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Blockiertes Drehkreuz
Radikaler Regisseur
Gewerkschaften wollen entlang der globalen
Produktionsketten kämpfen. Seite 10
Ken Loach, ein Meister des
Sozialdramas, wird 80. Seite 15
Katalanische
Zapatistas
Die linksradikale
Wahlplattform
CUP versucht über
»Ameisenarbeit«
von unten, die
Gesellschaft zu
wandeln und
zu gestalten.
Seite 3
Foto: dpa/Julien Warnand
Freitag, 17. Juni 2016
STANDPUNKT
Freund
mit Helfer
71. Jahrgang/Nr. 140
Bundesausgabe 1,70 €
www.neues-deutschland.de
Unsere neuen Nachbarn
Nein soll künftig
Nein heißen
Aus der Willkommenskultur ist ein Kampf um die Kosten der Integration geworden
Fraktionen einigen sich auf Reform
des Sexualstrafrechts
Uwe Kalbe zu Hilfspolizisten als
Reserve gegen Kriminalität
Der »lange Krieg gegen den Terrorismus«, von dem der französische Präsident sprach und vor
dem auch der deutsche Innenminister warnt, ist nicht aufzuhalten. Und wie immer sind es beide
Seiten, die sich der Zerstörungen
schuldig machen. In der westlichen Welt wird er außer unschuldigen Opfern, die zufällig
zur falschen Zeit am falschen Ort
waren, auch Verheerungen hinterlassen, die auf ministerielle
Ideen wie die von Thomas de
Maizière zurückgehen.
Noch ist nicht zu ermessen,
was passierte, wenn Menschen
Gefallen daran fänden, dem Ruf
nach Hilfspolizisten in größerer
Zahl zu folgen. Da die Zeiten im
Zusammenhang mit Flüchtlingskrise und Islamismus als unsicher
empfunden werden, darf man
sich nicht wundern, wenn besorgte Bürger die Gelegenheit
nutzen. Ob ihr Einsatz dem
Schutz vor Einbrüchen gilt oder
der Abwehr von vermeintlich kriminellen Ausländern, ist dann
vermutlich nicht ohne Weiteres
auseinanderzuhalten.
Ein Innenminister, der über die
Mobilisierung zweifelhafter Motivation einen Gewinn an Sicherheit
erwartet, könnte auch das Landwirtschaftsressort übernehmen
und ein Bataillon Böcke anstellen.
Wenn die Polizei keinen staatlichen Schutz garantieren kann,
braucht sie mehr geschultes Personal, keine Helfer. Wer zudem
wie de Maizières dazu aufruft, die
Leute sollten ihre Nachbarn und
Familien im Blick haben und Radikalisierungen frühzeitig melden,
hält wohl viel von Helfern, aber
wenig von Freunden.
UNTEN LINKS
Wer sich für Schwarzarbeit interessiert, muss in Zukunft Regeln
beachten. Erstens: Das Fahrrad
nicht direkt vor der Zollverwaltung abstellen, wenn man dort
ohne Arbeitsvertrag die Türklinken abwischt. Immer schön ein
Parkticket lösen, wenn man für
fünf Euro in der Stunde die Arztpraxis putzt, denn die Fahnder
kennen einen vom KraftfahrtBundesamt. Auf dem Weg zur
Schwarzarbeit nicht beim
Schwarzfahren im Bus erwischen
lassen. Keine Fehler machen,
sonst wird man sofort fest angestellt und muss ganz viel Krankenkassenbeiträge bezahlen. Bescheiden bleiben, nicht den
Ackermann machen wollen. Millionendeals klappen nur bei ganz
hohen Tieren. Finger weg von
Kurierdiensten, Speditionen und
Taxis. Die werden besonders oft
kontrolliert, in den Monaten ohne
r und in den Jahren ohne 0, 1, 2,
3, 4, 5, 6, 7 und 8. Und dann natürlich schwarz wählen. Ach, und
keine schwarzen Sachen anziehen, das fällt auf. Weitere Infos
unter www.schwarzarbeit.de. ott
ISSN 0323-3375
Foto: AFP/Jorge Guerrero
Berlin. Die Koalitionsfraktionen aus Union
und SPD haben sich auf eine Verschärfung des
Sexualstrafrechts geeinigt, wodurch sexuelle
Übergriffe künftig leichter als Vergewaltigung
geahndet werden können. Demnach soll
künftig der Grundsatz »Nein heißt Nein« gelten, wie die rechtspolitische Sprecherin der
Unionsfraktion, Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU), den Zeitungen der Funke-Mediengruppe sagte. Der alte Vergewaltigungsparagraf, der unter anderem eine Gewaltanwendung oder Nötigung des Opfers voraussetzt, werde aufgehoben. Künftig soll es ausreichen, wenn das Opfer sein »Nein« deutlich
erkennbar macht.
