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Kritische Analysen und Kommentare zu Wirtschaft und Politik
Journalistischer Renten-Mischmasch – oder wie man ein
wichtiges Thema mit Vorurteilen erledigt, obwohl die
Lösung auf der Hand liegt
Heiner Flassbeck · Donnerstag den 12. Mai 2016
Kein Thema ist derzeit unter Deutschlands Wirtschaftsjournalisten so beliebt wie die
Rente. In der Süddeutschen darf sich deren Oberanalytiker Nikolaus Piper
nebelwerfend äußern (hier), in der FAZ beweist Dietrich Creutzburg, dass er nicht
weiß, dass sich Produktivität auf das gesamtwirtschaftliche Einkommen bezieht (also
auch für alle da sein kann) (hier) und in der Frankfurter Rundschau greift Daniel
Baumann zwar richtigerweise einige Rentenmythen auf, aber das eigentliche Thema
wird auch von ihm verpasst, weil er sich nicht vollständig von der Neoklassik lösen
kann (hier).
Nikolaus Piper (den man auch den „freien Piper“ nennt, weil er kürzlich nachgewiesen
hat, dass er frei von jeder gesamtwirtschaftlichen Ahnung ist, hier zu finden) hat jetzt
immerhin einen Teil dessen verstanden, was man seit etwa 80 Jahren hätte verstehen
können, wenn man weniger Friedrich August von Hayek zugehört und sich mehr
Gedanken über gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge gemacht hätte. Er schreibt,
man höre und staune: „Jede Rentnergeneration muss von der jeweils aktiven
Generation unterhalten werden, ganz unabhängig davon, wie die Altersversorgung
organisiert ist. Der Zusammenhang ist eigentlich einfach, wird aber oft vergessen. …
Wenn man dies vergisst, dann kommen Aussagen zustande wie die von Frank Bsirske.
Der Verdi-Chef forderte, dass das Rentenniveau wieder erhöht wird – „in Richtung 50
Prozent“ der Einkommen (heute: 47,5 Prozent). Bsirske betreibt damit Politik zulasten
der ganz Jungen, denn die müssen die höheren Renten der heute Berufstätigen dann
einmal aufbringen.“
Richtig ist, dass man den Zusammenhang im Zuge der neoliberalen Konterrevolution
„vergessen“ hatte und deswegen einen Unsinn namens Riester-Rente geschaffen hat.
Doch ein wenig verstanden ist noch nicht ganz verstanden. Denn warum sollte man
das Rentenniveau nicht erhöhen, wenn jede Rentengeneration von der jeweiligen
aktiven Generation unterhalten wird? Was spräche dagegen, wenn Frank Bsirske
explizit gesagt hätte, dass in zwanzig Jahren die Jungen mehr zahlen sollen als heute?
Dass Piper noch einige Jahre brauchen wird, bevor auch die letzten Reste seines
„freien Gehirns“ von makroökonomischer Logik durchdrungen sind, beweist dann
auch seine Schlussfolgerung: „Die Rentenbeiträge müssen begrenzt werden, auch
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damit die Jungen privat vorsorgen können. Die Riester-Rente mag zu kompliziert und
zu teuer sein, der Gedanke der privaten Vorsorge ist richtig. Die Probleme der Rente
entschärfen sich entscheidend, wenn alle über Vermögen verfügen, selbst wenn es
klein ist. Und bei Kleinverdienern kann der Staat helfen. Deutschland ist ein reiches
Land. Es kann seine Probleme mit der Rente lösen.“
Da geht dann doch einiges durcheinander. Denn wie kann der Gedanke der privaten
Vorsorge richtig sein, weil die zukünftigen Rentnergenerationen von den zukünftig
Jungen unterhalten werden müssen, wenn gleichzeitig die Zinsen Null sind und die
Frage vollkommen offen bleibt, wer sich denn heute zusätzlich verschuldet, damit es
in der Zukunft überhaupt noch Ersparnisse gibt? Worum es wirklich geht, gibt der
„freie Piper“ aber dann doch mit seinen wunderlichen Argumentationsgebräu preis:
Die Rentenbeiträge müssen begrenzt werden!
