Kapitalismuskritik: Mit hohem Dada-Faktor Der Musiker Adam Green hat einen Märchenfilm gedreht. Aliens kommen auch vor ▶ Seite 13 AUSGABE BERLIN | NR. 11037 | 23. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ DIENSTAG, 7. JUNI 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Nachfolger schon gefunden BUNDESPRÄSIDENT Joachim Gauck wird aus Altersgründen nicht für eine zweite Amtszeit kandidieren. Alle Parteien sind nun auf der Suche nach dem Nachfolger. Dabei kann es nur einer werden: Jérôme Boateng, Deutschlands beliebtester Nachbar ▶ SEITE 2 Nicht abgestimmte Forderungen Radikale Punkte kamen ohne Beschluss ins Parteiprogramm AFD BERLIN taz | Einige der schar- fen, islamfeindlichen Forderungen der AfD sind ohne Zustimmung des Parteitags in das AfD-Grundsatzprogramm aufgenommen worden. Dazu gehören eine staatliche Zulassungspflicht von Imamen, ihre Abschiebung, wenn sie durch verfassungswidrige Agitation auffallen, und die Abwicklung der Lehrstühle für islamische Theologie. Die Formulierungen gehören zu einem Änderungsantrag, mit dem sich der Parteitag nach Recherchen der taz aber gar nicht befasst hat. SAM ▶ Schwerpunkt SEITE 4 ▶ Inland SEITE 6 ▶ Gesellschaft + Kultur SEITE 14, 16 USA Hillary Clinton steht vor dem Sieg bei den Vorwahlen der Demokraten. Aber ihre Partei ist gespalten ▶ SEITE 5 SHARE ECONOMY Was pazifische Muscheln mit Firmen wie Uber gemein haben ▶ SEITE 15 BERLIN Das Islamforum tagt nach langer Zeit mal wieder. Und gleich gibt es Streit ▶ SEITE 21 Streik vor der Fußball-EM Fotos: (oben) Kelsey Bennett, ap Protest könnte auch das Turnier behindern FRANKREICH VERBOTEN Guten Tag, liebe Pe*g_idistInnen! Wie die Bundespolizei mitteilt, hat sie am Wochenende in Dresden 100 Ereignisse registriert und zur Anzeige gebracht, darunter zwei Fälle „nicht alltäglicher körperlicher und verbaler Gewalt“. Ein 30-Jähriger habe mit hoher Aggressivität Polizisten und Passanten beleidigt. Ein 42-jähriger Betrunkener habe sogar Beamte geschlagen sowie äußerst aggressiv und derb mit Worten beleidigt. Nach der ganzen Debatte um böse Fremde nennt die Bundespolizei auch explizit die Herkunft der Täter: Beide sind Deutsche, einer kam aus Leipzig, der andere aus PARIS dpa | Zugausfälle, Versor- Nur zwei Gründe sprechen gegen den Fußballer: Er ist erst 28 und keine Frau Foto [keine Montage]: Future image/imago KOMMENTAR VON STEFAN REINECKE ÜBER DEN JOB DES BUNDESPRÄSIDENTEN Freital. TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.938 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 20623 4 190254 801600 M Was wir von Gauck lernen können an muss Joachim Gaucks pastorale Rhetorik und konservative Haltung nicht mögen. Er lobte den Neoliberalismus und fremdelte mit dem Islam. Allerdings ist Gauck im Amt offener geworden. Das versteinert Rückwärtsgewandte trat in den Hintergrund. Und die Distanz gegenüber der Einwanderungsrepublik wurde kleiner. Das mag man als Symbol für die vorsichtige Annäherung eines bildungsbürgerlichen, sehr deutsch geprägten Milieus an das Jetzt sehen. Insofern ist Gauck Gegenfigur zu den außer Rand und Band geratenen akademischen AfD-Wutbürgern. Auf der Habenseite steht zudem ein Gespür für Geschichts- politik. Gaucks Vater war NSDAP- Mitglied, die Sowjets verschleppten ihn 1951 willkürlich in den Gulag. Gauck war wohl der