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Liebe Kolleginnen und Kollegen,
nachfolgend bieten wir Ihnen eine Meldung an.
Alexander Graf Lambsdorff (FDP), stellvertretender
Telefon
Präsident des Europäischen Parlaments, gab heute,
Telefax
24.05.16, dem Südwestrundfunk ein Interview zum Thema:
„Nach dem Treffen Merkel-Erdogan: ist der Flüchtlingspakt Internet
noch zu retten?“
Das „SWR2 Tagesgespräch“ führte Florian Rudolph.
Mit freundlichen Grüßen
Zentrale Information
Datum:
07221/929-23981
07221/929-22050
www.swr2.de
24.05.2016
Lambsdorff glaubt nicht an Scheitern des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens
Baden-Baden: Der FDP-Politiker und Vizepräsident des EU-Paraments Alexander Graf
Lambsdorff glaubt nicht daran, dass der türkische Präsident Erdogan in absehbarer Zeit
einlenkt und die umstrittenen Anti-Terrorgesetze ändert, mit denen er auch ihm missliebige
Journalisten verfolgen lässt. „Dafür fehlt mir die Phantasie“, bekannte Lambsdorff im SWRTagesgespräch.
Daher sei es richtig, die vereinbarte Visafreiheit für türkische Bürger vorerst zu verschieben.
Den damit verknüpften Deal zwischen der EU und der Türkei über die Rücknahme von illegal
eingereisten Flüchtlingen hält der FDP-Politiker noch nicht für gescheitert.
Erdogan setze nach außen die Interessen der Türkei durch, das sei legitim. Allerdings habe er
auch seinen Landsleuten die Visumfreiheit verkündet – das sei für viele Türken entscheidender,
als die 6 Milliarden zur Versorgung der inländischen Flüchtlinge oder ein oder zwei Kapitel in
einem im Grunde toten EU-Beitrittsprozess. Wenn Erdogan jetzt den Flüchtlingsdeal platzen
ließe, dann wären auch seine Interessen verletzt, so Lambsdorff.
Von der Kanzlerin hätte sich EU-Parlamentsvize Lambsdorff allerdings bei ihrem Gespräch mit
Erdogan gestern in Istanbul mehr Druck gewünscht. Die Türkei sei ein Nato-Partner, sie strebe
nach wie vor in die EU – da könne man schon deutlicher artikulieren, dass die Drangsalierung
der Kurden und der kurdischen Abgeordneten nicht in Ordnung ist. Hier hätte die Kanzlerin
deutlicher auftreten können, findet Lambsdorff im SWR.
Wortlaut des Live-Gesprächs:
Rudolph: Die Kanzlerin selbst hat nach ihrem Gespräch mit dem türkischen Präsidenten
Erdogan in Istanbul also erklärt, dass die Visafreiheit nicht zum 1. Juli kommen kann.
Haben Sie genügend Fantasie sich vorzustellen, dass Erdogan auch danach auf einmal
einlenkt und sagt, na gut, dann ändern wir eben diese umstrittenen Anti-Terror-Gesetze?
Der SWR ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD)
Graf Lambsdorff: Im Moment fehlt mir die Fantasie mir das vorzustellen, obwohl es dringend
notwendig wäre. Wir haben es vom Europäischen Parlament ja schon seit Jahren verlangt,
dass diese Gesetze geändert werden, die ja mit Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit nichts
zu tun haben. Man muss sich das mal kurz vor Augen führen, vielleicht um zu verstehen,
worum es da geht. Wenn Sie bei Twitter etwas absetzen oder, wenn Sie einen Zeitungsartikel
schreiben, wo Sie zum Frieden im Südosten der Türkei aufrufen oder, wo Sie sagen, es muss
etwas getan werden, um in Syrien bestimmte Dinge zu erreichen. Also völlig friedlich, ohne
jeden Aufruf zur Gewalt, dann können Sie schon vor Gericht gezerrt werden als Unterstützer
einer terroristischen Vereinigung. Da werden berufliche Laufbahnen zerstört, da werden
Zeitungen geschlossen, mit anderen Worten, darum geht es hier. Es geht um Meinungsfreiheit
und Rechtsstaatlichkeit und da wollen wir natürlich auch Fortschritte sehen.
Rudolph: War die Kanzlerin denn aus ihrer Sicht da gestern in Istanbul standhaft, auch
angesichts neuer Repression, Aufhebung der Immunität der pro-kurdischen
Abgeordneten?
Graf Lambsdorff: Ich sage das jetzt auch mal als Oppositions-Politiker ganz klar, die Kanzlerin
ist in einem echten Dilemma. Natürlich muss Europa mit der Türkei zusammenarbeiten. Das
zeigt schon ein Blick auf die Landkarte. Zwischen Syrien und der Europäischen Union gibt es
exakt ein Land und das ist die Türkei. Auf der anderen Seite, die Türkei ist ein NATOVerbündeter, sie ist ein Land das nach wie vor in die Europäische Union strebt und ich finde, da
kann man schon etwas deutlicher artikulieren, dass die Drangsalierung ins besondere auch der
Kurden und der kurdischen Abgeordneten nicht in Ordnung ist. Und ich finde, da hätte sie
schon etwas deutlicher auftreten können.
