Zeitgeschehen im Fokus

Zeitgeschehen im Fokus
Forschen – Nachdenken – Schlüsse ziehen
Schweizer Zeitung für mehr soziale Verbundenheit, Frieden und direkte Demokratie
Nr. 4 | 13. Mai 2016 | 1. Jahrgang | www.zeitgeschehen-im-fokus.ch | [email protected]
Nein zur Initiative «Pro Service Public»
Die Grundversorgung wird nachhaltig geschwächt
Interview mit Thomas Egger*
A
m 6. Juni stimmt die Schweizer
Bevölkerung über die K-TippInitiative «Pro Service Public» ab.
Wenn man nach dem wohlklingenden Namen der Initiative geht,
müsste man dieser eigentlich zustimmen, jedoch bei genauerer
Analyse sieht man, dass die
Initiative verschiedene Pferdefüsse besitzt, was letztlich auf den
Abbau, wenn nicht sogar auf die
Zerstörung des Service public
hinausläuft.
Thomas
Egger,
Geschäftsführer der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für die
Berggebiete (SAB), hat sich eingehendst mit der Initiative auseinandergesetzt und analysiert, welche
Folgen diese Initiative bei einer
Annahme für unseren Service public und damit für Land und Leute
hätte. Im folgenden Interview legt
er dar, warum er für eine Ablehnung dieser Initiative ist.
Zeitgeschehen im Fokus: Wie beurteilen Sie die Initiative?
Thomas Egger: Die Initiative
«Pro Service Public» bedeutet entgegen dem irreführenden Titel
keine Stärkung des Service public.
Wenn die Initiative angenommen
würde, dann wird unser heutiges,
bewährtes System der Grundversorgung zusammenbrechen.
Warum?
Ich bin sehr viel im Ausland unterwegs, gerade im Zusammenhang mit diesem Thema und
konnte so gut die Entwicklungen
in der EU beobachten. Die EU hat
im Bereich des Service public eine
riesige Liberalisierungs- und Privatisierungswelle hinter sich. In der
Schweiz wurden seit 1996 ebenfalls Reformen durchgeführt und
* Thomas Egger hat in Zürich Geographie
und Politikwissenschaften studiert. Seit 2002
ist er Direktor der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete (SAB).
in deren Zuge die damalige PTT
aufgelöst und der Bahnbereich reformiert. Durch diese, den helvetischen Verhältnissen angepassten
Reformen ist es gelungen, die
Grundversorgung zu retten und
langfristig zu sichern.
Wie konnte die Schweiz das machen?
Sie ist ihren eigenen Weg gegangen und hat nicht irgendwelche EU-Normen übernommen.
Deswegen haben wir im Vergleich
zu anderen Ländern eine ausgezeichnete Gesetzgebung, was die
Grundversorgung anbelangt.
Wo kann man das heute erkennen?
Im öffentlichen Verkehr ist die
Schweiz das einzige Land in Europa, in dem es eine Bestimmung zur
Grundversorgung gibt, die besagt,
dass jede Ortschaft mit mindestens
100 Einwohnern erschlossen sein
muss. Das lässt sich die Schweiz
auch etwas kosten. Der gesamte
Regionalverkehr kostet mehrere
Milliarden Franken im Jahr. Das ist
ein Zeichen der Solidarität, des nationalen Zusammenhalts und des
politischen Willens, dass man allen
Landesgegenden die gleichen Voraussetzungen geben will. Das gelbe Postauto, das bis ins hinterste
Alpental fährt, ist ein Sinnbild für
diesen nationalen Zusammenhalt.
Wenn Sie gerade das gelbe
Postauto erwähnen. Wie steht es
bei der Post mit der Grundversorgung?
Auch gibt es hier kein Land in
Europa, das so ein dichtes Netz an
Zugangspunkten hat wie die
Schweiz.
Thomas Egger (Bild zvg)
Veränderungen. Man hat zum Beispiel Poststellen umgewandelt in
sogenannte Agenturen. Aber die
Zahl der Zugangspunkte blieb immer bei 3600.
Es wurden aber Poststellen geschlossen.
Das ist zum Teil eine Reaktion
auf das Kundenverhalten, zum Teil
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TTIP – «Die Welt soll global, zentralistisch und per Dekret geführt werden»
von Reinhard Koradi
auf die BRICS-Staaten über
von Paul Craig Roberts
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«Wir müssen in der Lage sein, unser
einmaliges Land selbst und selbstbestimmt zu verteidigen»
Interview mit Gotthard Frick
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Internationaler Tag gegen Malaria
in Bern
Interview mit Professor Marcel Tanner
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Sudan: Wir brauchen jetzt Wasser
von Daniela Mathis und Caspar Martig
Warum sprechen Sie von Zugangspunkten?