letzte Bundespräsident, den eine biografische Nabelschnur mit den totalitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts verband. Es war gut, dass er an vergessene Opfer erinnerte, etwa an die sowjetischen Kriegsgefangenen, die die Wehrmacht zu Hunderttausenden verhungern ließ. Schade, dass er dies nicht lauter und heftiger tat. Als Gauck ins Amt kam, fürchteten manche, dass er mit Moralfuror eine Schneise der Verwüstung in diplomatisch heiklen Angelegenheiten schlagen würde. Das war voreilig. Man muss keine Karriere in Partei- gremien absolviert haben, um diesen Job zu beherrschen. Gauck hat gezeigt, was das Amt braucht – einen freien, lernfähigen Kopf. Was das Amt nicht braucht, ist ein verdienter Poli- schein von Postenschieberei zu vermeiden. Die taktischen Spielereien, die nun beginnen, werden interessant. Dass sich Rot-Rot-Grün einigt, kann man leider ausschließen – wegen der heftigen Abneigung zwischen SPD-Rechund Linkspartei-Fundis. Es spricht alles dafür, ten Alle verknoteten Fäden laufen dass es 2017 erstmals bei Angela Merkel zusammen. Die hat es mit einer störrischen eine BundespräsiCSU, unwilligen Grünen und eidentin geben sollte ner verstockten SPD zu tun. Die Lage ist kompliziert. Und wie tiker, dessen Karriereende ver- meistens gilt: Wer Merkel ungoldet werden soll. Es wäre ein terschätzt, wird verlieren. Wer soll es werden? Gut wäre, kluges Zeichen der politischen Klasse, wenn sie begreift, dass wenn wir 2017 keinen BundesSeiteneinsteiger besser geeig- präsidenten haben, sondern net sind als Lammert oder eine Bundespräsidentin. Das ist Steinmeier. Schon um den An- überfällig. Schon lange. gungsprobleme an Tankstellen, Zusammenstöße am Rande von Demonstrationen: Seit Wochen prägen Streiks und Proteste den politischen Alltag in Frankreich. Wenige Tage vor dem Eröffnungsspiel der Fußballeuropameisterschaft am Freitag ist unklar, ob zentrale Konflikte vorher noch entschärft werden können – oder ob die Aktionen sich in die Zeit des Fußballturniers ziehen. Zudem wurde in der Ukraine ein Franzose festgenommen, der während der EM Attentate in Frankreich geplant haben soll. ▶ Schwerpunkt SEITE 3 ▶ Ausland SEITE 10 ▶ Meinung + Diskussion SEITE 12 Giftiger Streit über Glyphosat BRÜSSEL dpa | Die EU streitet weiter über den Einsatz des Unkrautvernichters Glyphosat in Europa. Bei einer Abstimmung von Vertretern der EU-Länder über eine Verlängerung der Zulassung kam am Montag in Brüssel nicht die nötige Mehrheit zustande. Die geltende Genehmigung des weit verbreiteten Pestizids läuft Ende des Monats aus. Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) zeigte sich erfreut über das Ergebnis. „Viele Mitgliedstaaten möchten erst die Frage der Krebsrisiken geklärt sehen“, erklärte die Ministerin. ▶ Wirtschaft + Umwelt SEITE 8 ▶ Meinung + Diskussion SEITE 12 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Bundespräsident Die Bundesversammlung ■■Aktuell: Die Bundesversamm- lung wählt am 12. Februar 2017 den Bundespräsidenten. Derzeit sind elf Parteien in ihr vertreten, so viele, wie seit 1949 nicht mehr. Die endgültige Zusammensetzung wird aber erst nach einer erneuten Volkszählung und den Landtagswahlen in MecklenburgVorpommern und Berlin klar. ■■Generell: Sie besteht je zur Hälfte aus Bundestagsabgeordneten und aus Entsandten der Landesparlamente. Von