Rudolph: Es heißt ja immer und Sie haben es eben auch noch einmal gesagt, die Türkei
braucht den Deal genauso wie die EU. Nur, macht Erdogan doch eben genau gerade
nicht diesen Eindruck und er scheint auch nicht einer zu sein, der Vernunft über Prinzip
stellt?
Graf Lambsdorff: Ja, aber Präsident Erdogan macht ja zweierlei. Das eine ist, er versucht
nach außen die Interessen der Türkei durchzusetzen, das ist ja auch völlig legitim und er
versucht nach innen im Volk Unterstützung zu bekommen. Ich glaube, das ist der Punkt wo hier
noch etwas passieren kann, denn er hat die Visumsfreiheit seiner eigenen Bevölkerung
verkündet. Das ist für viele Türkinnen und Türken das wirklich entscheidende. Weniger die
sechs Milliarden, die da jetzt kommen, oder ein oder zwei weitere Kapitel in einem im Grunde
toten EU-Beitrittsprozess. Aber, wenn viele Türkinnen und Türken immer vor den Konsulaten
Schlange stehen müssen, bevor sie einmal ihre Familie in Deutschland oder Schweden
besuchen können, das ist eine Demütigung für viele. Und da Fortschritte zu erreichen, das hat
Erdogan versprochen, das heißt, also, wenn er jetzt den Deal insgesamt komplett platzen ließe,
dann wären auch seine Interessen verletzt. Deswegen bin ich nach wie vor der Meinung, wenn
man anfängt über Kompromisse zu reden, dann kann dieser Deal vielleicht nicht hundert
Prozent, aber doch die entscheidenden Teile vielleicht, erreichen und umgesetzt werden.
Rudolph: Herr Lambsdorff, wenn aber jetzt anfängt es mit Zugeständnissen, mit kleinen
Schritten zu probieren, macht man dann nicht genau das, man gewährt einen Rabatt und
opfert am Ende doch Grundwerte?
Der SWR ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD)
Graf Lambsdorff: Naja, also was bei dem Rabatt zur Frage stand. Auf der einen Seite war ja
die Frage, machen wir Visumsfreiheit für alle Türkinnen und Türken. Also 75 Millionen
Menschen auf einen Schlag, inklusive für die ganz besonders schwierigen kurdischen Gebiete,
in denen ja teilweise sogar Bürgerkrieg herrscht. Nein, wir haben von der FDP seit Jahren
gesagt, wir brauchen Visumserleichterungen erst mal für bestimmte Gruppen von Reisenden.
Das können Künstler sein, das können Akademiker, Forscher sein, Studierende,
Geschäftsleute, aber auch Angehörige, Familien-Angehörige, die wirklich immer wieder
zurückkehren in die Türkei, da kann man dann auch hingehen und sagen, ihr müsst eben nicht
mehr stundenlang in der Schlange stehen. Wir vertrauen euch. Und da kann man
Visumserleichterung machen. Das heißt, da gibt es eine Möglichkeit für einen Kompromiss, der
auch den Menschen in der Türkei ganz konkret hilft und Erleichterungen verschafft, mehr
Freiheit ermöglicht ohne, dass man hin geht und sagt, wir machen gleich das gesamte
Programm, das Frau Merkel mit Herrn Erdogan ausgemacht hat. Denn das Programm, das
findet auch im Europäischen Parlament, jedenfalls bisher, keine Unterstützung. Wir sind nicht
bereit, einen Rabatt in dieser Frage einzuräumen. Ich habe ja eben gesagt, wo es um die AntiTerror-Gesetze geht, war das Europäische Parlament immer schon sehr sehr klar.
Rudolph: Eine kurze Einschätzung, also noch einmal, Sie glauben noch nicht daran, dass
der EU-Türkei-Deal , auch über die Rücknahme der Flüchtlinge, der eng verknüpft ist mit
dieser Visa-Freiheit, dass der tot ist?
Graf Lambsdorff: Ich glaube, man muss es schon in objektiven Interessen beider Seiten hier
betrachten. Wir, als Europäer, haben ein Interesse daran, dass die Flüchtlingszahlen weiter
zurückgehen. Präsident Erdogan hat ein Interesse daran, zumindest etwas zu erreichen in der
Frage der Visumserleichterungen. So lange beide Seiten Interessen daran haben, dass ein
Abkommen weiter besteht spricht vieles dafür, dass es das dann auch tut. Insofern, ich glaube,
da ist noch etwas möglich. Ich glaube nicht, dass das Ganze zusammenbrechen wird.
Ausschließen kann man in einer solchen Situation, gerade bei einem Mann wie Erdogan nichts,
aber, wenn ich es von den Interessen her sehe, bin ich doch eher vorsichtig optimistisch.
- Ende Wortlaut -
Der SWR ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD)