sensationspresse
ihrer Zeit, der damals schon vorhandenen Yellow Press, die mit reißerischen Artikeln
und immer dramatischeren Skandalen möglichst große Auflagen erzielen wollte. Nicht
Idealismus motivierte hier zur Recherche, sondern rein kommerzielles Interesse:
gesucht war stets die Geschichte, die sich besser verkaufen ließ als die der
Konkurrenz.10
Yellow Press und Muckraking als entgegengesetzt zu definieren, wäre jedoch zu stark
vereinfachend. Auch die Muckraker sorgten mit ihren Geschichten für reißenden
Absatz der Zeitungen, womit sie “Protest und Profit auf höchst erfolgreiche Weise
miteinander zu verknüpfen wußten”11. Auch wenn ihre ursprüngliche Intention darauf
abzielte, gesellschaftliche Reformen anzustoßen, rückte diese immer mehr in den
Hintergrund. Das “Wühlen im Dreck” wurde schließlich nicht mehr betrieben, um
gesellschaftliche Umbrüche zu erreichen, sondern um irgendetwas zu finden, mit dem
die Auflage gesteigert werden konnte. Wie Boventer treffend beschreibt, war “die
Aufdeckung der Missstände längst Selbstzweck geworden”12.
Der Neubeginn
Erst in den 1960er-Jahren wurde der investigative Journalismus von einer jüngeren
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Journalistengeneration wiederbelebt. Erfindungen wie der Fotokopierer förderten das
erneute Aufleben des investigativen Journalismus, da so Informanten leichter Material
an die recherchierenden Reporter liefern konnten. Insbesondere in Zeitschriften
entstand ein neuer Journalismus, der sehr stark auf investigativen Recherchen
aufbaute und den Journalisten die benötigten Freiräume dazu gab. Zudem wurden
mehrere Non-Profit-Organisationen gegründet, die investigativen Journalismus
förderten. In diese Ära fällt auch die Watergate-Affäre, der bis heute wohl
berühmteste Fall einer investigativ recherchierten Geschichte rund um die
Machenschaften des damaligen US-Präsidenten Richard Nixon. 13
Die bedeutendste Entwicklung im neuen investigativen Journalismus war jedoch der
Fokus auf die Objektivität der Berichterstattung, der den Muckrakers noch gefehlt
hatte. Die investigativen Journalisten waren nicht mehr die radikalen Reformer der
Jahrhundertwende, sondern konzentrierten sich wieder verstärkt auf politische
Themen und Missstände, ohne dabei eine eigene Agenda zu verfolgen. Das Genre
bediente damit auch die Bedürfnisse des Publikums nach gut recherchierten,
objektiven Informationen über die Machenschaften ihrer Regierung und anderer
Autoritäten. Während das Vertrauen in die Politik durch die Watergate-Affäre und den
Vietnamkrieg beschädigt wurde, konnte sich investigativer Journalismus in den USA
so als Watchdog etablieren, der Autoritäten kontrolliert und Machtmissbrauch oder
ähnliche Vergehen offenlegt.14
Investigativer Journalismus in Deutschland
Auch wenn der investigative Journalismus in den 1970er-Jahren wieder etwas in den
Hintergrund rückte, blieben die in den Jahren zuvor etablierten Prinzipien
unverändert und wurden schließlich auch in Deutschland etabliert.
Nachdem die Presse im Dritten Reich für Propagandazwecke instrumentalisiert
worden war, wurde nach 1945 durch die Alliierten der Standard des “objective
reportings” eingeführt.15 Allerdings dauerte es noch bis zur Watergate-Affäre, bis sich
auch der deutsche Journalismus ausführlichen investigativen Recherchen widmete.
Vor allem die Barschel- und die Flick-Affäre führten zur kritischen
Auseinandersetzung mit dem investigativen Journalismus und dessen Methoden.
Nachrichtenmagazine wie “Spiegel” und “Stern” etablierten sich dabei als (zumindest
in Teilen) investigativ arbeitende Medien und konnten sich diesen Ruf bis heute
erhalten.16 Im Vergleich zu den USA spielt investigativer Journalismus in Deutschland
jedoch nach wie vor nur eine untergeordnete Rolle.17
Zwischenfazit
Investigativer Journalismus entwickelte sich, um Missstände anzuprangern und
gesellschaftliche Veränderungen hervorzurufen, die diese Missstände beheben sollten.
Diese Beweggründe sind auch heute noch seine Grundlage, wenn auch mit einer
etwas anderen Motivation. Während die Muckrakers subjektive Ziele verfolgten, sehen
investigative Journalisten heute ihre Bestimmung im Aufdecken einer objektiven
Wahrheit.18
Sie sind damit nicht mehr die treibende Kraft radikaler Reformen, sondern Diener des
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öffentlichen Interesses. Gerade wenn investigative Journalisten Unwahrheiten oder
Missstände in der Gesellschaft aufdecken und zum Gegenstand des öffentlichen
Diskurses machen, kommt die Kontrollfunktion der Medien besonders stark zum
Ausdruck. Das hohe Engagement des einzelnen Journalisten darf dabei nicht mit
Subjektivität verwechselt werden: Die schwierige Recherche bedarf eines aktiven,
engagierten und hoch motivierten Journalisten, der seine Motivation durchaus auch
aus einem anwaltschaftlichen Verständnis seines Berufs ziehen kann.19 Der Journalist
stellt sich dabei in den Dienst des öffentlichen Interesses, subjektive Ziele treten in
den Hintergrund.
In Teil 3 (Veröffentlichung am Montag) der Beitragsserie erfährt der investigative
Journalismus eine kritische Betrachtung.
Titelillustration: Esther Schaarhüls
Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen FachjournalistenVerbands (DFJV).
Die Autorin Ann-Kathrin Lindemann studierte von 2007 bis
2010 Kommunikationswissenschaft an der LudwigMaximilians-Universität München. Von 2010 bis 2011
absolvierte sie den Masterstudiengang Science Journalism an
der City University London. Seit 2011 ist sie wissenschaftliche
Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft,
insbesondere Medienpolitik, der Universität Hohenheim. Seit
Oktober 2015 Mitarbeiterin im Humboldt-Reloaded-Projekt.
Dieser Beitrag wurde publiziert am Freitag den 24. Juni 2016 um 10:30
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