den 1.260 Mitgliedern der Bundes- versammlung ist im ersten und zweiten Wahlgang eine absolute Mehrheit, also 631 Stimmen, nötig. Sollte es zu einem dritten Wahlgang kommen, würde eine relative Mehrheit ausreichen. ■■Rechnerisch: Derzeit gäbe es eine Mehrheit für einen gemeinsamen Kandidaten von CDU/CSU/SPD, aber auch von Schwarz-Grün. Für eine rot-rotgrüne Mehrheit würde es knapp werden, mit Beteiligung der Piraten würde man allerdings das Quorum erreichen. Die 16. Bundesversammlung Aktuelle Verteilung der Stimmen FDP 31 SPD 386-389 CDU/CSU 544-546 Grüne 146-147 Linke 94 Piraten 14 AfD 30 Sonstige 12 1.260 Mitglieder (Freie Wähler 10, SSW 1, NPD 1 ) taz.Grafik: infotext-berlin.de Quelle: Wahlrecht.de Die Taktiererei beginnt NACHFOLGE Merkel will Gespräche über Kandidaten führen. Doch auch andere senden Signale aus BERLIN taz | Eigentlich sollte es um 30 Jahre Umweltministerium gehen, dann aber kam Angela Merkel (CDU) am Montag nicht umhin, über Bellevue zu sprechen und über die Nachfolge des aktuellen Bundespräsidenten, Joachim Gauck. „Wir werden nicht nur zwischen CDU und CSU Gespräche führen, sondern wir werden darüber hinaus auch Gespräche führen“, sagte die Bundeskanzlerin bei der Feierstunde. Was im ersten Moment banal klingt, ist eine Botschaft: Merkel will versuchen, sich mit anderen Parteien auf einen Kandidaten zu einigen. Schließlich folgt nur wenige Monate nach der Bundespräsidentenwahl im Februar die Bundestagswahl im September – die Suche nach Kandidaten folgt also auch der Frage: Wer will zukünftig mit wem koalieren? Offiziell wollen weder Merkel noch ihre Parteispitze über geeignete Kandidaten sprechen: „Aus Respekt“ vor dem Amtsinhaber, hieß es am Montag von Mitgliedern der Unionsspitze. Merkel hat Zeit und verschiedene Optionen: Sie könnte einen Kandidaten präsentieren, der für die Grünen tragbar ist, um den Wunsch nach einer schwarzgrünen Koalition zu signalisieren, oder jemanden, den die SPD unterstützt. Wahrscheinlich ist: Sie sucht jemandem, der für beide Parteien akzeptabel ist. Oder sie setzt auf eine UnionskandidatIn, der oder die im dritten Wahlgang durchkommt. So hielte sich Merkel für die Bundestagswahl alles offen. Trotzdem dringt der Name eines Wunschkandidaten durch: Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU). Er genieße „großen Rückhalt“, sagt Christian Baldauf, CDU-Vorstandsmitglied. Auf einem Treffen der Unions-Fraktionsführungen der Länder hätte er sich bereits als Konsenskandidat abgezeichnet – auch bei der CSU. Schwerpunkt DI ENSTAG, 7. JU N I 2016 Und wie sehen das Grüne und SPD? No comment. Beide Parteien werden bereits von der Linkspartei unter sanften Druck gesetzt. Eine halbe Stunde nach dem Rücktritt Joachim Gaucks erneuert die Linke zackig ihren Vorschlag vom Wochenende: Die Partei stünde zu einer Verständigung mit SPD und den Grünen über einen gemeinsamen Kandidaten bereit, erklären die Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger. Auf Nachfrage heißt es: Das Angebot sei völlig ernst gemeint. Zumindest bei linken SPDlern stößt der Vorschlag auf positive Resonanz, bietet er doch die Gelegenheit, das tot geglaubte Projekt Rot-Rot-Grün für 2017 wiederzubeleben. „Rot-Rot-Grün hat derzeit eine parlamentarische Mehrheit und die sollten wir nutzen“, meint etwa die SPDBundestagsabgeordnete