Examensrepetitorium an der Universität Tübingen Aktuelle Fälle aus der Praxis des Verwaltungsgerichts Sigmaringen Sommersemester 2016 Lösungsskizze zu Fall 6: „Notdienst in Not?“ Richter Dr. Michael Snowadsky Die Klage hat Erfolg, wenn die Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen und sie begründet ist. A. Sachentscheidungsvoraussetzungen I. Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges, § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO - öffentlich-rechtliche Streitigkeit? - streitentscheidende Norm: §§ 48, 49 LVwVfG - modifizierte Subjekttheorie → Landeszahnärztekammer ist Körperschaft des öffentlichen Rechts, § 7 Heilberufe-Kammer-Gesetz (HBKG) II. Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts Sigmaringen 1) sachliche Zuständigkeit, § 45 VwGO 2) örtliche Zuständigkeit, § 52 Nr. 3 Satz 2 VwGO - Zuständigkeit des VG Sigmaringen, § 52 Nr. 3 Satz 1 VwGO III. Statthafte Klageart - Maßgeblich für die Bestimmung der statthaften Klageart ist das Klagebegehren → Klagebegehren des A: Fortdauer der Befreiung vom zahnärztlichen Notfalldienst - Befreiung wurde "aufgehoben" → Aufhebung durch Behörde: Widerruf/ Rücknahme richten sich nach §§ 48, 49 LVwVfG → "Aufhebung" ist VA, wenn aufgehobene Befreiung VA (sog. "actus-contrarius-Theorie") - gerichtliche Aufhebung der Aufhebung lässt ursprünglichen VA "wiederaufleben" → statthafte Klageart ist die Anfechtungsklage, § 42 Abs. 1 Variante 1 VwGO IV. Klagebefugnis, § 42 Abs. 2 VwGO - Möglichkeitstheorie - Adressatentheorie V. erfolgloses Vorverfahren, § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO - Widerspruch des A wurde zurückgewiesen VI. Klagefrist, § 74 Abs. 1 VwGO - A hat Monatsfrist gewahrt VII. Beteiligten- und Prozessfähigkeit, §§ 61, 62 VwGO 1 - Bezirkszahnärztekammer selbst ist nicht rechtsfähig, § 22 Abs. 1 Satz 1 HBKG - Landeszahnärztekammer ist Körperschaft des öffentlichen Rechts und damit nach § 61 Nr. 1 Alt. 2 VwGO beteiligtenfähig - Landeszahnärztekammer wird im Prozess durch den Vorstandsvorsitzenden vertreten, § 62 Abs. 3 VwGO VIII. ordnungsgemäße Klageerhebung, §§ 81, 82 VwGO IX. allgemeines Rechtsschutzbedürfnis X. Zwischenergebnis: Die Sachentscheidungsvoraussetzungen liegen vor. B. Begründetheit Die Klage ist begründet, wenn sie sich gegen die richtige Beklagte richtet, der angegriffene Verwaltungsakt, hier die Aufhebung der Befreiung von der Teilnahme am zahnärztlichen Notfalldienst, rechtswidrig ist und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. I. Passivlegitimation, § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO → Die Klage ist zu richten gegen den Rechtsträger der Behörde, die den angegriffenen (Ausgangs-)VA erlassen hat (Rechtsträgerprinzip) - II. Rechtsträgerin der rechtlich unselbständigen Bezirkszahnärztekammer ist die Landeszahnärztekammer als Körperschaft öffentlichen Rechts (§ 22 Abs. 1 Satz 1 HBKG) Rechtsgrundlage - Befreiung wird durch Wegfall der Rechtsgrundlage nicht (automatisch) unwirksam (vgl. § 43 Abs. 2 Variante 2 LVwVfG - Bestandskraft!) ursprüngliche Rechtmäßigkeit des Ausgangs-VA Aufhebung rechtmäßiger Verwaltungsakte (Widerruf) richtet sich nach § 49 LVwVfG III. Formelle Rechtmäßigkeit - Zuständigkeit der Bezirkszahnärztekammer Tübingen Verfahren - - ordnungsgemäße Anhörung, § 28 Abs. 1 LVwVfG keine formalen Anforderungen IV. Materielle Rechtmäßigkeit (= Tatbestandsmäßigkeit und Ermessen) 1) Tatbestand, § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, Satz 2 in Verbindung mit § 48 Abs. 4 LVwVfG - rechtmäßiger, begünstigender VA (+) - Unanfechtbarkeit (+) - Behörde wäre aufgrund einer geänderten Rechtsvorschrift berechtigt, VA nicht zu erlassen 2 → § 10 NO wurde als Rechtsgrundlage für die Befreiung aufgehoben - Gefährdung des öffentlichen Interesses ohne den Widerruf - öffentliches Interesse an einem effektiv organisierten Notfalldienst ist legtimer Zweck für Widerruf → Ist Notfallversorgung ohne den Widerruf gefährdet? - A kann schon von Gesetzes wegen nur im Notfalldienstbezirk Reutlingen Dienst tun (§ 31 Abs. 1 Satz 2 HBKG) - Widerruf nicht geeignet, die Gefahr für das öffentliche Interesse (in den unterversorgten Notfalldienstbezirken) zu beseitigen - "Signalwirkung der Solidarität" eines schematischen Widerrufs aller Befreiungen? Schwer vertretbar 2) Hilfsgutachterlich: Jahresfrist, § 49 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 48 Abs. 4 LVwVfG - 3) Jahresfrist gewahrt (→ maßgeblich: Aufhebung des § 10 NO) Hilfsgutachterlich: Rechtsfolge → Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft, soweit der Begünstigte von der Vergünstigung noch keinen Gebrauch gemacht hat → Rücknahme nach Ermessen, BVerwG → intendiertes Ermessen -- behauptete Signalwirkung wird bereits durch Aufhebung des § 10 NO für die Zukunft bewirkt! Abstellen darauf wäre ermessensfehlerhaft - Artikel 3 Abs. 1 GG nicht ohne Weiteres geeignet, um staatliche Eingriffe zu rechtfertigen - Grundrechte sind Abwehrrechte! - gerechtfertigte Ungleichbehandlungen denkbar: schematischer Widerruf wäre ermessensfehlerhaft (Ermessensausfall/-defizit) C. Ergebnis: Die Klage ist zulässig und begründet. Sie wird Erfolg haben. 3
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