Das mache ich bewusst, denn
innerhalb des Netzes gab es schon
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Unterricht lebt hauptsächlich von
der Persönlichkeit des Lehrers
von Judith Schlenker
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Zeitgeschehen im Fokus Nr. 4 | 13. Mai 2016
das auf Grund der rasanten techNatürlich ist das im Einzelfall pronologischen Entwicklung keinen blematisch, aber was wir im GeSinn mehr. Dafür sprechen wir gensatz zu anderen Staaten haben,
heute in der Schweiz von Breit- ist die im Gesetz festgeschriebene
bandinternet. Die Schweiz hat lan- gesicherte Grundversorgung, auch
ge als einziges Land in Europa das mit Zugangspunkten zu den PostInternet in der Grundversorgung dienstleistungen. In kleinen Gefestgeschrieben. Inzwischen ha- meinden ist die Postagentur zudem
ben
einzelne
oft sinnvoller,
«Die Schweiz ist ihren eige- weil sie den
Länder in Europa
ebenfalls nen Weg gegangen und hat ganzen Tag genicht irgendwelche EU-Nor- öffnet hat, als
nachgezogen.
Finnland zum
eine Poststelle,
men übernommen.»
Beispiel. Sie gadie nur zwirantieren ein Megabit. Die Schweiz schen 9 und 10 Uhr am Morgen
garantiert heute zwei Megabit und am Nachmittag von 5 bis 6 Uhr
Downloadkapazität. Das heisst, offen hat. Die Leistung ist entscheijede Haushaltung und jede Unter- dend. Die Post muss sich an das
nehmung, egal wo sie sich in der Kundenverhalten anpassen. Das
Schweiz befindet, hat Anrecht auf gleiche gilt für die Bahn. Die Mobidiese Downloadkapazität.
litätsnachfrage ist enorm gestiegen, und darauf muss die Bahn reaWie ist das auf der EU-Ebene?
gieren. Von 2004 bis 2014 ist das
Es gibt keine derartigen Bestim- Transportvolumen in PersonenkiloWie wird das finanziert?
mungen. Es gibt einzelne Länder, metern um 60 Prozent gestiegen.
Unter anderem durch das Brief- die das übernommen haben, aber Und das kostet Geld. Hier haben
monopol, in dem man der Post das die Schweiz ist nach wie vor vor- wir das Problem mit der Initiative
exklusive
Recht,
Briefe
bis bildlich. Wir haben dafür eine sek- «Pro Service Public», die verbietet,
50 Gramm zu befördern, zuge- torspezifische Regulierung, die dass die SBB nach Gewinn strebt
steht. Die EU hat 2012 das Brief- rein theoretisch vorsieht, dass die und quersubventioniert.
monopol überSwisscom als In«Ein gut funktionierendes
all vollständig
haberin
der Was heisst denn nach Gewinn strea u f g e h o b e n , und für Europa vorbildliches G r u n d v e r s o r - ben?
den Briefmarkt
gungskonzessiDie Initianten sagen, man könSystem würde grundlos
völlig liberalion eine Abgel- ne schon Gewinn erzielen und diezerstört.»
siert mit der
tung für die sen in die Unternehmung investieKonsequenz, dass es einen massi- Sicherstellung der Grundversor- ren. Aber das steht nirgends im
ven Abbau von Poststellen gege- gung vom Bund einfordern könn- Initiativtext – und dieser alleine ist
ben hat, die nicht ersetzt worden te. Sie verzichtet aber darauf, weil für die Umsetzung entscheidend.
sind. Darum haben wir uns in der sie Gewinn erwirtschaftet und den Das Problem sehe ich darin, dass
Schweiz auch vehement für die Gewinn in den Breitbandausbau ein Unternehmen, das nicht mehr
Aufrechterhaltung des Restmono- und für die Sicherstellung der nach Gewinn streben darf, auch
pols von 50 Gramm eingesetzt.
Grundversorgung investiert. Wir keinen Gewinn mehr erzielen
haben also, was das anbetrifft, wird. Das Innovationsverhalten
Wie sieht es bei der Telekommuni- ausgezeichnete
Rahmenbedin- der Unternehmen wird geringer
kation aus?
gungen in der Schweiz, und diese sein. Und stellen Sie sich vor, was
Als man 1997 mit der Trennung dürfen wir nicht aufs Spiel setzen. ein Verbot nach Gewinnstreben
des Kommunikationsbereichs von
für ein börsenkotiertes Unternehder PTT begonnen hat, war der Fax Was sagen Sie dazu, dass immer men wie die Swisscom bedeutet!
noch in der Grundversorgung. Das wieder Poststellen geschlossen Der Wert der Swisscom-Aktie wird
war damals sinnvoll. Heute macht werden?
ins bodenlose sausen, Dividenden
Fortsetzung von Seite 1
aber auch auf neue technologische
Entwicklungen. Die Kunden steuern durch ihr Verhalten das Angebot an Grundversorgungsleistungen mit. Wenn wir immer häufiger
von elektronischen Postdienstleistungen (Stichwort E-Mail) und vom
elektronischen
Zahlungsverkehr
Gebrauch machen, gehen die Frequenzen an den Schaltern zurück.
Ein Beispiel: das Volumen von Briefen, die an den Schaltern aufgegeben werden, ist seit 2000 um 64%
eingebrochen. Die herkömmlichen
Poststellen werden stark defizitär.
Wichtig ist aber, dass die Zugangspunkte aufrechterhalten bleiben.