Hilde Mattheis, die auch das Forum demokratische Linke in der SPD, DL21, vertritt. Sie glaubt, dass einE gemeinsame KandidatIn des linken Lagers eine breite Unterstützung in der eigenen Partei finden könnte – gerade auch in Abgrenzung zum derzeitigen Koalitionspartner. In den Reihen der Grünen ist man weit weniger enthusiastisch und nicht erbaut darüber, dass die Linke vorgeprescht ist. Parteichefin Simone Peter, die den linken Flügel vertritt, gibt am Montag nur knapp bekannt, dass Hektik oder vorschnelle Personalvorstellungen jetzt nicht zielführend seien. Tatsächlich spielt die Zeit für die Grünen. Je näher die Bundestagswahl rückt, desto schwieriger wird es für Union und SPD, einen gemeinsamen Kandidaten zu finden, umso gefragter werden die Grünen als Mehrheitsbeschaffer. „Die beiden großen Parteien werden auf uns zukommen und wir werden mit allen sprechen, außer der AfD“, meint Peters selbstbewusst. CHRISTINA SCHMIDT, ANNA LEHMANN Joachim Gauck verzichtet auf eine zweite Amtszeit. Die Debatte um seine Nachfolge ist eröffnet – und könnte Signalwirkung haben Ein schwerer Schritt ABGANG Nach nur fünf Jahren will Joachim Gauck das Amt aufgeben, dem er wieder zu mehr Würde verholfen hat. Grund: sein Alter. Die Entscheidung fiel ihm nicht leicht. Wie sehr Joachim Gauck mit sich kämpfte, hat er nie verheimlicht. Erst Ende April sagte der Bundespräsident in einem Interview im „Deutschlandfunk“, dass er sich fragen müsse, ob er als über 80-Jähriger noch mit den Belastungen des Amtes fertig werde. Aber dann sei da der Zuspruch der Bevölkerung, schob er nach. Er werde vielleicht „nicht so glücklich aus der Wäsche gucken“, wenn die Entscheidung getroffen sei. Seit Montag ist klar, was sich schon länger andeutete. Gauck hat sich für das Aufhören entschieden. In dem Schritt liegt eine gewisse Tragik. Joachim Gauck, 76, der liberale Konservative und selbsterklärte Freiheitsliebhaber, ist zu einem allseits geachteten Bundespräsident geworden. Gauck steht, kurz gesagt, auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Der große Saal in Bellevue, Kronleuchter, cremefarbener Teppich. Gauck kommt um Punkt zwölf Uhr mit schnellen Schritten in den Saal und verliest eine knappe Erklärung. Er habe sich entschlossen, nicht erneut für das Amt zu kandidieren. „Diese Entscheidung ist mir nicht leichtgefallen, denn ich empfinde es als große Ehre, diesem Land zu dienen.“ Er treffe fast täglich Menschen, die durch ihr Engagement dafür sorgten, dass dieses Land schöner werde. freude werden geschätzt, wohl auch deshalb, weil er sich mit den Linken und den Konservativen anlegt. In einer Rede an der Führungsakademie der Bundeswehr nannte er etwa Soldaten 2012 „Mut-Bürger in Uniform“. Ebenso wirbt er für eine aktive Außenpolitik Deutschlands, sprich: für Kampfeinsätze der Bundeswehr. Das stößt friedensbewegten Linken sauer auf. Aber Gauck hatte auch kein Problem damit, Rechtsradikale 2013 als „Spinner“ zu bezeichnen – was ihm eine Beschwerde der NPD in Karlsruhe einbrachte. Mit der Zeit fügte sich Gauck in die Regeln des Politikbetriebs. In der Debatte über Flüchtlinge positionierte er sich zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer, indem er auf Endlichkeiten von Möglichkeiten hinwies, aber das böse Wort „Obergrenze“ vermied. Eine sorgsam austarierte Linie, die genau in der Mitte des gespaltenen Landes verlief. All das ist nicht selbstverständlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Gauck als politischer Neuling ins höchste Staatsamt kam, das sein Vorgänger Christian Wulff zur Lachnummer heruntergewirtschaftet hatte. Gauck war ja eine Art Betriebsunfall für Merkel. Er zog vor gut vier Jahren nur deshalb ins Schloss Bellevue ein, weil die FDP unter ihrem Chef Philipp Rösler überraschend den rot-grünen Vorschlag, den ehe- Gauck schaut zwischendurch auf und lächelt. Er müht sich, glücklich aus der Wäsche zu gucken. Ans Ende des Manuskriptes hat er sich einen optimistischen Satz geschrieben. „Wir haben gute Gründe, uns Zukunft zuzutrauen.“ Er schaut auf, nickt – und geht. Viele BürgerInnen mögen und schätzen ihn, das belegen Umfragen. Gaucks Wort hat Gewicht im In- und Ausland, Leute aus CDU und CSU, aber auch Sozialdemokraten und Grüne loben ihn über den Klee. Seine Streitlust und Diskussions- maligen evangelischen Pastor mit DDR-Biografie zum Präsidenten zu machen, unterstützten. Es war einer der seltenen Momente, in dem die gewiefte Taktikerin im Kanzleramt überrumpelt wurde. Mit Gauck kam ein Fremder, Unerfahrener, ein Intellektueller mit wechselhafter Biografie. Ein brillanter, aber auch überschwänglicher Rhetoriker, von dem Zyniker vermuteten, er werde in der Mediengesellschaft keine paar Monate überleben. Gauck hält im Saal im Schloss jetzt einen kleinen Exkurs in De- AUS BERLIN ULRICH SCHULTE „Der Wechsel im Amt des Bundespräsiden ten ist in diesem Deutschland daher kein Grund zur Sorge“, sagte Gauck in seiner Erklärung. Solch ein Trost ist etwas banal und natürlich nicht frei von Eitelkeit. Gleich zeitig handelt es sich aber auch um eine gelinde Unter treibung, denn sein Rückzug stürzt alle Beteiligten in Kalamitäten mokratie. Er beschreibt seine Ankündigung, so wie er sie sieht – als Normalfall. Deutschland habe funktionierende Institutionen und engagierte Bürger. „Der Wechsel im Amt des Bundespräsidenten ist in diesem Deutschland daher kein Grund zur Sorge.“ Gauck weist immer wieder darauf hin, für wie stabil er die deutsche Demokratie hält. Solch ein Trost ist etwas banal und natürlich nicht frei von Eitelkeit. Gleichzeitig handelt es sich aber auch um eine gelinde Untertreibung, denn sein Rückzug stürzt alle Beteiligten in Kalamitäten. Die Kanzlerin und Spitzenleute von SPD und Grünen hatten ihn in den vergangenen Monaten bekniet weiterzumachen. Sein Rückzug stellt alle Beteiligten vor ein komplexes Puzzle, bei dem völlig offen ist, was am Ende herauskommt (Siehe Text links). Entsprechend wurde seine Ankündigung allgemein bedauert. Merkel sagte, sie hätte sich eine zweite Amtszeit gewünscht. Er sei „glücklicherweise“ noch einige Monate im Amt. Auch SPDChef Sigmar Gabriel sagte, seine Partei bedaure, dass Gauck nicht noch einmal in der Bundesversammlung kandidiert. Er sei ein „Präsident des ganzen deutschen Volkes“. Und Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt twitterte: „Er hat dem Amt Inhalt und Würde zurückgegeben.“ Als Grund nennt Gauck das Alter. Ihm sei bewusst, sagt er am Rednerpult, „dass die Lebensspanne zwischen dem 77. und 82. Lebensjahr eine andere ist als die, in der ich mich jetzt befinde.“ Er wolle für eine solche Zeitspanne nicht eine „Energie und Vitalität voraussetzen, für die ich nicht garantieren kann“. Der Mensch Gauck schwebt immer in Gefahr, sich von der Begeisterung forttragen zu lassen. Er ist begeistert von anderen Menschen, aber auch von sich selbst. Seine Entscheidung offenbart eine neue, sehr sympathische Seite: Demut. Schwerpunkt Frankreich DI ENSTAG, 7. JU N I 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Was ist los im Nachbarland? Das politische Klima ist aufgeheizt. Daran kann offenbar auch die Fußball-EM nichts ändern Ohne Rücksicht auf Verluste PROTESTKULTUR Kurz vor den Europameisterschaften in Frankreich ist das Land zutiefst gespalten. Präsident Hollande versucht mit allen Mitteln, das Arbeitsrecht aufzuweichen. Gewaltsame Proteste gehören zur Tradition – und sie werden derzeit heftiger AUS PARIS RUDOLF BALMER Romain D., 28 Jahre alt, liegt seit dem 26. Mai im Koma. Zeugen berichten, dass es eine Polizei granate war, die ihn am Ende ei ner Kundgebung gegen die Ar beitsmarktreform in Paris traf. Journalisten und Zuschauer wa ren mit Videokameras und fil menden Smartphones zugegen. Nichts kann heute mehr kann verheimlicht werden – schon gar nicht die Brutalität entnerv ter CRS-Ordnungspolizisten, die vorher oft selbst provoziert oder angegriffen worden sind und ihre Wut an Unschuldigen oder Unbeteiligten abreagieren. So sahen die Zuschauer jüngst im Fernsehen auch, wie in Ren nes Beamte in Robocop-Montur wahllos auf fliehende Demons tranten und sogar ganz gezielt auf Medienleute mit Kameras einschlugen. Viel häufiger zei gen die TV-Bilder Gruppen Ver mummter – im offiziellen Jar gon sind das die „Casseurs“ (Randalierer) – Steine, Flaschen oder Molotowcocktails auf die Polizisten werfen und die Fas saden von Banken und Ge schäften oder andere Symbole des Kapitals und der Konsum gesellschaft demolieren. Die sen Leuten geht es nicht – oder nicht mehr nur – um eine von der Regierung als „Reform“ be titelte frontale Attacke auf das Arbeitsrecht, sondern um die Staatsmacht und ihr Gewalt monopol. In Frankreich werden Kon flikte ohne Rücksicht auf Ver luste und in der direkten Kon frontation auf der Straße aus getragen. Das hat eine lange Tradition. In gewisser Weise ist daher auch die Toleranz für il legale oder gewaltsame Akti onsformen sehr viel größer als in anderen europäischen Staa ten. Die Legitimität des Wider stands ist fester Bestandteil der Geschichte. Sie begründet den staatstragenden Mythos der Re volution von 1789 oder auch der Résistance-Bewegung gegen die deutsche Besetzung von 1940– 1945. So ist es bis heute durchaus üblich, dass zornige Bauern Last wagen mit Früchten aus Spanien stoppen und die Ladung aus kippen. Sie können sicher sein, dass sie straffrei davonkom men, weil niemand gegen sie er mitteln wird. Darum jammern und schimpfen Unternehmer und bürgerliche Politiker ver geblich, wenn Gegner der Ge setzesvorlage Straßen blockie ren oder mit anderen, manch mal sehr punktuellen Aktionen den normalen Gang der Wirt Kürzlich in Douchy-Les-Mines während einer Blockade des örtlichen Petroleumdepots bei den Protesten gegen die geplante Reform des Arbeitsrechts Foto: François Lo Presti/afp schaft stören. Weil die Regie rung weiß, wie riskant es ist, am bestehenden System zu rüt teln, hat sie es mit einer Über rumpelungstaktik probiert, um ihre Arbeitsmarktreform durch zupeitschen. Dabei war François Hollande noch 2012 mit einem betont linken Programm zum Präsidenten gewählt worden Man erinnert sich daran, wie er sich in Le Bourget von seinen Anhängern für Attacken auf die Macht der Spekulanten („die Fi nanzwelt ist mein Feind“) als Antikapitalist feiern ließ. In seinem eigenen Lager hat der Präsident für den neuen „pragmatischen“ Kurs keinen Rückhalt. Die Vertreter des lin ken Flügels des Parti Socialiste hatten mehrfach angekündigt, dass sie diese zaghafte Wende hin zu liberalen Reformvor stellungen als Verrat am Par teiprogramm ablehnen. Das hat Hollande effektiv gezwun gen, schon in der ersten Lesung zur „Holzhammermethode“ des Verfassungsartikels 49.3 Zu flucht zu suchen. Damit kann er die Vorlage im abgekürzten Verfahren und ohne Votum für angenommen erklären. Viele in Frankreich sind über dieses Vor gehen empört. Mit der Verbitte rung stieg auch die Bereitschaft zur Gewalt. Wenn nun auch noch die Fußball-EM in diese handfeste Auseinandersetzung einbezogen wird, ist allerdings wohl selbst für manche Fran zosen, welche die Streiks und Mit der Verbitterung über die Überrumplungstaktik der Regierung stieg auch die Bereitschaft zur Gewalt Blockaden bisher für normal und legitim halten, eine Reiz schwelle erreicht. Der Streit steuert auf eine Entscheidung zu. Die Regierung will stur an dieser Arbeitsmarkt reform festhalten, die den Un ternehmen bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen mehr Flexibilität geben soll. Aus der Sicht der meisten Gewerkschaf ten bedeutet dies, dass der Boss über die Arbeitszeiten und die Bezahlung entscheidet. Da mit werden nicht nur sauer er kämpfte soziale Errungenschaf ten und Rechte der Arbeiterbe wegung infrage gestellt. Bedroht ist auch das gesamte franzö sische Sozialmodell der Nach kriegszeit. Die Zeit drängt, und die Uhr tickt gegen die französische Re gierung. Kurz vor dem Beginn der Fußball-EM 2016 am Frei tag zeichnete sich im Konflikt um die Arbeitsmarktreform in Frankreich noch immer keine Lösung ab. Keine Seite will oder kann jetzt noch nachgeben. Die Appelle der Regierung an das Verantwortungsbewusst sein oder an den Patriotismus verhallen ungehört. Für die Geg ner der Liberalisierung des Ar beitsrechts tönt das sogar wie ein geschmackloser Witz, wenn die Staatsführung, die mit ih rem Vorgehen für die verfah rene Lage verantwortlich ist, ihnen so mit Schuldgefühlen kommt. Aber darf man eine internati onale Sportveranstaltung, zu der Hunderttausende Besucher er wartet und für die zig Millionen investiert wurden, als Druckmit tel in einem politischen Streit verwenden? Warum nicht, sagt allen vo ran die CGT-Gewerkschaft mit ihren rund 600.000 Mitglie dern. Sie fühlt sich aber nicht als Minderheit, weil laut Um fragen eine Mehrheit von 70 Prozent die Regierungsvorlage ablehnt. Für die CGT geht es in diesem Kampf um grundle gende Klasseninteressen der Ar beitnehmer und um ihre eigene Glaubwürdigkeit. Und überhaupt ist es die Gegenseite, die in diesem Match der Spielverderber ohne Schiedsrichter mit ihren unfai ren Methoden begonnen hat. Ausbaden müssen das haupt sächlich die anderen, die an diesem Konflikt nicht direkt teilnehmen, aber seit einer Wo che nicht wissen, wie sie wegen der Verkehrsbehinderungen an den Arbeitsplatz kommen. Aus gerechnet vor dem EM-Auftakt am Freitag soll in Frankreich