Geeinigt habe man sich dem Bericht zufolge
auch darauf, einen neuen Straftatbestand
»Sexuelle Belästigung« einzuführen, der sich
etwa gegen Grapscher richtet, und auf die Einführung eines Tatbestands, der sexuelle Straftaten aus Gruppen speziell ahndet. »Damit
wollen wir ein deutliches Zeichen gegen sexuelle Übergriffe wie die in der Silvesternacht in
Köln setzen«, so Winkelmeier-Becker. AFP/nd
Flüchtlinge sterben
in der Sahara
Auch 20 Kinder verdursteten
Liebe ohne Grenzen? Von wegen!
Foto: Reuters/Kai Pfaffenbach
Berlin. Das Einfache, das schwer zu machen ist
– das Brecht-Wort gilt beileibe nicht nur für den
Kommunismus. Integration von Flüchtlingen
ist offenbar auch so eine Sache, die – so sehr
sie aus humanistischer Sicht auf der Hand liegt
– selbst die reichsten Industrienationen vor
schier unlösbare Probleme stellt. Und das nicht
nur, weil der Rassismus sich auf erschreckende Weise Bahn bricht. Auch der Kampf ums liebe Geld lässt peinlich erschaudern. Fest steht:
Bis aus Schutzsuchenden Nachbarn werden,
wird es noch ein Weilchen dauern.
Am Donnerstag ging das Gezerre zwischen
den Ministerpräsidenten der Länder und der
Kanzlerin um die Übernahme von Flüchtlingskosten in die nächste Runde. Da, so Merkel zu
Länderforderungen von acht bis neun Milliarden Euro, bestehe weiter Gesprächsbedarf.
Freilich nicht ohne auf die Kosten zu verweisen, die der Bund bereits übernimmt, etwa für
Wohnungsbau oder Integrationskurse.
Ob sie bei Ersterem die mit dem Doppelhaushalt 2016/2017 in Berlin beschlossene
Errichtung von bis zu 60 Modularbauten als
Unterkünfte für Flüchtlinge im Blick hatte,
wird ihr Geheimnis bleiben. Dass auf die Kanzlerin aber angesichts wachsender Wohnungsnot und bis zu einer Million fehlender Woh-
nungen insbesondere beim Thema Neubau einiges zukommt, macht der Mieterbund deutlich: »Wir werden in Zukunft zahlreiche
Flüchtlinge unterbringen müssen«, erklärt
Mieterbund-Geschäftsfüher Ulrich Ropertz im
nd-Interview. Das Problem schlage sich derzeit auf den Wohnungsmärkten noch gar nicht
so nieder. »Aber es wird kommen.«
Schon da ist indes die Forderung nach mehr
Bildungsinvestitionen für die Integration. In
den nächsten Jahren werden bis zu 44 000 zusätzliche Erzieher, Lehrer und Sozialarbeiter
benötigt, geht aus dem aktuellen Bildungsbericht hervor. oer
Seiten 4, 5, 6 und 11
Die Hilfspolizei des »Doktor« de Maizière
Bundesinnenminister kratzt an innerer Sicherheit und wettert gegen Ärzte, die Abschiebungen bremsen
Der Bundesinnenminister hält
Hilfspolizei nach Sachsen-Vorbild für ein Zukunftsmodell und
will auch Kranke abschieben.
Von René Heilig
Wer Deutscher, zwischen 20 und
33 Jahre alt und über 1,59 Meter
hinausgewachsen ist, wer in geordneten wirtschaftlichen Verhältnissen lebt, keine Vorstrafen
hat, die Verfassung achtet und keine sichtbare Tätowierung hat,
kann seit Jahresbeginn in Sachsen
einen verdächtig guten Job ergattern. Per Onlinebewerbung. Als
Wachpolizist. Die ersten knapp 50
in Bautzen ausgebildeten Hilfskräfte sind schon im Dienst.
Sachsen scheint eine besondere
Affinität für Scheinlösungen zu
haben. Eine vergleichbare Hilfstruppe gab es dort schon nach den
Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York und Washington. In Hessen arbeitet eine
Wachpolizei bereits seit 2000 mit
rund 650 Angestellten. In Sachsen-Anhalt werden Hilfscops ausgebildet. Sie sollen allerdings keine Waffe bekommen. Nicht vergleichbar damit ist der zentrale
Objektschutz in Berlin, der Botschaften bewacht. Die Freiwillige
Polizei-Reserve aus Westberliner
Zeiten wurde 2002 aufgelöst.
Die Polizeiführung in Dresden
meint, der Job sei »eine Chance wie
keine andere«. Dem schließt sich
nun Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) an und
spricht von einem »zukunftsweisendem Modell«. Er will die Rekrutierten in besonders belasteten
Vierteln einsetzen und denkt, so
beispielsweise der wachsenden
Anzahl von Wohnungseinbrüchen
Herr zu werden. Die Begründung
zur Aufstellung der Sachsen-Truppe las sich freilich ganz anders.
