Wissen, anwenden, wollen und tun

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119. DEUTSCHER ÄRZTETAG
Wissen, anwenden, wollen und tun
Egbert Maibach-Nagel
eltärztebund-Präsident Sir Michael Marmots
viel beachtetes Grußwort an die Delegierten des
119. Deutschen Ärztetages in Hamburg zitierte Goethes
Wilhelm Meister. Es war Appell und Herausforderung,
adressiert an die Ärzteschaft: „Es ist nicht genug, zu
wissen, man muß auch anwenden; es ist nicht genug, zu
wollen, man muß auch tun.“
Damit lieferte der Brite Marmot – er selbst befasst
sich seit Jahren mit der Kausalität zwischen sozialer
Umwelt und Gesundheit – ein symbolträchtiges Leitmotiv, einen Überbau für das ärztliche Denken und
Handeln, der nach Meinung der Ärzte angesichts aktueller Probleme im Gesundheitswesen wieder mehr Gewicht erhalten soll und zwangsläufig auch wird.
Nicht, dass das Ärzteparlament seine Pflichten und
das Gefühl für die aktuellen Notwendigkeiten aus den
Augen verlor. Ob GOÄ-Novelle, medizinische Ausund Weiterbildung, ob Telematik, Qualitätssicherung
oder Forderungen an einschlägige Gremien und Organisationen: Was geregelt gehört, wurde diskutiert – in
manchen Punkten durchaus divers und mit entsprechender Härte. Am Ende standen Beschlüsse, die die
Weiterentwicklung oder den Fortbestand des freien
ärztlichen Daseins als übergeordnetes Ziel beibehalten.
Aus der Retrospektive wirkt der zum Auftakt gestartete Versuch einiger Delegierter, das Parlament zur
Abwahl des Präsidenten der Bundesärztekammer zu
bewegen, für viele als Unwetter. Was folgte, war eine
schnell aufklarende Atmosphäre und damit Raum für
vorbehaltlose Entscheidungen in einem würdigen parlamentarischen Umfeld.
Dass ärztliches Wissen, gepaart mit medizinethischer Grundsolidität, klare Positionen zu hochpolitischen Debatten nicht nur erlaubt, sondern sogar erfordert, zeigen die Beschlüsse zum Umgang mit den Patienten, die aus Krisengebieten geflohen sind und hier
in Deutschland Asyl suchen. Ärztliches Handeln, das
wurde in Hamburg sehr deutlich gemacht, unterscheidet nicht: Der Patient ist Mensch, als solcher wird er
behandelt.
W
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 22–23 | 6. Juni 2016
Noch weit deutlicher wurde das auf dem Ärztetag
auch in der Haltung der Delegierten zur fortschreitenden Ökonomisierung medizinischer Versorgung. Was
gefordert wurde, war nicht traumtänzerisch, nicht wirklichkeitsfremd. Durchaus konkret waren die Maßstäbe,
die man fortschreitender Personaleinsparung in der
Versorgung entgegen setzen will. Sehr deutlich waren
die Redebeiträge, die eine Unzufriedenheit mit den
Einschränkungen im Krankenhausalltag zulasten der
Patientenversorgung deutlich betonten. Es war nicht zu
überhören: Die Entscheidung für den Patienten, die
Umsetzung und Freiheit medizinischen Handelns sind
die Prämissen, die eine sinnvolle tägliche Arbeit abfordert. Heilen, nicht ökonomischer Erfolg muss die
Grundlage bleiben. Das wird, außer vielleicht einigen
Aktien-Shareholdern, kaum jemand anders sehen.
Deutschlands Ärzteschaft hat, auch wenn in der breiten Öffentlichkeit immer wieder mediale Spitzen gesetzt wurden, in Hamburg wieder deutlich gemacht,
dass man sich als Berufsgruppe en gros daran hält,
ethisch verantwortlich zu agieren. Ganz im Sinne des
Marmot’schen Goethe-Zitats, das auffordert, Wissen
ethisch anzuwenden, das eigene Handeln daran auszurichten und dort, wo es erforderlich wird, sich auch gesellschaftlich dafür stark zu machen.
Egbert Maibach-Nagel
Chefredakteur
A 1059