Hier liegt der Knackpunkt der ganzen Diskussion. Die meisten haben inzwischen
begriffen, dass das mit der Kapitaldeckung nicht so einfach ist, dass Altersarmut
droht, sie wissen aber nicht (oder wollen es nicht wahrhaben), wie man mit der
Demographie umgehen soll. Für die FAZ ist es natürlich klar, dass die Beiträge zur
Rentenversicherung nicht steigen dürfen, weil das „Arbeitsplätze kostet“. Die vielen
Milliarden, die eine Beitragserhöhung koste, könnten ja nicht aus dem
Produktivitätsfortschritt kommen, weil der ja schon anderweitig „verbraucht“ werde.
Auch der Autor der FR, obwohl um Offenheit und Relativierung bemüht, bringt
halbherzig ein paar Gegenargumente, zitiert zum Schluss des Artikels und in
offenkundiger Hilflosigkeit jedoch explizit eine „Studie“ des DIW, die beziffert, dass
ein Prozentpunkt Beitragserhöhung (also eine „Erhöhung der Lohnnebenkosten“)
einige zehntausend Arbeitsplätze gefährden könnte.
Warum die Dinge so kompliziert machen, wenn es doch im Grunde ganz einfach ist?
Zunächst muss man zur Kenntnis nehmen, dass jeder Versuch, die deutschen
Ersparnisse noch stärker zu erhöhen, scheitern muss. Die Ersparnisse erhöhen zu
wollen, um für die Zukunft vorzusorgen, ist ohnehin absurd, weil höhere Ersparnisse
weniger Investitionen bedeuten und nicht mehr. Noch schlimmer aber: Bei der
derzeitigen deutschen Politik kommt immer nur das Ausland als Gegenposten (als
Schuldner also) in Frage. Damit aber werden die deutschen Netto-Ersparnisse (und
zwar die vorhandenen und die künftigen) noch weiter in ihrem Bestand gefährdet,
weil sich die Lage der Schuldner zusätzlich verschlechtert und ihre Bereitschaft,
dereinst die deutschen Forderungen zu begleichen, noch weiter sinkt.
Die Abbildung zeigt die absurde Situation bei den Netto-Ersparnissen und der NettoVerschuldung: Nur das Ausland ist Netto-Schuldner. Das heißt, Deutschland macht
durch seine merkantilistische Politik von vorneherein jeden Versuch, durch mehr
Investitionen für die Zukunft vorzusorgen, zunichte, weil die ganze Wirtschaft darauf
ausgerichtet ist, dem Ausland Anreize zu geben, deutsche Produkte auf Pump zu
kaufen. Das hat natürlich mit Investitionstätigkeit nichts zu tun und selbst
Neoklassiker müssten zugestehen, dass mehr davon national wie international nur
schädlich sein kann.
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Folglich gibt es weder Kapitaldeckung noch private Vorsorge in einem
gesamtwirtschaftlichen Maßstab. Wenn Altersarmut droht, müssen die Renten in der
Zukunft schlicht auf der Basis des Generationenvertrags wieder erhöht werden. Das
kann zum Beispiel dadurch geschehen, dass die jährliche Erhöhung der Renten in der
Weise an die Lohnentwicklung gekoppelt wird, dass das Rentenniveau (also das
Verhältnis von Durchschnittsrente zu Durchschnittslohn) von nun an wieder ansteigt.
Folglich müssen die Renten stärker steigen als die Löhne.
Das heißt natürlich, dass einerseits die Beiträge für Arbeitnehmer und Arbeitgeber an
die Rentenversicherung steigen, andererseits kann es auch heißen, dass der Staat der
Rentenversicherung über kreditfinanzierte Zuschüsse (die der Staat ja zu einem
Nullzins aufnehmen kann) unter die Arme greift oder aber man macht eine Mischung
aus beidem.