eine weitere Woche mit Streiks und Störaktionen beginnen. Schlachtenbummler aufgepasst! FUSSBALL Streiks, Proteste und verschärfte Kontrollen könnten den Weg zu den EM-Spielen in Frankreich erschweren PARIS taz | Wer zur Europameis terschaft nach Frankreich fah ren will, muss sich auf einiges gefasst machen. Zwar sind die Zugverbindungen aus Deutsch land nach Angaben der Direk tion der SNCF-Staatsbahn von den „unbefristeten“ Streiks ei nes Teils der Gewerkschaften nicht betroffen. Aber im Lokal verkehr zwischen den Vororten und den Zentren der größeren Städte sind die Streiks spürbar. Bei den regionalen Hochge schwindigkeits-TGV-Verbin dungen fahren derzeit nur etwa sechs von zehn Zügen. Im Flug verkehr könnte sich der für die Zeit vom 9. bis 14. Juni angekün digte Streik der Air-France-Pilo ten gegen eine programmierte Lohnsenkung auswirken. Wer mit dem Privatauto zur Fußball-EM kommt, muss im mer noch damit rechnen, dass wegen der Streiks in den Raffi nerien zahlreiche Tankstellen geschlossen sind. Die Taxifah rer werden derweil womöglich mehr Geld verlangen. Im besten Fall merken Besu cher aus dem Ausland von dem Konflikt wegen der Arbeits marktreformen nichts. Solange dieser Streit weitergeht, kann er jedoch jederzeit eskalieren: Die Gewerkschaften der Lkw-Fahrer beispielsweise drohen mit Blo ckaden in den Austragungsstäd ten an den Spieltagen. Am 14. Juni ist ein landeswei ter Aktionstag gegen die Regie rungspolitik angesagt. Außer dem: Bei den Stadien und auch den Fanmeilen in den zehn Aus tragungsorten sind die Kontrol len aufgrund der Notstandsge setze wegen der Angst vor Ter roranschlägen und Problemen mit Hooligans massiv verschärft worden. Auch hier ist mit den Polizeibeamten oder dem priva ten Sicherheitspersonal nicht zu spaßen. RUDOLF BALMER MEINUNG + DISKUSSION SEITE 12 Worüber sie streiten ■■Die Regierung: Sie will das Ar beitsrecht grundlegend ändern. Über die Arbeitszeiten, Bezah lung von Überstunden und an deres kann dann auf Unterneh mensebene verhandelt werden. Die bisher absolut geltenden gesetzlichen Regelungen oder Bestimmungen von Branchen verträgen können bei Bedarf außer Kraft gesetzt werden, wenn das Personal mehrheitlich zustimmt. ■■Die Gewerkschaften: Sie müs sen damit rechnen, dass diese Revision eine folgenreiche Bre sche in das Arbeitsrecht schlägt. Bisher fühlten sie sich durch den Staat und das Gesetz noch vor totaler Unternehmerwillkür geschützt. ■■Das Arbeitsrecht: Es garantiert den Beschäftigten bislang ein Minimum (Mindestlohn, diverse Zulagen, grundsätzliche Gleich behandlung) und Errungenschaf ten wie etwa die 35-StundenWoche. Dank der geleisteten Überstunden ermöglicht es den Arbeitern ein etwas höheres Ein kommensniveau oder gewährt als Kompensation freie Tage für die Familie. ■■Die Reform: Was bisher als Minimum gesichert schien, gerät nun ins Wanken. Die Senatskom mission hat etwa vorgeschlagen, die gesetzliche Höchstarbeitszeit zu streichen. Künftig soll unter anderem der bisherige Kündi gungsschutz gelockert werden. Bei Debatten in der Nationalver sammlung sind bereits einige strittige Punkte zurückgenom men worden, einige positive Elemente kamen dazu, wie etwa die finanzielle Unterstützung für junge Berufseinsteiger. Den Ge werkschaften CGT, FO und SUDSolidaires reicht das nicht. (rb)
© Copyright 2024 ExpyDoc