»Vor allem im Zusammenhang mit
der Flüchtlingssituation« müsse
man personelle Ressourcen schaffen, um Kräfte des regulären Polizeivollzugsdienstes zu entlasten.
Sie halte es für »verantwortungslos«, unqualifizierte Leute
nach einem Schnellkurs mit
Schusswaffen und Handschellen
»auf die Allgemeinheit loszulassen«, empört sich die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke. Das
laufe auf Verrohung und Brutalisierung hinaus und sei »Kapitulation vor der Aufgabe des Staates,
die Sicherheit der Bürger mit qualifiziertem Personal sicherzustellen«.
So wie die LINKE warnt der
SPD-Vize Ralf Stegner vor einem
Einsatz von »billigen Hilfssheriffs«. Einbruchsprävention und
qualifizierte
Ermittlungsarbeit
durch billige und unzureichend
ausgebildete Wachleute in Polizeiuniform zu ersetzen, sei »purer
Etikettenschwindel«, kritisiert Irene Mihalic. Sie ist Polizistin und
sitzt für die Grünen im Bundestag.
Jörg Radek, Vizechef der Gewerkschaft der Polizei, nennt de
Maizières Vorschlag »Flickschusterei auf Kosten der inneren Si-
cherheit« und betont, die »hohe
Professionalität der deutschen Polizei beruhe nicht zuletzt auf einem mehrjährigen Studium«.
De Maizière ist nicht nur Sicherheitsexperte. Auch medizinisch scheint er beschlagen, wenn
er über ein »Abschiebungsdefizit«
spricht. »Es werden immer noch zu
viele Atteste von Ärzten ausgestellt, wo es keine echten gesundheitlichen Abschiebehindernisse
gibt«, sagt »Doktor« de Maizière.
} Lesen Sie morgen
im wochen-nd
Vernichtender Wahn:
Überfall auf die UdSSR
Belächeltes Nein:
Fall Gina-Lisa Lohfink
Wachsendes Nichts:
Wüste in Spanien
Maradi. In der nigrischen Wüste sind nahe
der algerischen Grenze die Leichen von 34
Flüchtlingen gefunden worden – darunter 20
Kinder. Die Menschen seien bei dem Versuch
gestorben, durch die Wüste in das Nachbarland Algerien zu flüchten, erklärte das nigrische Innenministerium am Mittwochabend.
Demnach
hätten
Menschenschmuggler die Gruppe verlassen, die Flüchtlinge starben schließlich an Hunger und
Durst. Ihre Leichen wurde nahe des Grenzortes Assamaka entdeckt. Von Algerien aus
versuchen die Flüchtlinge in der Regel, über
das Mittelmeer in Richtung Italien oder Spanien weiterzukommen. Das Innenministerium hatte zunächst zwei Tote identifiziert –
sie kamen aus Niger und Nigeria. Niger gilt
als eines der wichtigsten Durchgangsländer
auf dem Weg nach Europa. Nach Angaben
der Internationalen Organisation für Migration passieren drei von fünf Flüchtlingen
das an Algerien und Libyen grenzende Land.
Im vergangenen Jahr versuchten hier mehr
als 100 000 Menschen, zur Mittelmeerküste
zu kommen. dpa/nd
Mordanschlag auf
Brexit-Gegnerin
Wahlkampf vorerst ausgesetzt
London. Eine Woche vor dem Referendum
über die Mitgliedschaft Großbritanniens in
der EU ist eine britische Labour-Abgeordnete
bei einem Angriff lebensgefährlich verletzt
worden. Die 41-jährige Jo Cox war zu Besuch in ihrem nordenglischen Wahlkreis, als
sie Medienberichten zufolge von einem Mann
mit einer Schusswaffe – womöglich auch noch
mit einem Messer – attackiert wurde. Beide
Wahlkampflager setzten ihre Aktivitäten für
den Rest des Tages aus. Premierminister David Cameron und andere führende britische
Politiker zeigten sich erschüttert über die
Bluttat. Cox setzte sich nach Medienberichten für einen Verbleib des Königreichs in der
EU ein. Der »Telegraph« berichtet, der Angreifer habe vor dem Attentat »Britain first«
(»Großbritannien zuerst«) gerufen.
Die Polizei teilte zunächst lediglich mit, eine Frau sei um die Mittagszeit im nordenglischen Birstall nahe Leeds bei einem »Zwischenfall« schwer verletzt worden, sie befinde sich in kritischem Zustand. Ein Mann
Ende 40 sei leicht verletzt, ein 52-Jähriger sei
festgenommen worden. dpa/nd