Und das ist etwas, was im Postgesetz festgeschrieben ist. Die Post
muss das Netz aufrechterhalten.
An dieser Bestimmung hat die SAB
mitgearbeitet.
Impressum
Zeitgeschehen im Fokus
Erscheinung: 18mal jährlich
Herausgeber: Verein «Zeitgeschehen im Fokus» | Postfach | 8305 Dietlikon
Redaktion: Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger (hhg), Thomas Kaiser (thk), Reinhard Koradi (rk)
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Zeitgeschehen im Fokus Nr. 4 | 13. Mai 2016
«Das gelbe Postauto, das bis ins hinterste Alpental fährt, ist ein Sinnbild für diesen nationalen Zusammenhalt.» (Bild ak)
werden sicher auch keine mehr
ausgeschüttet. Leidtragende sind
der Bund mit seiner Aktienmehrheit ebenso wie alle anderen Inhaber von Swisscom-Aktien.
Ein Aspekt darin sind die Löhne des
Managements.
Die Initianten behaupten, die
Löhne der CEOs seien aus ihrer
Sicht viel zu hoch. Mit diesem vordergründig populären Argument
streuen sie den Stimmbürgern
Sand in die Augen. Denn die Höhe
der Löhne der CEOs haben rein gar
nichts mit der Grundversorgung zu
tun. Zudem heisst es im Text der Initiative unmissverständlich, dass die
Löhne aller Angestellten an das Niveau der Bundesverwaltung angepasst werden müssen, von den
CEOs steht kein Wort. Dies ist ein
typisches Beispiel, wie schlecht formuliert und irreführend die Initiative ist. Der Initiativtext betrifft alle
Angestellten. Die Rekrutierung beispielsweise von IT-Spezialisten
wäre massiv erschwert. Das Lohngefüge der drei Unternehmen
müsste angepasst, die Gesamtarbeitsverträge neu verhandelt werden, die heute über 4 000 Lehrstellen müssten vermutlich reduziert
werden usw. Darum sind alle Gewerkschaften von «transfair» und
«Travail suisse» bis zum Gewerkschaftsbund dagegen, auch alle
Parteien von links bis rechts lehnen
diese Initiative ab.
Gehen wir einmal davon aus, die
Initiative hat Erfolg, denn der falsch
informierte Bürger, der nicht hinter kehr müsste eventuell in eine Art
das Ganze schauen kann, wird «Regionalbahn AG» umgewandelt
spontan einer Stärkung des Service werden. Diese neue AG könnte
public zustimmen.
nicht mehr von den Erträgen aus
Der bisher in der öffentlichen dem gewinnbringenden FernverDiskussion noch wenig beachtete kehr oder Immobiliengeschäft der
Absatz 3 der Initiative verpflichtet SBB profitieren (z. B. zur Sanierung
den Gesetzgeber, die Grundversor- der Pensionskasse). Was das begungsleistungen von den übrigen deutet, können wir in England exLeistungen der
emplarisch se«Die Schweiz hat lange als
Unternehmen
hen, wo der
einziges Land in Europa das Regionalverkehr
abzugrenzen.
Das kann im Ex- Internet in der Grundversor- in Folge der Litremfall dazu
beralisierungsgung festgeschrieben.»
führen, dass der
welle verlottert
Regionalverkehr aus der SBB in eine und praktisch keine Bedeutung
eigenständige AG ausgelagert mehr hat.
wird. Das gleiche gilt für den
Die Initiative sorgt letztlich daGrundversorgungsbereich bei der für, dass kein Geld mehr vorhanden
Swisscom und für das Poststellen- sein wird, um die defizitären Leinetz. Gemäss Absatz 2 der Initiative stungen für eine Grundversordürfen keine Querfinanzierungen gung mit den Gewinnen aus den
mehr vorgenommen werden. Die lukrativeren Geschäften zu finanWirkungen kann man exempla- zieren. Damit ist das Ende der
risch bei der Swisscom aufzeigen. Grundversorgung und unseres
Dann müsste der Steuerzahler für einzigartigen Service public eingedie Grundversorgung aufkommen, läutet. Ich hoffe im Interesse unsedie heute von der Swisscom gratis res Landes nicht, dass diese Enterbracht wird. Ein gut funktionie- wicklung jemals eintritt. Sollte die
rendes und für Europa vorbildliches Initiative aber angenommen werSystem würde grundlos zerstört.
den, drohen uns auf jeden Fall
ewig lange Streitigkeiten über die
Wie sieht das bei der Finanzierung Interpretation dieses nicht durchder Poststellen aus?
dachten Textes, die für die GrundKatastrophal, denn auch hier versorgung sicher nicht förderlich
würde das Poststellennetz vermut- sind. Deshalb ist diese Initiative
lich in eine hoch defizitäre eigen- klar abzulehnen.
ständige Unternehmung ausgelagert und damit das Poststellennetz Herr Egger, ich danke Ihnen für dieüber kurz oder lang massiv ausge- ses Gespräch.
dünnt. Auch bei der Bahn wäre das
verheerend, denn der RegionalverInterview Thomas Kaiser