Neueste tagesaktuelle Berichte ... Interviews ... Kommentare ... Meinungen .... Textbeiträge ... Dokumente ... MA-Verlag DIE BRILLE / REPORT Zukunft, Literatur, Gesellschaft Rückbesinnung nach vorn ... Ingar Solty im Gespräch (1) Großes Interesse an literarischer Kapitalismuskritik Interview am 19. Mai 2016 im BrechtHaus in Berlin Mitte (1. Teil) Elektronische Zeitung Schattenblick Freitag, 17. Juni 2016 Forschung, Klima und polar - Eisschmelze ... Prof. Torsten Kanzow im Gespräch Umweltphysik auf und mit der Polarstern RechercheReise der Deutschen Physikalischen Gesellschaft am 2./3. Juni 2016 nach Bremerhaven Torsten Kanzow über das seit mit der sogenannten Weltwirtschaftskrise der Verhalten von Meeresströmungen Kitt des gesellschaftlichen Zusam- und Winden, die Ablösung der Pütz menhalts bröckelig geworden ist, durch moderne Meßplattformen kann nicht mehr widerlegt werden, und die Verantwortung in der daß die vorherrschenden kapitalistiWissenschaft schen Produktions- und Verfügungsverhältnisse das Überleben ... (S. 9) (SB) Der Forschungseisbrecher Polarstern befindet sich zur Zeit (DonPOLITIK / KOMMENTAR nerstag, 12.00 Uhr) auf 65 Grad nördlicher Breite und 5 Grad östlicher Länge vor der norwegischen Küste Toleranz ist zu wenig ... auf dem Weg nach Spitzbergen. Spä(SB) Toleranz ist nicht genug, es ter geht es von dort weiter in die geht um Akzeptanz. Was führende Framstraße und zu einem nordostVertreterinnen und Vertreter der grönländischen Gletscher auf79 Grad LGBTI-Community in der Bundes- nördlicher Breite. Die umfangreiche republik mit Blick auf die Probleme Auftragsliste, die auf dieser Arktisder Bundeskanzlerin, sich anläßlich expedition abgearbeitet werden soll, des homophoben Massakers in Or- enthält unter anderem Messungen lando zu einem offenen Wort über zum Verhältnis zwischen warmem die Schwulen- und Lesbenfeindlich- Wasser, das aus dem Atlantik in den keit in Deutschland und die Notwen- arktischen Ozean einströmt, und dem digkeit ihrer Überwindung durchzu- Export kalten Wassers aus den hohen ringen ... (Seite 7) Breiten in den Atlantik. Die Ergebnisse sollen zu dem Gesamtbild beitragen, das sich die Wissenschaft von SPORT / BOXEN der Arktis macht, die sich von allen unter dem Einfluß der Eigenlob muß mit dem Echo rechnen Weltregionen globalen Erwärmung bereits am USSchwergewichtler Jarrell Miller stärksten verändert hat. würdigt die Konkurrenz herab (SB) Spätestens Jüngste Meldungen aus dieser Reginische Schwergewichtler Jarrell on bestätigen nicht nur den Trend, sie Miller bereits seit sieben Jahren im stellen dazu noch eine Steigerung dar: Im Monat Mai war das arktische Profigeschäft aktiv ... (Seite 16) (SB) Wenngleich der US-amerika- Pressevertreter auf dem Weg zur Polarstern im Trockendock Foto: © 2016 by Schattenblick Meereis so stark zusammengeschrumpft wie in keinem Vergleichsmonat seit Beginn der Satellitenbeobachtungen vor rund drei Jahrzehnten. Hält der Trend bis Ende August, Anfang September an, würde das bisherige Rekordminimum von 2012 noch unterboten. Der Blick aus dem All zeigt ebenfalls, daß die Arktis in diesem Zeitraum immer grüner ge- Elektronische Zeitung Schattenblick worden ist und sich Grasland zunehmend in Strauch- und Buschland verwandelt. Und schließlich das: Am 11. Juni kletterte das Quecksilberthermometer in der grönländischen Hauptstadt Nuuk auf mediterrane 24,8 Grad Celsius. Niemals zuvor war auf Grönland im Monat Juni eine so hohe Temperatur gemessen worden; überhaupt waren große Gebiete der Arktis in diesem Jahr ausgesprochen warm. Die Polarforschung mißt gewissermaßen Temperatur und "Wohlbefinden" des Planeten. Das ist sicherlich eine rein menschliche Beschreibung, aber die Menschen haben nun einmal nicht die Fähigkeit und Neigung beispielsweise von Extremophilen, die sich in hundert Grad heißem Wasser submariner Schlote wohlfühlen. Vor allem aber unterscheiden sich Menschen von diesen Mikroorganismen darin, daß sie unter anderem aufgrund der Emissionen aus der Verbrennung fossiler Energien wie Kohle, Erdöl und Erdgas den Treibhauseffekt verstärken und dadurch Hand an die eigenen Lebens- und Überlebensvoraussetzungen legen. Die Gelegenheit, mit Vertreterinnen und Vertretern der deutschen Klimaund Polarforschung ins Gespräch zu kommen, die sich mit Fragen zu der Eisschmelze, dem ältesten Eis, dem Golfstrom und dem Einfluß der oberen Troposphäre und unteren Stratosphäre auf das Klima befassen, bot sich Journalistinnen und Journalisten am 2. und 3. Juni auf einer Pressereise in Bremerhaven. Die Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG) hatte zusammen mit ihrem Fachverband für Umweltphysik und dem Alfred-Wegener-Institut HelmholtzZentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) einen Besuch auf der Polarstern organisiert. Der über 100 Meter lange Forschungseisbrecher lag zu dem Zeitpunkt noch im Trockendock seines Bremerhavener Heimathafens. Neben einer Bordbesichtigung standen vier Fachvorträge aus der aktuellen Klima- und Seite 2 Meeresforschung auf dem Pro- Schattenblick (SB): Herr Kanzow, gramm. hatten Sie selbst schon einmal die Gelegenheit, auf der Polarstern mitAm Rande des Treffens sprach der zufahren? Schattenblick mit Prof. Torsten Kanzow, Mitkoordinator und Leiter der Prof. Torsten Kanzow (TK): Nein, AWI-Sektion Physikalische Ozeano- aber ich bin seit gut zwei Jahren am graphie der Polarmeere, der auf der Alfred-Wegener-Institut und habe in Polarstern den Vortrag "Welche Rol- dieser Zeit gemeinsam mit meiner le spielt die Atlantikwasserzirkulati- Gruppe vom AWI an einer Arktisexon für den Rückgang des arktischen pedition auf einem russischen EisMeereises und der marinen Auslass- brecher teilgenommen. gletscher Grönlands?" gehalten hat. Am Ende des Vortrags werde diese SB: Wo liegen die BerührungspunkFrage stehenbleiben, kündigte Kan- te zwischen Ihren Forschungen und zow an. Er wolle Einblick in die ak- denen, die von der Polarstern aus tuelle Forschung geben. Der durchgeführt werden? Schwund des arktischen Meereises sei zwar Schwankungen von Jahr zu TK: Das sind ganz fundamental dieJahr unterworfen, aber langfristig selben Punkte. Zudem werde ich in beobachte man einen dramatischen diesem Sommer eine Reise der PolarRückgang. Die Serien an Tempera- stern leiten, die uns zum einen in die turmessungen der Meeresströmung Framstraße führen wird, wo wir unaus dem Atlantik in den arktischen sere Meßreihen verlängern, zum anOzean zeigten, daß den Polargebie- deren auf den nordostgrönländischen ten mehr Wärme zugeführt wird. Schelf. Dort können wir die AnkoppDies genauer zu erforschen und auch lung der Warmwasserzirkulation an zu schauen, ob der jüngste Glet- das Gletschersystem studieren. scherschwund im Nordosten Grönlands mit dem wärmeren Meerwas- SB: Ist die Pütz, die an einer Leine ser zu tun hat, das an der Gletscher- ins Wasser geworfen wird, um eine front nagt, ist einer der Schwerpunk- Probe zu nehmen, das gängige te seiner Forschungen. Handwerkszeug eines Ozeanogra- Polarforschung hautnah Prof. Kanzow erläutert thematische Karte zur arktischen Meereisausdehnung Foto: © 2016 by Schattenblick www.schattenblick.de phen oder was wäre sonst so richtig typisch für einen Meeresforscher? TK: (lacht) Die Pütz war vielleicht in den 1930er Jahren ein typisches ArFr, 17. Juni 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick beitsgerät des Ozeanographen. Heutzutage benutzen wir elektronische Meßverfahren für Temperatur und Salzgehalt, zur Strömungsmessung, und vor allem auch akustische Methoden. Ich arbeite viel mit verankerten Meßsonden, die sich längere Zeit an bestimmten festgelegten Tiefen im Ozean befinden und dort lange Zeitserien aufnehmen. Die werden gebraucht, um den langfristigen Wandel zu beschreiben. SB: Was war bisher für Sie das spannendste Forschungsinstrument, mit dem Sie gearbeitet haben? TK: Nicht nur die Meßgeräte ändern sich, sondern auch die Plattformen, auf denen sie installiert sind. Teilweise passieren die Revolutionen in der Forschung auch dadurch, daß man mit sehr viel flexibleren Plattformen arbeiten kann. Beispielsweise habe ich während zweier Expeditionen mit einem autonomen Tauchboot gearbeitet, auf dem ich eine spezielle Sensoranordnung anbringen konnte, um den Austausch von Wassermassen, die die globalen tiefen Ozeane ventilieren, mit den darüberliegenden Wassermassen zu erkunden. Ein sehr interessantes Meßgerät sind Turbulenzsonden, die die Austauschvorgänge mit einem hochsensiblen Meßkopf, der eine Größe von nur ein, zwei Millimetern hat, dementsprechend auf Millimeterskalen messen. Diese kleinen Austauschprozesse haben letztendlich fundamentale Bedeutung für die gesamte Schichtung des Ozeans und die großräumige Tiefenzirkulation. SB: Lassen sich die Ergebnisse solcher kleinen Wirbelmessungen einfach hochrechnen oder tauchen dann Probleme auf, die bedacht werden müssen? TK: Die Frage bei jeder Messung ist immer die nach der Repräsentativität. Eine Schwierigkeit besteht häufig darin, einen Gezeitenzyklus sauber abzutasten. Wenn wir in einem Regime sind, das hochgradig gezeiFr, 17. Juni 2016 tenbeeinflußt ist, und jetzt die Phase der schnellsten Geschwindigkeit messen, wenn also die meiste Turbulenz auftritt, dann darf man das natürlich nicht direkt auf ein längeres Bild übertragen. Das heißt, diese Messungen lassen sich durchaus hochrechnen, aber man muß das System verstehen, in dem man mißt. Weise, wie das Eis verdriftet. In der Antarktis existiert ein Windfeld, was dazu führt, daß das Eis, das primär an der Küste gebildet wird, wo auch die geringsten Temperaturen herrschen und kalte Winde vom Kontinent her kommend die Eisbildung hervorrufen, nach Norden geschoben wird und dann irgendwann in eine Region wandert, in der es schmilzt. Da ist das Für Gebiete wie den tiefen Ozean ist Windsystem enorm wichtig. eine Messung pro Monat repräsentativ; auch über große Raumskalen In der Arktis ist es so, daß die Landhinweg läuft dort unten alles viel massen das Eis in irgendeiner Form langsamer ab. Für andere Messungen gefangen halten. Wir haben große muß man über lange Zeit hochaufge- Regionen nördlich von Grönland, in löst jede Stunde messen, um dann zu denen die Ozeanzirkulation - die aleinem verläßlichen Monatsmittel zu lerdings teilweise ein Resultat des gelangen. So laufen die Ereignisse an Windes ist; das läßt sich nicht strikt der Meeresoberfläche schneller ab, trennen -, das Eis an die Küste Grönda findet ein direkter Austausch mit lands schiebt, wo es sich dann aufder Atmosphäre statt, so daß es zu staut. Oder wir haben ein Gebiet im stärkeren Schwankungen von Tem- kanadischen Becken, wo die Ozeanperatur und Strömungsgeschwindig- zirkulation, angetrieben wiederum keit kommt. durch den Wind, dann das Eis mit sich führt und eben auch zusamSB: Die bisher geringste arktische mendrückt. Meereisausdehnung wurde im Jahr 2012 registriert. Damals war die be- Wir haben natürlich auch Aspekte, sondere Situation eingetreten, daß im die Sie ansprachen, wo kurzfristige Sommer zusätzlich zum generellen Änderungen und massive VerändeTrend des Meereisschwunds auch rungen im Windfeld das Eis dann noch ein Sturm das restliche Meereis auseinander- oder zusammentreiben auseinandergetrieben und dadurch können. Das kann ebenfalls zu den Schmelzvorgang nochmals be- großen jährlichen Schwankungen schleunigt hat. Sie selbst haben heu- der Meereisfläche führen. Da wird te einen Vortrag über die Bedeutung mal mehr, mal weniger Meereis aus der Atlantikwasserzirkulation auf der Arktis zum Beispiel auch durch das Meereis gehalten. Könnten Sie die Framstraße nach Süden exporeine Bewertung vornehmen, welcher tiert. Es ist also nicht so ganz einEinfluß auf das Meereis überwiegt, fach, diese Aspekte voneinander zu der des Windes oder der der Meeres- trennen. strömung? SB: Sie sprachen in Ihrem Vortrag TK: Auf diese Frage muß man si- von einem Meeresspiegelanstieg von cherlich eine komplexere Antwort zwei bis drei Millimetern pro Jahr. geben. Wenn wir uns die Arktis und Laut den jüngsten Zahlen der USAntarktis anschauen, so stellen wir Behörde NOAA, der National Oceafest, daß sie sich fundamental von- nic and Atmospheric Administration, einander unterscheiden. In der Ant- beträgt der Anstieg 3,2 Millimeter. arktis hat man eine Landmasse in der James Hansen, der ehemalige ChefMitte und drumherum ist der Ozean. wissenschaftler der US-RaumfahrtIn der Arktis hat man in der Mitte behörde NASA hat gemeinsam mit einen Ozean und drumherum ist 16 anderen Forschern vornehmlich Land. Das hat zunächst einmal eine aus den USA im vergangenen Jahr enorme Bedeutung für die Art und eine Studie herausgegeben, derzuwww.schattenblick.de Seite 3 Elektronische Zeitung Schattenblick kale Durchmischungsprozesse im Ozean erschwert oder sogar unterbunden werden könnten. Das hätte vermutlich wieder eine Rückwirkung auf die Art und Weise, wie warmes Atlantikwasser an die Gletscher herangeführt werden kann. Solche Rückkopplungen sind Gegenstand der Untersuchung, die wir zusamTK: Ich glaube, diese drei Millime- men mit anderen Universitäten vorter sind schon ein realistischer Wert. haben. Man muß bedenken, daß jede Messung Unsicherheiten birgt. Wenn Das ist beim Rückgang des Meereiman drei Millimeter nimmt und hat ses ähnlich. Man kann sich fragen, eine Unsicherheit von 0,5 Millime- was die Atlantikwasserzirkulation ter nach oben und unten, dann liegen antreibt, wenn ein wesentlicher Andiese Zahlen nicht sehr weit ausein- triebsfaktor in der Arktis der große ander. Dann ist das kein Widerspruch Kontrast zwischen dem Süßwasser in zu meiner Angabe von zwei bis drei den Flachwassergebieten auf dem Schelf und dem Atlantikwasser im Millimetern. Beckeninneren ist. In dem Moment, Aber diese drei Meter Meeresspie- wo das Meereis zurückgeht und der gelanstieg bis zum Ende des Jahr- Ozean deutlich exponierter gegenhunderts sind eine Zahl, an die ich über der Atmosphäre ist, würde sehr nicht glauben mag. Selbst wenn man viel mehr Energie in den Ozean einmit einem jährlichen Anstieg des getragen. Dadurch könnte gegebeMeeresspiegels von fünf Millimetern nenfalls mehr Atlantikwasser hochrechnen müßte, dann sind das fünf gemischt werden, was sich wiederZentimeter in zehn Jahren oder fünf- um auf die Art und Weise, wie die zig Zentimeter in hundert Jahren, Stärke und Struktur der Atlantikzirwas weit über dem ist, was wir der- kulation verläuft, auswirkt. zeit sehen. Selbst dann wären wir also noch lange nicht bei drei Metern. SB: Es heißt, daß die Mondoberfläche genauer kartiert ist als der MeeSB: Hätte der Titel Ihres Vortrags resboden. Gilt das heute immer auch genau umgekehrt lauten kön- noch? nen, nämlich: "Welche Bedeutung spielen der Rückgang des arktischen TK: Ich persönlich mag diesen VerMeereises und die marinen Auslaß- gleich nicht besonders. Der wird von gletscher Grönlands für die Atlantik- uns immer dann gerne genommen, wasserzirkulation?" Oder ist das Ur- wenn begründet werden soll, wessache-Wirkungs-Verhältnis nur in ei- halb wir mehr Beobachtungen machen und Messungen durchführen ne Richtung zu sehen? müssen. Ich halte diesen Vergleich TK: Nein, das Ursache-Wirkungs- für ziemlich schwach. Denn der Verhältnis ist sicherlich nicht nur in Mond hat weder eine Atmosphäre eine Richtung zu sehen. Denn wenn noch einen Ozean, er liegt klar dar wir beispielsweise aufgrund der und man kann ihn fotografieren. DaGletscherschmelze einen erhöhten von kann man sicherlich auch einige Eintrag von Süßwasser in den Ozean Dinge über die Zusammensetzung haben, dann verändert sich dadurch des frühen Weltalls ableiten. Ich die Schichtung des Wassers. Wir er- glaube aber, es geht gar nicht so sehr halten dann ein Kappe von leichtem darum, überall auf der Erde einmal Wasser, das eine geringere Dichte gewesen zu sein und eine Messung hat. Die Stabilität der Wassersäule gemacht zu haben, sondern wir wolwürde sich erhöhen, wodurch verti- len ja eigentlich die Klimaänderunfolge der globale Meeresspiegel noch in diesem Jahrhundert um mehrere Meter steigen könnte. Wir haben hier also zwei US-amerikanische Quellen, die von größeren Zahlenwerten ausgehen als Sie. Gehen die US-Wissenschaftler mit den Prognosen vielleicht etwas forscher voran? Seite 4 www.schattenblick.de gen verstehen. Das ist zumindest eine der Hauptforschungsrichtungen der Klimawissenschaften. Da nutzt uns der Vergleich zum Mond überhaupt nichts. "Turbulenzsonden messen Aus tauschvorgänge im Meerwasser mit einem hochsensiblen Meßkopf, der eine Größe von nur ein, zwei Milli metern hat." (Prof. Torsten Kanzow, 3. Juni 2016, im blauen Salon auf der Polarstern) Foto: © 2016 by Schattenblick SB: Verhalten sich Meeresströmungen im Ozean ähnlich wie Windströmungen in der Atmosphäre? TK: Ja. SB: Werden bei der Erforschung ähnliche Algorithmen verwendet? TK: Genau, die Physik ist ähnlich. Sowohl im Ozean als auch in der Atmosphäre haben wir ein großräumiges Strömungsfeld, nur die Zeit- und Raumskalen sind unterschiedlich. Die Atmosphäre ist ein sehr schnellebiges System. Das liegt zum Teil daran, daß man ihr nur wenig Wärme zuführen muß, um große Temperaturänderungen zu bewirken. Das Fr, 17. Juni 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick ist im Ozean ein bißchen anders. Dafür sind dort wiederum die Raumskalen kleiner. Das liegt an der Schichtung der Ozeane. Aber die grundlegende Physik, daß es quasi Hochdruck- und Tiefdruckgebiete gibt, und die Zirkulation großräumig um diese Gebiete herum verläuft, wie man das von Wetterkarten her kennt, ist im Ozean genauso. Aber die Parameter und die Skalen sind ganz anders. Das heißt, daß der Ozean ein längeres Gedächtnis hat, sich langsamer verändert, aber in der Lage ist, sehr viel mehr Wärme zu speichern. Somit sind viele der hydrodynamischen Gleichungen ähnlich angelegt, nur mit verschiedenen Parametern. rell ist es schon so, daß er langsamer reagiert als die Atmosphäre. Trotzdem haben wir große Probleme, Vorhersagen zu treffen. Damit sind nicht ein oder zwei Wochen gemeint wenn man die erforderliche Datengrundlage hat, die für den Ozean oft nicht so gut ist wie für die Atmosphäre, kann man das zuverlässig schaffen. Aber wie die Atmosphäre ist auch das ozeanische System chaotisch und instabil. Das begrenzt die Vorhersagbarkeit. Es sei denn, man hat es mit ganz großen Zusammenhängen zu tun. Die weisen teilweise schon eine Vorhersagbarkeit auf wie die großräumige Umwälzzirkulation, von der der Golfstrom ein Teil ist. SB: Kann man sagen, daß es auch im Ozean Wetter gibt? SB: Ist Meeresforschung Ihre Leidenschaft oder haben Sie sich schon TK: Ja. Was in der Atmosphäre diese einmal gesagt, eigentlich wäre ich Tiefdruckgebiete sind, die über doch nicht so gerne Meeresforscher Deutschland hinwegziehen, das sind geworden? im Ozean ganz äquivalent Wirbel. Wir nennen sie Eddies. Die haben viel- TK: Nein, ich habe nie bereut, daß leicht nicht Skalen von tausend Kilo- ich Meeresforscher geworden bin. metern wie in der Atmosphäre, son- Wie in jedem Beruf können einen nadern möglicherweise hundert Kilome- türlich manchmal auch Dinge ärgern. ter, aber die gibt es ganz genauso. Man muß beispielsweise sehen, daß die Arbeitsverhältnisse lange Zeit Der Ozean ist noch ein bißchen mehr Unsicherheiten für eine Familie betopographisch geführt als die Atmo- deuten. Das ist vielleicht ein Punkt, sphäre, weil man immer seitliche Be- der ein bißchen schwierig sein kann randungen vorliegen hat. Aufgrund und auf den man sich einlassen muß. der Randströmungen wie dem star- Aber im großen und ganzen bin ich ken Golfstrom oder dem Kuroshio sehr, sehr glücklich, ein Meeresforim Westpazifik unterscheiden sich scher geworden zu sein. Denn insbeOzeane stark von der Atmosphäre. sondere der experimentelle Bereich Solche Phänomene gibt es derart erschließt einem sehr viel: Es ist ein ausgeprägt in der Atmosphäre nicht. internationaler Bereich, man hat alDort funktionieren die Austausche so sehr viel mit Kollegen in verschiemehr über die Tiefs und Hochs. denen Ländern zu tun, man lernt sehr interessante Kollegen kennen und SB: Vom Wetter sagt man, daß eine hat die Möglichkeit, die ExperimenVorhersage von drei Tagen noch re- te für die Feldforschung zu designen. lativ zuverlässig ist, bei fünfTagen Da arbeitet man dann mit Techniwird es schon unsicher, nach einer kern, mit anderen Wissenschaftlern Woche fast schon Rätselraten. Gilt und letztlich auch mit der Schiffsfühdas für Strömungen im Meer auch rung zusammen. Man vollzieht also oder verhält sich dieses aufgrund sei- den ganzen Prozeß, vom Anbahnen ner Trägheit anders? des Projektes bis hin zur Analyse. Das ganze ist ein schöner Prozeß, und man stößt auch immer noch auf Überraschungen, an denen man sich die Zähne ausbeißen kann. Also, ich bin eigentlich sehr glücklich über meine Berufswahl. SB: Im vergangenen Jahr war das Forschungsschiff Sonne unterwegs zu einem Grabenbruch beim Mittelatlantischen Rücken. Dort sollte unter anderem das benthische Leben erforscht werden und plötzlich hat man dort Manganknollen entdeckt und damit ein potentielles Gebiet für Tiefseebergbau. Ob dieser irgendwann dort stattfinden wird oder nicht - besteht für Wissenschaftler das Dilemma, daß sie eigentlich das tierische Leben erforschen wollen, aber aufgrund der eigenen Entdeckung dort eines Tages Bergbau betrieben werden könnte, durch den jenes benthische Leben zerstört würde? War so etwas schon einmal ein Problem für Sie, so daß Sie sagten: Oh, das hätten wir besser nicht entdeckt? TK: Ich persönlich habe so etwas noch nicht erlebt, für die Forschung, die ich mache, gilt das nicht. Aber natürlich überschneiden sich Bereiche zwischen der Forschung am AWI und den Interessen der Industrie. Denken Sie an die Eisforschung: Der Rückgang des arktischen Meereises weckt auch Begehrlichkeiten für die Exploration im Bereich der Arktis. Natürlich sind unsere Meßmethoden und die Ergebnisse über die Eisdickenverteilung interessant für Ingenieure, die sich überlegen, unter welchen Bedingungen man in der Arktis Erdöl fördern kann. SB: Viele Grönländer freuen sich über den Klimawandel, weil durch den Rückzug der Gletscher beispielsweise Uranlagerstätten zugänglich werden, deren Abbau den Wohlstand mehren könnte. Das wird natürlich in anderen Weltregionen nicht anders gehandhabt. TK: Auch im Ozean gibt es sehr Jetzt bin ich langsam in einer Positi- TK: Genau so ist es. Man kann es ihschnelle Schwankungen, aber gene- on, daß ich die Doktoranden anleite. nen nicht verdenken. Als WissenFr, 17. Juni 2016 www.schattenblick.de Seite 5 Elektronische Zeitung Schattenblick schaftler müssen wir sehr stark darauf achten, was immer wir für Projekte machen, und es ist ja auch nichts dagegen zu sagen, mit der Industrie zu kooperieren, wenn man das zu Bedingungen macht, die transparent sind, hinter denen man stehen kann und die es einem auf jeden Fall erlauben, die Daten, die man erhält, zu publizieren und damit der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Denn das ist das, wovon die Wissenschaft lebt und wo sie vorangeht. So kann dann jeder nachschauen, ob das, was man herausgefunden hat, stimmig ist oder ob die Daten auch anders interpretiert werden können. Wenn das nicht gewährleistet ist, dann wird es eben sehr, sehr schwierig für die Wissenschaft. SB: Vielen Dank, Herr Kanzow, für das ausführliche Gespräch und dieses passende Schlußwort. Bisher zur RechercheReise der DPG nach Bremerhaven im Schattenblick unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT erschienen: BERICHT/118: Forschung, Klima und polar - Hautkontakt und Daten ... (SB) INTERVIEW/225: Forschung, Klima und polar - Launen, Ströme, nackte Zahlen ... Prof. Monika Rhein im Gespräch (SB) http://www.schattenblick.de/ infopool/umwelt/report/ umri0226.html Liste der neuesten und tagesaktuellen Nachrichten ... Kommentare ... Interviews ... Reportagen ... Textbeiträge ... Dokumente ... Tips und Veranstaltungen ... http://www.schattenblick.de/ infopool/infopool.html Seite 6 Eine von vielen Strudelphänomenen im Meer: Gezeitenstrudel in der Naru toStraße zwischen den japanischen Inseln Ogejima (Naruto) und Awaji Foto: Hellbuny, freigegeben als CCBYSA3.0 [https://creativecom mons.org/licenses/bysa/3.0/de/] via Wikimedia Commons POLITIK / BILDUNG / INTERNATIONAL poonal Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen Mexiko: Tausende Lehrkräfte demonstrieren (Caracas, 11. Juni 2016, telesur) Am Samstag, 11. Juni, sind 3.000 Lehrkräfte in Mexiko-Stadt zum Regierungssitz Los Pinos gezogen, um von der Regierung Dialogbereitschaft einzufordern. Der Dachverband der Bildungsarbeiter*innen CNTE (Coordinadora Nacional de Trabajadores de la Educación) erklärte, so lange weiter zu demonstrieren, bis sich die Regierung bereit erkläre, einen festen Termin zu vereinbaren, um Vermittlungsgespräche zu führen. In anderen Landesteilen fanden ähnliche Kundgebungen statt. Die CNTE kämpft zudem für eine bessere soziale Absicherung. URL des Artikels: https://www.npla.de/poonal/tausende-lehrkraefte-demonstrieren/ Quelle: * poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen Herausgeber: Nachrichtenpool Lateinamerika e.V. Köpenicker Straße 187/188, 10997 Berlin Telefon: 030/789 913 61 E-Mail: [email protected] Die CNTE hat 200.000 Mitglieder, Internet: http://www.npla.de davon 80.000 im Bundesstaat Oaxaca. Der Verband protestiert bereits http://www.schattenblick.de/ seit 2013 gegen die von der Regieinfopool/politik/bildung/ rung angestrebte Bildungsreform. pbi00067.html www.schattenblick.de Fr, 17. Juni 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick POLITIK / KOMMENTAR / HERRSCHAFT Toleranz ist zu wenig ... (SB) Toleranz ist nicht genug, es geht um Akzeptanz. Was führende Vertreterinnen und Vertreter der LGBTI-Community in der Bundesrepublik mit Blick auf die Probleme der Bundeskanzlerin, sich anläßlich des homophoben Massakers in Orlando zu einem offenen Wort über die Schwulen- und Lesbenfeindlichkeit in Deutschland und die Notwendigkeit ihrer Überwindung durchzuringen, dieser Tage erklären, sollte eigentlich selbstverständlich sein. Auch wenn dem Begriff der Toleranz in den Fensterreden etwa zur Integration von Flüchtlingen ein hoher Wert zugemessen wird, so meint er nichts anderes als die bloße Duldung. Eine Lebensform oder Minderheit zu tolerieren, heißt nicht sie zu billigen, geschweige denn sie gutzuheißen oder wertzuschätzen. Toleriert wird, wer stört und im Weg steht, aber aus rechtlichen oder anderen Gründen nicht mit entsprechender Gewalt an seiner den Normalbetrieb unterbrechenden Lebenspraxis gehindert werden kann. Die Mehrheitsgesellschaft zu Toleranz zu ermahnen ist weit entfernt davon, zu einer Kultur der Egalität und Emanzipation zu ermutigen. In Anbetracht des sozialdarwinistischen Charakters der neoliberalen Marktdoktrin kann dies nicht erstaunen, was nicht im Widerspruch dazu steht, daß der Freiheitsanspruch des Kapitals mit liberaler Rechtstaatlichkeit und damit auch Freiräumen für Minderheiten einhergeht. Während der Anspruch, über eine "offene Gesellschaft" zu verfügen, mitunter dazu genutzt wird, im Namen ihrer Freiheiten imperialistische Kriege zu führen, nimmt auch die Gewalt ihrer Klassenwidersprüche weiter zu. Wenn Fr, 17. Juni 2016 diese nicht sozialchauvinistisch in der Verachtung sozial verelendeter Menschen oder angeblicher Wirtschaftsflüchtlinge zum Ausdruck kommt, dann richtet sie sich häufig gegen Menschen, die über eine andere sexuelle oder geschlechtliche Orientierung verfügen als die der zur Norm erhobenen Heterosexualität. Dabei kommt nicht nur Abscheu gegenüber von den eigenen Vorlieben abweichenden Sexualpraktiken zum Ausdruck. Männer, die als schwul identifizierte Attribute aufweisen oder die einfach nur verletzt werden sollen, werden zu Adressaten einer Verachtung gemacht, die gegenüber Frauen als "schwachem Geschlecht" nach wie vor fast selbstverständlich erscheint. Was diesen eine Form permanenter Unterwerfung unter patriarchalische Dominanz abverlangt, die bis zur klaglos zu ertragenden Vergewaltigung reichen kann, wird unter Männern dazu genutzt, das eigene Selbstgefühl zu Lasten schwächerer zu steigern. Lust an der Unterwerfung eines anderen Mannes zu empfinden und den Konkurrenten zum Objekt der Erniedrigung zu machen, ist wiederum so sehr sexuell aufgeladen, daß Schwulenhaß und Affinität zu Homosexualität schwer auseinanderzuhalten sind. Prinzip patriarchalischer Herrschaft noch lange nicht am Ende ist. Dementsprechend bedürfen die humanistischen Werte, die als "unsere Freiheiten" gegen terroristische Anschläge islamistischer Fanatiker in Stellung gebracht werden, nicht nur ihrer bewaffneten Verteidigung durch ein wiederum sehr maskulin geprägtes Militär oder den Ausbau autoritärer Staatlichkeit durch massive Repression. Bei aller Liberalität im Straf- und Familienrecht bleiben Homosexualität und eine Geschlechterdifferenz, die die herkömmliche Bipolarität nicht mehr als Maßstab aller Dinge anerkennt, Angriffsziele seelisch wie körperlich verletzender Art, und das keineswegs nur in Ländern, in denen die Unterdrückung von Schwulen und Lesben bis heute Regierungspolitik ist. Toleranz reicht nicht aus, denn es handelt sich im Kern um die Moderation eines nicht in Frage zu stellenden Gewaltverhältnisses. Akzeptanz wäre das zivilgesellschaftliche Minimum einer emanzipatorischen Praxis, die sich vollständig nur dadurch weiterentwickeln ließe, daß die materiellen Grundlagen und kulturellen Dispositive herrschender Verhältnisse in Frage gestellt werden. Das Patriarchat ist ein zentraler gesellschaftlicher Besitzstand, und seine Abschaffung Da die Herabwürdigung als femi- kann nicht gelingen, ohne die Einin identifizierter Eigenschaften gentumsfrage zu stellen. dafür wesentlich ist, während maskuline Stärke, wie unter anderem die Tatsache zeigt, daß die größten zivilen Massaker der letzten Jahrhttp://www.schattenblick.de/ zehnte in den nordamerikanischen infopool/politik/kommen/ und europäischen Metropolengeherr1725.html sellschaften von Männern begangen wurden, mit vernichtender Gewalt assoziiert wird, belegt, daß das www.schattenblick.de Seite 7 Elektronische Zeitung Schattenblick RECHT / FAKTEN / INTERNATIONAL poonal Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen Chile: Fall Victor Jara: US-Prozess gegen chilenischen Militärangehörigen gedrückt haben, ohne dass einer von beiden wusste, ob die Kugel diesmal treffen würde. Zum Prozessauftakt erschien Barrientos mit Sonnenbrille und ging Journalist*innen aus dem Weg, wie EFE berichtete. Die schlichte frühere Grabnische Vic tor Jaras auf dem Cementerio General By Lion Hirth (User:Prissantenbär) (Own work) [Public domain], via Wikimedia Commons (Montevideo, 14. Juni 2016, la diaria) - "Wie Sie sich vorstellen können, ruft dieser Moment, dieser Prozess, viele Erinnerungen und Gedanken wieder wach", erklärte die 89jährige Joan Jara gegenüber der Presseagentur EFE. Die Witwe des chilenischen Musikers Victor Jara ist eine von über 20 Zeug*innen im Zivilprozess, der am 13. Juni von einem US-Gericht gegen Pedro Pablo Barrientos Núñez eröffnet wurde. Der chilenische Militärangehörige war einer der Oberstleutnants, die während der Militärdiktatur von Augusto Pinochet für die im Estadio Chile Inhaftierten verantwortlich waren. In diesem Internierungslager, das heute Victor-Jara-Stadion heißt, wurde der Musiker gefoltert und ermordet. Seite 8 Joan und ihre Töchter Manuela und Amanda hatten den Militärangehörigen nach dem Gesetz zum Schutz von Folteropfern verklagt, was in den USA rechtlich möglich ist. Eine der Erinnerungen, die durch diesen Prozess wieder wachgerufen wurden, war, wie die Witwe ihren Ehemann zum letzten Mal sah: "Wir saßen im Wohnzimmer und hörten im Radio, wie eine brutale Militärdiktatur die Macht in Chile übernahm." Jara starb am 16. September 1973, fünf Tage nach dem Putsch. Er war zusammen mit anderen Lehrer*innen und Studierenden der Technischen Universität in Santiago verhaftet worden. Barrientos lebt seit 1989 in Florida und ist US-Bürger. Ein Gericht dieses Bundesstaats hatte die Anklage gegen ihn zugelassen, allerdings nicht wegen Menschenrechtsverbrechen, wie es das "Zentrum für Gerechtigkeit und Verantwortung" gefordert hat, das die Kläger*innen unterstützt. Trotzdem "wird es der erste Prozess sein, der versucht, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Folter und die Ermordung von Victor Jara zu erlangen", wie es Dixon Osburn, Leiter dieser Menschenrechtsorganisation aus San Francisco ausdrückt. Laut Telesur hofft Osburn außerdem, dass dieser Prozess "die US-Behörden dazu bringt, das Auslieferungsverfahren gegen den Ex-Militär in Gang zu bringen", das von Chile ersucht wurde. URL des Artikels: https://www.npla.de/poonal/fall-victor-jara-us-prozess-gegen-chilenischen-militaerangehoerigen/ Quelle: * poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen Herausgeber: Nachrichtenpool Lateinamerika e.V. Köpenicker Straße 187/188, Hoffnung auf Wiedergutmachung 10997 Berlin Telefon: 030/789 913 61 Die Erinnerungen, die der Prozess in E-Mail: [email protected] Barrientos auslöst, werden wohl Internet: http://www.npla.de ganz andere sein. Laut Anklage hat http://www.schattenblick.de/ der Oberstleutnant Jara eine Pistole infopool/recht/fakten/ in den Nacken gedrückt und "russirfi00163.html sches Roulette gespielt"; er soll abwww.schattenblick.de Fr, 17. Juni 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick DIE BRILLE / REPORT / INTERVIEW Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Rückbesinnung nach vorn ... Ingar Solty im Gespräch Großes Interesse an literarischer Kapitalismuskritik Interview am 19. Mai 2016 im BrechtHaus in Berlin Mitte (1. Teil) drucks- und Kommunikationsfreiräume ungeachtet der ihnen womöglich zugedachten Befriedungsfunktionen in ihr Gegenteil verkehrt werden. Ingar Solty Foto: © 2016 by Schattenblick Da dies selbstverständlch auch für die Literatur gilt, stellen Veranstaltungen wie die vom 19. bis 21. Mai im Literaturforum im Berliner BrechtHaus bereits zum zweiten Mal durchgeführte Tagung "Richtige Literatur im Falschen?" für Interessierte eine willkommene Gelegenheit zur Schärfung der Positionen im konstruktiv-kritischen Dialog dar. Unter der Projektleitung von Ingar Solty und Enno Stahl und mit reger Beteiligung zahlreicher Autorinnen und Autoren wie auch Literatur- und Kulturwissenschaftler wurden viele Fragen gestellt und diskutiert, die all jenen, die - schreibend - die Verhältnisse zum Tanzen bringen wollen, unter den Nägeln brennen. Ausgehend von der Feststellung, daß die Globalisierung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung mit dem Abbau von Demokratie und Freiheitsrechten einhergeht, hatten die Organisatoren danach gefragt, welche Rolle Literatur und Literaten dabei spielen könnten, dieser Realität etwas entgegenzusetzen. Spätestens seit mit der sogenannten Weltwirtschaftskrise der Kitt des gesellschaftlichen Zusammenhalts bröckelig geworden ist, kann nicht mehr widerlegt werden, daß die vorherrschenden kapitalistischen Produktions- und Verfügungsverhältnisse das Überleben einer immer kleiner werdenden Elite zu Lasten anwachsender Mehrheiten organisieren und zuspitzen. Die zunehmende Nicht-Akzeptanz des Kapitalismus hat in den hochentwickelten Informationsgesellschaften allerdings noch nicht dazu geführt, daß die faktische Marginalität effektiver Gegenwehr überwunden werden konnte. Für eine solche Gegenkultur, deren Akteure sich nicht davon abbringen lassen, gerade in Zeiten wie diesen die Machtfrage zu stellen, könnte sich der Kulturbereich ungeachtet seiner Kommerzialisierung als konstrukti- Kurz vor der Auftaktveranstaltung ves Medium erweisen, so seine Aus- konnte der Schattenblick die Gele(SB) Fr, 17. Juni 2016 www.schattenblick.de genheit wahrnehmen, mit dem Publizisten und Politikwissenschaftler Ingar Solty ein längeres Gespräch rund um die Tagung(en) und die im Raum stehenden Fragen zu kritischer Literatur, politischer Ästhetik, Rebellion und Zukunftsgestaltung zu führen. Dabei kam die Entstehungsgeschichte der "Richtigen Literatur im Falschen?", die Bedeutung von Begriffen wie Realismus und Welthaltigkeit im Zusammenhang mit Literatur ebenso zur Sprache wie die verschiedenen Theorieansätze, die auf der Tagung zusammentreffen, der Sicherheitsdiskurs in der Linken, die Transformationsdebatte sowie die Renaissance des Revolutionsbegriffs. Das Interview erscheint wegen seines Umfangs in zwei Teilen. Schattenblick (SB): Uns würde die Vorgeschichte der Vorgeschichte interessieren. Wie kam es eigentlich zu dieser Veranstaltungsreihe? Wer hat sie organisiert, wie ist die Idee entstanden? Ingar Solty (InS): Es war zunächst meine lose Idee, gerade jetzt im Kontext der Krise einen Austausch zwischen sozial-realistischen bzw. im weitesten Sinne die Krise ästhetischen verhandelnden SchriftstellerInnen und Sozial- und LiteraturwissenschaftlerInnen einen Austausch zu organisieren. Diese Idee war selbst wiederum inspiriert durch sehr positive Erfahrungen im "North-Atlantic Left Dialogue" - einem Zusammenschluss von kritischen Intellektuellen diesseits und jenseits des Atlantiks, an dessen Gründung ich 2008 beteiligt war und der bis 2013 Seite 9 Elektronische Zeitung Schattenblick existierte und sich 1-2 Mal jährlich alternierend zwischen Berlin, Toronto und New York traf, um strategische Fragen einer gesellschaftlichen Linken zu diskutieren. Mit dieser losen Idee bin ich dann an Enno Stahl herangetreten. In Kontakt gewesen waren wir dabei schon vorher. Ich hatte einige Zeit davor "Diese Seelen", Stahls ersten multiperspektivischen Roman über den Neoliberalismus gelesen, und war hiervon und von einigen seiner Interviews sehr angetan, und bin darüber mit ihm in Kontakt getreten. Das fiel in die Zeit meiner zehnjährigen Redakteurstätigkeit bei der Zeitschrift "Das Argument", die ja von ihren Anfängen in den späten 1950er Jahren immer ein sehr enges Verhältnis zur Literatur und zu Schriftstellerinnen und Schriftstellern gepflegt hat, von Günther Anders über Erich Fried, Christa Wolf und Peter Weiss bis heute Elfriede Jelinek und Volker Braun. Seinerzeit wollten wir Enno Stahl eigentlich bei unserem 50jährigen Jubiläums-Buch über "kritischintellektuelles Engagement" mit seiner Kurzgeschichte über den "Pförtner Barnik" dabei haben, aber daraus wurde dann leider nichts. Das änderte sich mit einem Aufsatz, den ich nach Erscheinen zu seinem - ja immer noch aktuellen - Roman "Winkler, Werber" [1] über die Werbebranche in der Krise schrieb und den ich ihm schickte, von dem er wiederum meinte, ich wüßte ja, daß ich ihm sehr schmeichle, und fügte hinzu, ich hätte "ziemlich genau bis in viele Details hinein die Absicht des Buches erkannt". Das schmeichelte natürlich mir wiederum und nach soviel gegenseitiger Schmeichelei wurde dann aus dieser losen Idee das Projekt "Richtige Literatur im Falschen? Schriftsteller - Kapitalismus - Kritik". Nun und dann haben wir ein Brainstorming gemacht, welche Leute dafür in Frage kämen und natürlich auch Partner gesucht. Veranstaltung in Erscheinung getreten ist, und ohne die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die die Veranstaltung ideell begleitet und finanziert hat, wäre das alles natürlich nicht möglich gewesen. Und so ist das Ganze also entstanden. Wir wußten auch nicht so genau, was uns erwartete, weil die Gruppe recht heterogen war, was ja auch bewußt von uns so gewählt worden war. Das reichte dann von denjenigen, die von Schriftstellern ein wirklich politisches Engagement im klassischen Sinne engagierter Intellektueller präferierten - Erasmus Schöfer steht vielleicht am meisten für diese Art politischer Schriftsteller -, bis hin zu denen, die das Politische eher im Schreiben selbst sehen, das heißt in der Art und Weise, wie sie Realität und Gegenwart im Kapitalismus verhandeln. Da gab es ein breites Spektrum ästhetischer und theoretischer Ansätze. SB: Hat es in der Vorbereitung Diskussionen darüber gegeben, ob man ein gemeinsames Konzept vertreten möchte oder von vornherein eher sagt, wir wissen ungefähr, wo jeder so steht, und dann können die Teilnehmenden zu ihren jeweiligen Fachgebieten etwas machen? InS: Es war klar, daß es heterogen werden würde. Das ergab sich schon aus der Auswahl der Personen, was teilweise auch davon abhing, wer gerade Zeit hatte. Einige Autoren, die wir einladen wollten, wie zum Beispiel Dietmar Dath konnten nicht kommen, bei anderen, die sofort auf der Zunge liegen, wenn man über Ästhetik und Politik und die Literatur der Krise nachdenkt, ist vielleicht auch bekannt, daß sie für diese Art öffentliche Veranstaltung aber nicht kommen würden. Es hätte also ein noch breiteres Spektrum geben können. Auch so war klar, daß hier unterschiedliche Auffassungen über die Art und Weise, wie Schriftsteller Kritik am Kapitalismus üben könDenn ohne das Literaturforum im nen, zusammentreffen würden und Brecht-Haus, das als institutionelle daß es am Ende kein Manifest geben Schirmherrin und Mitorganisator der würde und keine Gruppe 15, wie das Seite 10 www.schattenblick.de teilweise noch zirkuliert hatte in Anlehnung an die Gruppe 47 oder Gruppe 61. Auch war von Anfang an klar, daß wir alle aus doch recht unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen - aus der Theaterarbeit, die sich ja doch sehr von der Lyrik- oder Erzählungsproduktion unterscheidet, aus der Hochschule und hier wiederum aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen etc. - kommen. Ich zum Beispiel habe zwar als Amerikanist auch einen literaturwissenschaftlichen Background, arbeite aber heute hauptsächlich als Sozialwissenschaftler und Politökonom und Enno eher als Literaturwissenschaftler und Schriftsteller. Von daher war also klar, daß - in vielerlei Hinsicht - Übersetzungsarbeit zu leisten sein würde. SB: Du hattest schon angedeutet, daß das Presseecho im letzten Jahr größer als erwartet war. InS: Das stimmt. Wir hatten schon im Vorfeld bemerkt, als so viele Anfragen nach Platzreservierungen kamen, daß wir mit dieser Tagung offenbar einen Nerv der Zeit getroffen hatten. Trotzdem waren sowohl wir als die Organisatoren als auch das Brecht-Haus überrascht, wie groß das Medieninteresse dann am Ende war. Außer der FAZ und der NZZ haben eigentlich alle großen Tageszeitungen ausführliche Berichte gebracht: die Süddeutsche, die ZEIT, die Welt, auch die tageszeitung, der Freitag, das Neue Deutschland, die junge Welt, die jungle world etc. Daß der Deutschlandfunk, der diesmal wieder mit dabei ist, ein einstündiges Feature brachte, war für uns auch überraschend. Auf der anderen Seite sollte es uns eigentlich nicht wundern, daß es in Zeiten tiefer Dauerkrisen - von der Finanz- und Wirtschaftskrise bis zur Klima-, der sozialen und der Demokratiekrise - ein breites gesellschaftliches Interesse an diesen Fragen gibt und daß auch die Literatur das verhandelt und sich nicht in Phantasiewelten oder das sogenannte Private flüchtet. Fr, 17. Juni 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick SB: Daran möchte ich die Frage nach dem Übertrag anschließen. Hattet ihr euch vorher überlegt, wen ihr ansprechen wollt und welche Wirkungen die Diskussionen haben könnten? InS: Ich kann da im Grunde nur für mich sprechen. Ich habe in der Tradition der Marburger Schule studiert und bin dann sozusagen Teil der Torontoer Schule in der Politikwissenschaft geworden und stieg noch während des Studiums in Marburg als Redakteur bei der Zeitschrift "Das Argument" ein, die, wie gesagt, eine sehr starke Orientierung auf Ästhetik und Literatur hat. Es gab also schon vor der ersten Tagung eine Verständigung darüber, wie bedeutsam eine Politik des Kulturellen für gesellschaftliche und politische Prozesse ist. Die Diskussionen, die wir dann geführt haben, betrafen unter anderem die Frage, ob Literatur ein eigenständiges Erkenntnismedium der Wirklichkeit sein kann. Ich vertrete diese Position sehr stark. Im Gegensatz zu den Sozialwissenschaften ist die Literatur nicht gezwungen zu abstrahieren. Sie kann die Lücke schließen zu der Frage, wie die sozialen Verhältnisse auf die Psyche - Motivation, Emotion und Kognition - der Individuen wirken. Wo die Sozialwissenschaften immer weiter abstrahieren, kann die Literatur diese Fragen ans konkrete Subjekt rückbinden, das in diesen Strukturen nach Handlungsfähigkeit strebt, lebt, liebt, leidet und sie zugleich auch durch aktives Handeln mitgestaltet, verändert, kollektiv verändert. Das macht die Literatur für mich so essentiell, um der Wirklichkeit ihre Wirklichkeit abzuringen - im permanenten Erkenntnisspagat zwischen handelndem Subjekt und gesellschaftlicher Struktur. Denn dass es eine solche Wirklichkeit gibt, daran sollten wir festhalten, und die Theorien, die sie aufgaben, haben vor allem Konfusion gesät, verrätselt und verdunkelt, was zu erhellen wäre. Fr, 17. Juni 2016 SB: Welche Qualitäten müßte die Literatur wohl erfüllen, wollte sie der Beliebigkeit, die gesellschaftlich vorzuherrschen scheint, etwas entgegensetzen? InS: Das ist eigentlich die Frage nach der Welthaltigkeit von Literatur. Natürlich kann viele Literatur einschließlich populärer Genres wie Fantasy- oder sogar die Horror-Literatur durchaus politisch sein, aber eben allein parabelhaft oder allegorisch, also auf eine sehr vermittelte Weise. Wir haben deshalb ganz bewußt versucht, den Begriff des Realismus wieder einzuführen, auch wenn mit ihm historisch viel Schindluder getrieben worden ist. Das war auch als Provokation gedacht. Wir wollten an ihm als offenes Programm festhalten, ihn aber auch immer wieder neu definieren als ein Ringen um die Frage, was welthaltige Literatur sein kann und wie Welthaltigkeit in die Literatur kommt - ein Programm, die Welt mit ästhetischen Mitteln besser verstehbar und erkennbar zu machen, um sie dann besser verändern zu können. zung zwischen klassischer und avantgardistisch-moderner Literatur geht hieran vorbei. SB: Was würdest du unter einem politischen Roman verstehen? Gibt es deiner Meinung nach literarische Ausdrucksformen, die die Möglichkeiten anderer, auch politischer Publikationsfelder übersteigen? Im Literaturforum im BrechtHaus Foto: © 2016 by Schattenblick InS: Es gibt eine lange Debatte über die Nutzlosigkeit der Literatur und darüber, daß sie zwar keinen politischen Mächten oder Zwecken dient - was sie natürlich tut, denken wir an das quasifeudale Stipendiensystem im heutigen Literaturbetrieb -, aber daß sie sozusagen das Gute, Wahre und Schöne einfängt. Deshalb können Autoren den Anspruch in sich fühlen - der ja auch an sie herangetragen wird -, von der Warte des Guten, des Wahren, des Schönen, der Warte der Aufklärung in die Gesellschaft einzugreifen, zeitgeschichtliche Konflikte zu kommentieren, zu bewerten. Natürlich hat sich die Öffentlichkeit heute sehr verändert, da muß man ganz anders drüber sprechen. Eine Literatur kann auch dann, wenn sie der Vorstellung entspricht, quasi selbstgenügsam zu sein, mit den Mitteln der Ästhetik selbst Aussagen über die Gesellschaft machen vor allem dann, wenn sie die Produktionsverhältnisse reflektiert, in denen sie entsteht, was ja Walter Benjamins Forderung an die Literatur war - als Voraussetzung ihrer Politisierung. Zu der Frage, wie Literatur diesem Anspruch genügen könnte, gibt es dabei viele verschiedene Vorstellungen. Früher wurde gesagt, daß die moderne, avantgardistische Literatur, also das, was Joyce mit dem Bewußtseinsstrom gemacht hat oder John Dos Passos mit den Newsreels und dem Kamera-Auge, auch Franz Kafka, keine realistische Literatur sei. Hiergegen gesetzt hat Lukacs den klassischen bürgerlich-realistischen Roman des 19. Jahrhunderts: Balzac etwa. Und natürlich den sozialen und sozialistischen Realismus. Meine Haltung dazu ist, daß Literatur Wirklichkeit nicht einfach nur abbildet oder widerspiegelt, sondern besser verstehbar machen kann, indem sie sie - um mit Brecht zu sprechen - auch verspiegelt und die Wirklichkeit in ihrer Grundstruktur auch durch Verfremdung kenntlich machen kann, ja teilweise besser ent- Die vermeintliche Nutzlosigkeit der larven kann. Die alte Entgegenset- Literatur macht sie potenziell zu eiwww.schattenblick.de Seite 11 Elektronische Zeitung Schattenblick nem breitenwirksam glaubwürdigen Medium. Die Figuren aus der Weltliteratur begleiten uns, sie stellen gewisse Weg- und Orientierungsmarken dar, um Haltung anzunehmen, Haltungspunkte. Auch lässt Literatur von einem besseren Leben träumen; neben ihrer analytischen Kraft, dem "Kältestrom", wie es Ernst Bloch nannte, wohnt ihr ja auch dieses Hoffnungsvoll-Sehnsüchtige, das, was Bloch den "Wärmestrom" nannte, inne. Dieser emotionale und utopische Überschuß wird dabei an literarische Figuren und Ästhetisches geknüpft, aber nicht unbedingt beispielsweise an sozialwissenschaftliche Texte. Die symbolische Bedeutung des Pergamon-Altars bei Peter Weiss, also die sich in der Kunst niederschlagenden und festgehaltenen Klassenkämpfe von unten, oder die symbolische Wirkung des BethesdaBrunnens in Tony Kushners Drama "Angels in America", der Pflaumenbaum bei Brecht und Franz Josef Degenhardt, sie alle verkörpern ja mehr als sie physisch darstellen, sie sind mächtige Symbole der Befreiung, im Falle des Bethesda-Brunnens ja sogar eine Art kommunistische Erlösungsvorstellung. Hier kann sich die politische Literatur trauen, Sehnsüchte, Träume und Wünsche zu artikulieren, die sich beispielsweise in politischer Sachliteratur nicht schreiben lassen. Aber ohne das Träumen verkümmert der Mensch und ohne einen Kompass, woher er kommt und wohin er will, kann er und können Menschen, die die Welt verändern wollen, nicht handeln. Von daher kann Literatur meiner Meinung nach auch in dieser Hinsicht sehr viel leisten. Häufig wird dabei der Roman ja als grundbürgerliche ästhetische Form dargestellt, weil er eben vom Individuum ausgeht, während ja die Aufgabe kritischer Literatur es - mit Bernd Stegemann gesprochen - wäre, die vielen Fäden offenzulegen, in denen Menschen verstrickt sind, d.h. Individuen als gesellschaftlich vermittelt aufzuzeigen. Aus diesem Grund ist ja immer wieder die Position vertreten worden, das Drama sei Seite 12 eher geeignet, Grundstrukturen der Gesellschaft, gesellschaftliche Verhältnisse erkennbar zu machen, die weil sie