Wo liegt nun das Problem? Es gibt kein Problem, im Gegenteil, es gibt eine win-wi-Situation, wie das in neudeutsch heißt. Ich hatte ja schon in meiner Serie über die
Lohnentwicklung festgestellt, dass Deutschland dringend stärkere Lohnsteigerungen
braucht. Es gelingt den Gewerkschaften ja offenbar nicht, den Sprung in der
Lohnentwicklung nach oben zu vollziehen, der notwendig ist, um die Deflation zu
beenden und die europäischen Leistungsbilanzungleichgewichte abzubauen. Diesen
Sprung kann nun der Staat sehr leicht und einfach unterstützen, indem er dafür sorgt,
dass die Lohnnebenkosten, die ja nichts anderes als Lohnkosten sind, von nun an
jedes Jahr steigen. Je nachdem, wie schnell die Anhebung des Rentenniveaus
vonstatten gehen soll, kann man 0,1 Prozent pro Jahr wählen oder 0,5 Prozent, auf
jeden Fall so viel, dass eine spürbar stärkere Anhebung der Renten möglich ist.
Bei der gewaltigen Lohnlücke, die es in Deutschland gibt (siehe hier), hat der Staat
jeden Spielraum der Welt, um die Renten wieder auf einen vernünftigen, den
Lebensstandard sichernden Stand zu bringen. Was spricht dagegen? Gar nichts, außer
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lächerlichen neoklassischen Modellen, in denen jede Lohnerhöhung „Arbeitsplätze“
kostet, weil sie so aufgebaut sind, dass genau das herauskommen muss. Mein Modell
ist sogar multi-win, weil sich, erstens, die Verteilungssituation zwischen Arbeit und
Kapital verbessert, was alle die erfreut, die wachsende Ungleichheit beklagen.
Zweitens wird Altersarmut verhindert. Drittens wird die europäische Deflation
wirksam bekämpft. Viertens trägt die deutsche Kostenerhöhung dazu bei, die
europäischen Handelsungleichgewichte zu reduzieren. Fünftens wird die
Beschäftigung gefördert, weil die Beiträge der Arbeitgeber (die bisher auf den
Kapitalmärkten der Welt Anlage suchten) auf dem Binnenmarkt nachfragewirksam
werden, sobald die Rentner in den Genuss höherer Renten kommen.
Aber die Abgabenquote, höre ich an der Stelle viele stöhnen, die steigt doch. Ja die
steigt, aber wo ist das Problem? Ist es gottgegeben, dass in Deutschland die
Abgabenquote nicht steigen darf? Wann hätte sich je ein Gott mit so einem Zeug
abgegeben? Die Tatsache, dass sich unsere Spitzenpolitiker seit Jahrzehnten von der
Arbeitgeberpropaganda einschüchtern lassen, heißt doch nicht, dass sich die ganze
Gesellschaft davon ins Bockshorn jagen lassen muss. Die Politik hat sich – in
Deutschland in ganz besonderer Weise – von allen Seiten mit Arbeitgeber-Tabus
einmauern lassen: niemals mehr höhere Unternehmenssteuern, keine Erhöhung der
Lohnnebenkosten, keine öffentlichen Schulden, keine Vermögenssteuer und – als
Krönung des Ganzen – kein staatliches Klagen über schwache private Investitionen.
Spätestens jetzt müssten linke Parteien auf den Plan treten (oder solche, die es
werden wollen), um die Möglichkeiten, die in dieser Konstellation stecken, zu nutzen.
Doch vermutlich sind auch wirklich linke Parteien von den Arbeitgebern längst zum
Tabu erklärt worden, so dass wir noch hundert Jahre warten müssen, bis selbst das
Naheliegende geschieht.
Dieser Beitrag wurde publiziert am Donnerstag den 12. Mai 2016 um 08:00
in der Kategorie: Allgemeine Politik, Arbeitsmarkt und Verteilung, Finanzmärkte,
Wirtschaftspolitik.
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