Verhältnisse sind, eben auch verändert werden können. Aber natürlich wäre es vermessen zu glauben, der Roman könne nicht in diesem Sinne fortschrittlich politisch sein. SB: Welchen Stellenwert hat denn deiner Meinung nach der RealismusBegriff bei einem Roman? InS: Da haben Enno Stahl und ich, was die deutschsprachige Literatur betrifft, einen kleinen Dissens. Er ist da in meinen Augen teilweise recht harsch bei dem, was er Pseudorealismus nennt. Der Gegenwartsliteratur im deutschsprachigen Raum fehlt seiner Meinung nach selbst dort, wo sie Wirklichkeit zu beschreiben versucht - er macht das unter anderem am Beispiel von Nora Bossongs "Gesellschaft mit begrenzter Haftung" kenntlich -, die Kraft und der Wille zur Analyse. Entsprechend will er einen analytischen vom Pseudorealismus getrennt wissen. Ich würde sagen, daß das natürlich immer auch die Frage ist, ob das Glas halbvoll oder halbleer ist. Ich glaube, daß es viel Literatur gibt, die den Anspruch erhebt, nicht unreflektiert zu schreiben und nicht etwa immer nur das Milieu von Schriftstellern und Kreativarbeitenden der urbanen Mittelklassen widerzuspiegeln, so wie es Florian Kessler der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur vorwirft. Natürlich sind auch Schriftsteller einer unglaublichen Prekarisierung ausgesetzt, Carolin Amlinger hat dazu sehr gute Arbeiten gemacht. Und das wirft ja für sich genommen schon viele Fragen auf in Bezug auf die Politisierung der Kunst, also Prekarisierung und Abstieg der Schreibenden selbst. Was zum einen ja die Abhängigkeit und damit den Konformismusdruck erhöht, aber zugleich ja auch viel stärker in die Wirklichkeit zwingt. meinen Veränderungen des Kapitalismus seit der neoliberalen Wende und den besonderen seit der Krise ihre zentralen Tendenzen abzuringen, womöglich ja sogar eine Art Gesellschaftspanorama des Neoliberalismus zu entwerfen. Vielleicht wäre Anna Katharina Hahns "Kürzere Tage" ein solcher Roman. Ich glaube aber, daß - wenigstens im deutschsprachigen Raum - die dominante Tendenz in den heutigen sozialrealistischen Romanen, wenn man sie denn so bezeichnen möchte, die einer Tragödie des Leistungsträgers ist, wie ich das in meinem im Herbst erscheinenden Buch "Ästhetik im Wandel des Kapitalismus" nenne. Also eine Literatur, die vor allem den Absturz von Mittelklassenangehörigen zum Inhalt hat: Christoph Heins "Weisskerns Nachlass", Annette Pehnts "Mobbing", Stephan Thomes "Grenzgang", sowas. Diese Literatur lenkt die Aufmerksamkeit auf dieses Phänomen, lenkt nicht ab. Das ist ja gut. Denn gerade viele, die diesen Abstieg selbst erleben, flüchten sich ja in ihrem Kulturkonsum am liebsten vor dieser Wirklichkeit, weil sie ihnen alternativlos erscheint und sie nicht auch noch in ihrer Freizeit mit dieser angsterfüllten Wirklichkeit konfrontiert werden möchten. Deshalb sicherlich auch der Boom von Fantasy, "Game of Thrones" etc. Meine Frage ist jedoch: Wie stark ist das befreiende Element, Menschen im sozialen Abstieg zu erleben, wie das beispielsweise in "Winkler, Werber" verhandelt wird, wo dann im Abstieg zunehmend die Ellenbogen ausgefahren werden? Der Leser kann auf Distanz zu diesen Personen und damit auch diesen Prozessen gehen und sagen: So möchte ich nicht sein, ich möchte mich dagegen solidarisch verhalten etc. Ich glaube, daß es dieses befreiende, kathartische Moment auch in der Tragödie des Leistungsträgers, der Abstiegsliteratur gibt, glaube aber auch, daß sie die Gefahr birgt, daß Jedenfalls erheben viele Autoren ja sie die gegenwärtigen gesellschaftlisehr wohl den Anspruch, den allge- chen Probleme sozusagen verdopwww.schattenblick.de Fr, 17. Juni 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick pelt. Denn das Bewußtsein, in einer Abstiegsgesellschaft zu leben, ist ja weit verbreitet und gerade die Allgemeinheit dieses Bewusstseins, auch des Zerfalls der öffentlichen Infrastruktur, also vieles, was antineoliberal ist, ist ja zugleich Wasser auf die Mühlen des Rechtspopulismus, wenn es gefühlt keine solidarischen Alternativen gibt, keine Vorstellung, wie es besser werden könnte, wie man aus der Ohnmacht des Abstiegs oder der Abstiegsangst heraus kommt. Denn der Neoliberalismus ist ja längst nicht mehr hegemonial, die Mitte zerbröselt, die Gesellschaft polarisiert sich. Und das geht dann nach rechts, weil und wenn es an konkreten Erfahrungen mangelt, wie man auch politisch anders leben und handeln könnte. Häufig fehlen aber gerade in der deutschsprachigen Literatur diese politischen Dimensionen oder Ansätze für kollektiv-solidarisches Handeln auch im Kleinen. Das ist für mich der Knackpunkt, wie man politische Literatur heute diskutieren müsste. ve Tendenz, weil er die Option bietet, sich in einer Welt abgesenkter Erwartungen einzurichten und wie der kanadische marxistische Theoretiker Sam Gindin einmal gesagt hat: Der größte Sieg des Neoliberalismus sei die Senkung unser aller Erwartungen an das Leben gewesen. Also in Bezug auf ein sicheres und gutes Leben. Welthaltigkeit und Glaubwürdigkeit können also auch eine melancholisch-konservative Grundtonalität beinhalten. SB: Wenn es in der Intention der Autoren liegt, über eine soziale Realität aufzuklären, von der vielleicht viele Menschen nichts wissen und noch nicht betroffen sind, könnten diese Schilderungen vom Staat und den im Kapitalismus herrschenden Kräften dankbar aufgenommen werden, weil damit Abstiegsängste und ihre disziplinierenden Wirkungen noch verstärkt werden. Läuft ein engagierter Autor nicht Gefahr, unwillentlich dazu beizutragen, Angst und Schrecken zu verbreiten? Habt ihr in der Vorbereitung der Tagung über solche ProZ.B. gibt es Literatur, die durchaus bleme gesprochen? sehr gegenwarts- oder welthaltig ist, wie zum Beispiel "Grenzgang" von InS: Konkret über diese FragestelStephan Thome, ein Roman, der so- lung nicht. Wir haben aber über eine zial sehr glaubwürdig, weil psycho- unter den Schriftstellern, die im letzlogisch eindrucksvoll präzise ist. ten Jahr dabei waren, verbreitete Weil man weiß, dass viele Menschen Wahrnehmung gesprochen, nämlich genauso fühlen, denken und handeln. daß Literatur, wie wir sie diskutieren, "Grenzgang" beschreibt einen habi- durch die Veränderungen der Öffentlitierten Historiker, dessen Stelle lichkeitsstrukturen keine Breitennicht verlängert wird. Er wirft mit ei- wirksamkeit mehr hat und auch nicht ner letzten Geste des Widerstands mehr erleben wird. Und das und einen Stein durch das Fenster seines nicht nur die Angst vor dem DamoInstituts, geht zurück in seine hessi- klesschwert "Tendenzliteratur" ist ja sche Heimatstadt, wo er das Fest auch ein wesentlicher Grund, warum Grenzgang mitfeiert, und eine Frau viele Schriftsteller heute zögern, sich trifft, die von ihrem Mann verlassen das Etikett "engagierte Literatur" anwurde, deren Träume also auch ge- zuheften - nach dem Motto: Wer bin scheitert sind. Die beiden kommen ich? Denn selbst die Feuilleton-Liebzusammen und finden trotz ihrer un- lingsromane, die Literaturpreise abterschiedlichen Lebenswege und greifen und sich fünfstellig, vielUnzufriedenheiten eine Form des leicht auch sechsstellig verkaufen, Glücks. Ein solcher Roman ist sehr haben verglichen mit Blockbusterglaubwürdig und nah an der Realität, Filmen oder nicht-realistischen Rodenn es gibt diese Lebensläufe in manen wie "Fifty Shades of Grey" dieser oder jener Weise zuhauf, aber oder den Büchern von Autoren wie zugleich hat er eine sehr konservati- David Baldacci oder Stephen King ja Fr, 17. Juni 2016 www.schattenblick.de einen sehr geringen Einfluß auf das Massenbewusstsein. Deshalb stellt sich die Frage, ob die Wirkung, die du eben beschrieben hast, überhaupt von Romanen ausgeht oder nicht eher von den Reichtums- und Armutsberichten, die über Spiegel Online oder Zeit Online Millionen Menschen in Deutschland vermitteln, daß sie in einer Abstiegsgesellschaft leben. Manche ziehen daraus den Schluß, die Ellenbogen auszufahren und irgendwie noch durchzuschlüpfen, während es links und rechts von ihnen schon gluck, gluck, gluck macht. Andere verfolgen politische, kollektiv-solidarische Lösungsansätze oder treten - dritte Möglichkeit - den Rückzug ins Private an. Daß Zeitschriften wie "Landlust", die mit dem ganzen Yoga-Achtsamkeitskram individuelle Entschleunigung im kollektiven Beschleunigungskapitalismus versprechen, binnen weniger Jahre zu einer höheren Auflage kommen als der Focus oder annähernd mit dem Spiegel gleichziehen, kennzeichnet eine starke Tendenz sozusagen zu einem privatisierten, anti-neoliberalen Verhalten. Es ist in gewisser Weise oppositionell, aber nicht nur folgenlos, sondern verstärkt das System noch, das die Menschen bedrängt. Wie "Rage Against the Machine" einmal sangen: "There'll be no shelter here the frontline is everywhere." Die Möglichkeiten der Literatur werden da also vielleicht grundsätzlich überschätzt. Ich glaube, daß kritische, eine revolutionäre Literatur letztlich entsteht, wenn auch Bewegungen existieren, die auf die Veränderung der Verhältnisse drängen. Die Vorstellung, daß Literatur selbst die Welt verändern könnte und nicht ein Teil, ein wesentlicher Teil dieser Veränderung ist, halte ich für überzogen. Überspitzt formuliert: Erst mit sozialen Bewegungen und neuen politischen Kräften wird auch die Literatur kritischer. In Spanien und Griechenland beispielsweise sind durch die Bewegung neue Formen der ästhetischen Artikulation entSeite 13 Elektronische Zeitung Schattenblick standen. Ich denke an die vielen proMEDIEN / FAKTEN / INTERNATIONAL letarischen Rapper, die sich wieder an nicht-gerappten poetischen Formen versuchen, wie es jetzt unter poonal Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen dem Stichwort neue griechische Poesie andiskutiert worden ist. DarBrasilien / Lateinamerika / Mexiko / Peru in sehe ich eine Reflexion tieferer gesellschaftlicher Prozesse und Mo- Nachhaltige Kommunikation und freie digitale Territorien bilisierungen, die zu dieser Entwicklung beitragen können, aber Literavon Nils Brock tur kann meiner Meinung nach solche Bewegungen nicht von sich aus (Rio de Janeiro, 03. Mai 2016, npl) - Community-Mobilfunknetze sind hervorrufen. Die staatliche brasilianische Univer- heute leichter und billiger zu ersität Campinas liegt in einem Indu- stellen (Fortsetzung folgt) striegebiet, gut anderthalb Autostunden entfernt von São Paulo. Hier, wo Doch solche Mythen werden hier auf die Militärs in den 1970ern ihr Kern- dem Workshop sprichwörtlich in ihAnmerkung: waffenprojekt "Solimões" versteck- re Einzelteile zerlegt. Die Mobilunterscheidet sich wenig [1] Der Roman "Winkler, Werber" ten, trifft sich am heutigen Nachmit- funktechnik von der kommerzieller Anbieter. Getag ein bunter Haufen Medienaktivon Enno Stahl ist 2012 im Verbrenutzt wird sie bereits von 17 indigevist*innen. Der Seminarraum ist voll cher Verlag, Berlin erschienen. Der nen Gemeinden im südlichen Meximit indigenen Radiomachenden aus Artikel von Ingar Solty ist unter dem Das so etwas möglich ist, habe Titel "Die Tragödie des Leistungs- Ecuador und Peru, Videokollektiven ko. vor allem mit einigen technologiaus dem Amazonas, non-profit Wifiträgers. Enno Stahls literarische Krischen Neuerungen der letzten Jahre Initiativen aus Rio de Janeiro und tik des Neoliberalismus im Kontext zu tun, erklärt Peter Bloom vom Menicht zu vergessen, den technikaffides neuen sozialen Realismus" in der dienkollektiv Rhizomatica, das die nen Hacker*innen von Nebenan. Zeitschrift "Z - Marxistische ErGemeinden im Bundesstaat Oaxaca Versammelt um die Basisstation eineuerung", Bd. 101, März 2015 vernes Handynetzes und ein Laptop tex- bei der Selbstorganisation ihrer Teleöffentlicht worden. ten und callen sie sich gerade gegen- kommunikation unterstützt und techseitig an. "Eo, eo, chica loca. Hörst nischen Support organisiert. "HochBerichte und Interviews zur Tagung du mich?", ruft einer der Teilneh- frequenzsender, sogenannte software "Richtige Literatur im Falschen?" menden in sein Handy. Der Praxis- defined radios, machen es heute einworkshop Community-Mobilfun- fach viel leichter und billiger, ein voll im Schattenblick unter funktionales Handynetzwerk zu bewww.schattenblick.de → INFO knetze macht hörbar Spaß. treiben, von einem Computer aus mit POOL → DIE BRILLE → REPORT: Hier minutenlang zum Nulltarif zu noch ein bisschen Funktechnik." Die für ein solches Netzwerk, das BERICHT/044: Zukunft, Literatur, telefonieren hat etwas Befreiendes. Kosten mehrere Kilometer Reichweite hat In Lateinamerika sind die MobilGesellschaft - Lesen, schreiben, stöund auf das gleichzeitig viele Hunfunkgebühren und auch die Internetren ... (SB) nutzung im weltweiten Vergleich dert Nutzer*innen zugreifen können, inzwischen weit unter 10.000 INTERVIEW/063: Zukunft, Litera- sehr teuer. Staatliche Konzepte zu liegt Dollar. Das sind Kosten, die, auf vienachhaltiger Kommunikation gibt es tur, Gesellschaft - Mangel an Sozialle Schultern verteilt, durchaus aufzukaum, kommerzielle Medienriesen kritik ... Enno Stahl im Gespräch bringen sind. wie América Móvil, TIM und NET (SB) haben den Äther in Beschlag. So wie nachhaltige Kommunikation ist INTERVIEW/064: Zukunft, Litera- ab Mitte des vergangenen Jahrhun- Eine längst möglich - nur interessiert sich derts Televisa und Rede Globo den tur, Gesellschaft - Die Krise als kaum jemand dafür. Die aktuellen Rundfunk monopolisierten, beanChance ... Erasmus Schöfer im GeEntwicklungsziele (SDG) der Vereinspruchen heute Telekommunikatispräch (SB) onsunternehmen die besten Fre- ten Nationen beispielsweise, formuquenzbänder und behaupten, nur fi- lieren keine einzige Absichtserklähttp://www.schattenblick.de/ nanzstarke Player seien in der Lage, rung, um die ungleichen Zugänge zu infopool/dbrille/report/ ein schnelles Internet und mobile mobilen Netzwerken zu überwinden. dbri0065.html Kommunikation zu gewährleisten. Dabei zeigt Rhizomatica, dass sich Seite 14 www.schattenblick.de Fr, 17. Juni 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick bereits mit einem geringen Monatsbeitrag von nicht mehr als drei Euro ein Mobilfunknetz nachhaltig betreiben lässt. Rita Muñoz, eine Radiomacherin aus dem peruanischen Nauta, ist jedenfalls begeistert, denn im Amazonas sei es derzeit nicht nur teuer mit dem Handy zu telefonieren, auch die Verbindungen seien schlecht. "Die Unternehmen sind eben nicht vor Ort um die Gemeinden zu stärken, sondern orientieren sich am Bedarf von infrastrukturellen Megaprojekten und dem Rohstoffabbau," sagt Muñoz. Wenn indigene Gemeinden diese Technologie nutzen wollen, seien die Verbindungen sehr schlecht, Gebühren für einen Service, der nie richtig funktioniert, dafür hoch. Community-Handynetzwerke könnten deshalb eine wirkliche Alternative darstellen. len Folgen einer Technologie zu entwickeln," findet TC da Silva vom afrobrasilianischen Netzwerk Rede Mocambos. Ein breiterer Internetzugang allein, der würde vor allem einem nutzen: Facebook, das schon heute 85 Millionen Nutzer und Nutzerinnen in Brasilien zählt. Für den Geschichtenerzähler und Musiker TC ein Graus, denn "wenn ich im Facebook gefangen bleibe, dann bewege ich mich in einem künstlichen Netzwerk, einem, bei dem ich niemandem in die Augen schaue. Damit verschmähe ich alles, was um mich herum geschieht, das Leben". TCs Vorfahren schufteten in Campinas noch als Sklav*innen aufKaffeeplantagen. Heute organisiert die afrobrasilianische Community hier fünfselbst verwaltete Kulturzentren, so wie die Casa de Cultura Tainá. Dort prallen Musik, Politik, Design und Bildungsarbeit ungebremst aufeinander. Die Büros, das Aufnahmestudio, das Internetcafé - alles funktioniert mit Freier Software. Eigene Räume besetzen und organisieren, dazu gehöre eben auch, sich Technologien anzueignen, nicht erst im digitalen Zeitalter, meint TC und holt eine große Trommel hervor. "Wenn ich Trommeln will, dann muss ich auch wissen, wie eine Trommel hergestellt wird. Das gibt mir Autonomie. Nur wenn wir die Mittel haben, auszudrücken wer wir sind und was wir machen wollen, dann sind wir wirklich frei." Und dazu gehöre für die afrobrasilianische Bevölkerung auch, eigene Territorien zu organisieren, die ihnen lange verwehrt blieben. Doch leider, leider, vergeben die meisten Regierungen Mobilfunklizenzen ausschließlich an kommerzielle Anbieter. Wieso eigentlich? Auch Medienaktivist*innen orientieren ihren Kampf um das Recht aufKommunikation im Äther meist nur an Community Radios. Auch hier in Campinas werden in Gesprächen immer wieder Zweifel laut. Es sei schon schwer genug, ein Community-Radio zu legalisieren. Jetzt auch noch Handynetze? "Ja," sagt Bloom "denn es ist wichtig, dass wir Community-Radios im Kontext anderer digitaler Netze und Technologien sehen, ein Kontext, der längst über das Radiomachen hinausgeht und die Frage aufwirft, wie sich Radios selbst neu definieren können." UKW-Funk, eigene soziale Netze oder Server, Handynetzwerke oder WIFI-Netze - das alles gehöre zusammen, die Herausforderung sei zu schauen, wie sich alles Selbstbestimmt auf allen Ebenen nachhaltig organisieren lässt. Rede Mocambos geht es dabei nicht nur um Wohnraum, Felder und kultuNachhaltige Telekommunikation relle Räume, sondern auch um "freie für alle digitale Territorien." Das klingt kompliziert, ist es aber nicht. Rede MoNachhaltig, dieser Anspruch richtet cambos organisiert seit vergangenem sich auch an die Inhalte. Es gehe nicht Jahr ein eigenes soziales Medium: einfach darum zu schreien "Kostenlo- Baobáxia ist ein digitales Netzwerk, ses Internet für alle! Vielmehr ist es zu dem inzwischen 35 afrobrasilianiwichtig, eine Sensibilität für die sozia- sche Gemeinden zählen. Sie produzieFr, 17. Juni 2016 www.schattenblick.de ren die Inhalte, speichern sie auf lokalen Servern und posten sie auf einer gemeinsamen Plattform. In einem knappen Jahr sind so bereits tausende Audio-, Video- und Textbeiträge zusammengekommen. AufBaobáxia gibt es auch ein Lied, das TCs 18-jährige Tochter Layla während des Medienworkshops mit einem jungen Radiomacher aus Ecuador komponiert hat. Es erzählt die Geschichte eines rebellischen Mädchens aus dem Amazonas, das trotzig zum Fest der Trommeln geht, obwohl es eigentlich eine reine Männerveranstaltung ist. Das Recht auf Meinungsfreiheit, es lässt sich immer wieder neu erzählen. Und auch wenn es die Vereinten Nationen gerade nicht so wichtig finden ohne selbstbestimmte und nachhaltige Kommunikationsmittel wird auch der Rest der globalen Agenda für saubere Energie, gleiche Bildungschancen und würdevolle Arbeitsbedingungen nicht zu haben sein... Dieser Artikel ist Teil diesjährigen poonalThemenschwerpunkts "Fokus Menschenrechte". Ein Audiobeitrag von Radio onda dazu kann angehört werden unter: https://www.npla.de/podcast/nachhhaltige-kommunikationsmittel-esmuss-nicht-immer-radio-sein/ URL des Artikels: https://www.npla.de/poonal/nachhaltige-kommunikation-und-freie-digitale-territorien/ Quelle: * poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen Herausgeber: Nachrichtenpool Lateinamerika e.V. Köpenicker Straße 187/188, 10997 Berlin Telefon: 030/789 913 61 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.npla.de http://www.schattenblick.de/ infopool/medien/fakten/ mfai0186.html Seite 15 Elektronische Zeitung Schattenblick SPORT / BOXEN / MELDUNG Eigenlob muß mit dem Echo rechnen USSchwergewichtler Jarrell Miller würdigt die Konkurrenz herab (SB) Wenngleich der US-amerika- nische Schwergewichtler Jarrell Miller bereits seit sieben Jahren im Profigeschäft aktiv und mit 17 Siegen sowie einem Unentschieden ungeschlagen ist, hat ihn das Publikum wie auch die Konkurrenz bislang weithin ignoriert. Das will der 27jährige, den der Verband WBA an Nummer elf seiner Rangliste führt, nun ändern. Was ihm durch seine Auftritte im Ring nicht gelungen ist, gedenkt er fortan zu befördern, indem er sich abfällig über führende Akteure wie Deontay Wilder, Anthony Joshua oder Tyson Fury äußert. Diese Strategie hat zumindest dazu geführt, daß ihm die Anwürfe eine gewisse Beachtung in der aktuellen Berichterstattung verschaffen, die freilich nicht zu seinen Gunsten ausfällt. Miller hat sich insbesondere auf seinen Landsmann Deontay Wilder eingeschossen, der den WBC-Titel am 16. Juli in Birmingham, Alabama, freiwillig gegen Chris Arreola verteidigt. Der Herausforderer wurde kurzfristig ausgewählt, nachdem der geplante Kampf gegen Alexander Powetkin abgesagt werden mußte, weil bei dem Russen im Zuge einer Dopingkontrolle geringe Spuren einer seit Anfang des Jahres verbotenen Substanz nachgewiesen wurden. Daraufhin gestattete der Verband WBC dem Champion, anstelle des Pflichtherausforderers zeitnah einen anderen Gegner nach freier Wahl auszusuchen, während die Causa Powetkin unterdessen einer Klärung zugeführt wird. Niemand schere sich einen Deut um Wilder und Arreola, zieht Miller gegen seine prominenten Kollegen vom Leder. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung wüßten mit dem NaSeite 16 men des Weltmeisters überhaupt nichts anzufangen. Man kenne ihn allenfalls als einen wilden Burschen aus Alabama, der irgendwie in den Besitz eines Gürtels gelangt sei, höhnt der von der Branche mißachtete Schwergewichtler. Er könne garantieren, daß Arreola nicht länger als vier Runden gegen ihn durchhalten würde, trägt Miller dick auf. Wenn man schon in letzter Minute einen neuen Herausforderer gesucht habe, hätte man besser Bermane Stiverne nehmen sollen, weiß er es besser als das Lager des Weltmeisters samt dessen Berater Al Haymon. Jarrell Miller würdigt mit Deontay Wilder einen Weltmeister herab, der in 36 Kämpfen ungeschlagen ist und dabei 35 Gegner vorzeitig besiegt hat. Wilder mußte lediglich beim Titelgewinn im Kampf gegen Bermane Stiverne über volle zwölf Runden gehen, weil er sich an dem Eisenschädel des für seine ausgezeichneten Nehmerqualitäten bekannten Kanadiers die rechte Hand gebrochen hatte. Wohl trifft es zu, daß der Weltmeister dem breiteren Boxpublikum längst nicht so bekannt ist wie eine Reihe anderer Akteure, die eine sehr viel größere Fangemeinde um sich scharen. Dazu mag beigetragen haben, daß seine Auftritte vom Sender Showtime übertragen werden, der über einen kleineren Abonnentenstamm als der Konkurrent HBO verfügt. Andererseits muß man berücksichtigen, daß Wilder erst im vergangenen Jahr WBC-Champion geworden ist und seither durchaus an Popularität gewonnen hat. Millers Vorschlag, man hätte lieber Bermane Stiverne auswählen sollen, hat weder Hand noch Fuß. Der Kanadier mußte sich Wilder klar www.schattenblick.de geschlagen geben, weil er weder mit dessen Größe von 2,01 m, noch der Schnelligkeit und den technischen Fertigkeiten des Kontrahenten zurechtkam. Daher ist zweifelhaft, ob die Zuschauer für eine Neuauflage zu begeistern wären. Davon abgesehen ist die Vorstellung abwegig, man könne kurzfristig einen derart anspruchsvollen Kampf organisieren. Arreola ist unter den gegebenen Umständen insofern keine schlechte Wahl, weil er einen gut eingeführten Namen hat und als Boxer mit mexikanischen Wurzeln eine beträchtliche Anhängerschaft mobilisieren kann. Er hat gegen Vitali Klitschko und Bermane Stiverne um die Weltmeisterschaft gekämpft, seine Auftritte sind seit Jahren im Fernsehen präsent, und wenn er auch in jüngerer Zeit keine Bäume ausgerissen hat, übertrifft seine Popularität immer noch die Stivernes, obgleich dieser stärker einzuschätzen ist. Wenn sich Miller zu der Behauptung versteigt, er könne Arreola binnen vier Runden auf die Bretter schicken, sind Zweifel angebracht. Mit einer Größe von 1,93 m und über 120 kg Gewicht ist er zwar eine imposante Erscheinung und hat zweifellos Dampf in den Fäusten. Andererseits ist seine Beinarbeit nicht gerade die behendeste, und vor seinem letzten Kampf gegen Nick Guivas am 27. Mai brachte er stolze 128 kg auf die Waage, die seiner Beweglichkeit wenig förderlich waren. Dies erlaubte es dem weithin unbekannten Gegner, ihn zumindest in der ersten Runde mit diversen linken Haken zu traktieren, ehe das Duell in ein Massaker umschlug. Arreola würde Miller zweifellos vor Probleme stellen, Fr, 17. Juni 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick wie sie dieser in seiner Karriere bislang kaum zu bewältigen hatte. [1] Jarrell Miller ist in Brooklyn aufgewachsen, wo der Sohn karibischer Einwanderer im Alter von vierzehn Jahren begann, Muay Thai zu lernen, um sich seiner Haut wehren zu können. Zwei Jahre später nahm er auch das Boxtraining auf und betätigte sich geraume Zeit auf beiden Feldern. So trat er 2007 für die New Jersey Tigers in der World Combat League an und erreichte im selben Jahr das Finale der New York Golden Gloves. Am 18. Juli 2009 gewann Miller in New York sein Profidebüt als Boxer, seit 2012 kämpfte er zudem als Kickboxer im Format K-1. Wie diese Vorgeschichte zeigt, hat sich Miller in verschiedenen Sparten des Kampfsports engagiert und vorangearbeitet. Im Jahr 2015 setzte er sich unter anderem gegen Damon McCreary und Achror Muralimow durch. Am 22. Januar 2016 sicherte er sich den WBA-NABA-Titel, als er Donovan Dennis vorzeitig bezwang. Dies zeigt, in welchem Maße es ihm gelang, sich als Boxer zu profilieren, doch belegen die Namen seiner letzten Gegner, die selbst gestandenen Experten weitgehend unbekannt sein dürften, welche Grenzen seinem Aufstieg bislang gesetzt waren. So verständlich daher sein Ansinnen sein mag, sich ins Gespräch zu bringen, ruft er mit seinen Ausfällen gegen weit erfolgreichere Konkurrenten zwangsläufig die skeptische Frage aufden Plan, aufwelchem Niveau er seine eigene Boxkarriere bislang gepflegt hat. Anmerkung: [1] http://www.boxingnews24.com/2016/06/jarrell-miller-trashesdeontay-wilder-chris-arreola/#more211958 http://www.schattenblick.de/ infopool/sport/boxen/ sbxm1981.html Fr, 17. Juni 2016 SCHACH UND SPIELE / SCHACH / SCHACH-SPHINX Als Weisheit noch Wert hatte Es ist bedauerlich, daß sich zumal in den letzten 30 Jahren die Weltmeister in staunengebietender Ausschließlichkeit aus den Reihen der jüngeren Meister rekrutierten. Noch nie wies der Champion of Chess ein Alter von über 50 Jahren auf, und es war 1983 schon eine welterschütternde Sensation gewesen, als der 61jährige Wassili Smyslow sich bis in die Kandidatenduelle hochkämpfen konnte. Beim kraftraubenden Marsch durch die Ausscheidungsrunden konnte er dann allerdings nicht mithalten. Bei einem Spiel, daß der "Geistigkeit" den Vorzug gibt und körperliche Befindlichkeiten wie Kondition, Ausdauer und Nervenstärke zur Nebensache erklärt, verwundert es nicht wenig, daß, von rühmlichen Ausnahmen abgesehen wie Viktor Kortschnoj und Lajos Portisch, kein älteres Kaliber mehr unter den weltbesten Spielern zu finden ist. Bei aller Höflichkeit muß man allerdings einräumen, daß Kortschnoj und Portisch längst nicht mehr zu den Top- Spielern von heute gehören. Es klingt ironisch, ist jedoch durchaus ernstgemeint: Der FIDE-Weltmeister Anatoli Karpow ist mit seinen 46 Jahren tatsächlich der Methusalem im Zirkel der stärksten Spieler der Jetztzeit. Es gehört wohl einer verflossenen, unwiederbringlichen Vergangenheit an, als reife Erfahrung, gepaart mit tiefer Kenntnis und gewitzter, über die Jahre angewachsener Intuition mit jugendlichem Elan ebenbürtig die Klinge kreuzen konnte. Der athletische Charakter des modernen Turnierle- bens betreibt eine schonungslose Selektion zu Ungunsten des Alters. Emanuel Lasker war im heutigen Rätsel der Sphinx 68 Jahre alt, als er seinem über drei Jahrzehnte jüngeren Kontrahenten Max Euwe noch die Leviten las. Also, Wanderer, muß sich Weiß mit einem Tausch Springer gegen Springer abfinden? Lasker - Euwe Nottingham 1936 Auflösung des letzten SphinxRätsels: Die turniererprobte Moskauerin setzte ihre Kontrahentin mit 1.Te1e7! die Pistole an die Brust, und nach 1...Te8xe7 2.Lf4xd6 gab sich Meisterin Kogan mit einer Minusfigur geschlagen. http://www.schattenblick.de/ infopool/schach/schach/ sph05869.html SchachBundesliga für Herren und Frauen siehe: http://www.schattenblick.de/infopool/schach/ip_schach_ schach_bundesliga.shtml www.schattenblick.de Seite 17 Elektronische Zeitung Schattenblick ______I n h a l t______________________________________Ausgabe 1858 / Freitag, den 17. Juni 2016____ UMWELT - REPORT POLITIK - BILDUNG POLITIK - KOMMENTAR RECHT - FAKTEN DIE BRILLE - REPORT MEDIEN - FAKTEN SPORT - BOXEN SCHACH-SPHINX DIENSTE - WETTER Forschung, Klima und polar - Eisschmelze ... Prof. Torsten Kanzow im Gespräch Seite Mexiko - Tausende Lehrkräfte demonstrieren (poonal) Seite Toleranz ist zu wenig ... Seite Fall Victor Jara - US-Prozess gegen chilenischen Militärangehörigen (poonal) Seite Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Rückbesinnung nach vorn ... Ingar Solty im Gespräch (1) Seite Lateinamerika - Nachhaltige Kommunikation und freie digitale Territorien (poonal) Seite Eigenlob muß mit dem Echo rechnen Seite Als Weisheit noch Wert hatte Seite Und morgen, den 17. Juni 2016 Seite 1 6 7 8 9 14 16 17 18 DIENSTE / WETTER / AUSSICHTEN Und morgen, den 17. Juni 2016 +++ Vorhersage für den 17.06.2016 bis zum 18.06.2016 +++ © 2016 by Schattenblick IMPRESSUM Windbewegung, frisch und heftig, Regenwolken und auch naß, nur Frosch Jean-Luc fühlt sich kräftig, viele sonst, die hab'n kein'n Spaß. Elektronische Zeitung Schattenblick Diensteanbieter: MA-Verlag Helmut Barthel, e.K. Verantwortlicher Ansprechpartner: Helmut Barthel, Dorfstraße 41, 25795 Stelle-Wittenwurth Elektronische Postadresse: [email protected] Telefonnummer: 04837/90 26 98 Registergericht: Amtsgericht Pinneberg / HRA 1221 ME Journalistisch-redaktionelle Verantwortung (V.i.S.d.P.): Helmut Barthel, Dorfstraße 41, 25795 Stelle-Wittenwurth Inhaltlich Verantwortlicher gemäß § 10 Absatz 3 MDStV: Helmut Barthel, Dorfstraße 41, 25795 Stelle-Wittenwurth ISSN 2190-6963 Urheberschutz und Nutzung: Der Urheber räumt Ihnen ganz konkret das Nutzungsrecht ein, sich eine private Kopie für persönliche Zwecke anzufertigen. Nicht berechtigt sind Sie dagegen, die Materialien zu verändern und / oder weiter zu geben oder gar selbst zu veröffentlichen. Nachdruck und Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. 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