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Kritische Analysen und Kommentare zu Wirtschaft und Politik
Löhne und Preise in Deutschland – oder warum Europa der
Deflation auch in zwanzig Jahren nicht entkommen kann –
Teil 3
Heiner Flassbeck · Freitag den 29. April 2016
In der ganzen Diskussion um Löhne und Lohnverhandlungen wird üblicherweise die
Produktivität als gegeben angenommen. Die Produktivität fällt sozusagen vom
Himmel. Sie wird als Ergebnis des technischen Fortschritts angesehen und der, so die
übliche Sichtweise, hat nichts mit der Lohndynamik oder der gesamtwirtschaftlichen
Dynamik zu tun. Das ist mehr als fragwürdig.
In einem marktwirtschaftlichen System fällt nichts vom Himmel, sondern alles ist
Ergebnis der wirtschaftlichen Dynamik, die ihrerseits von der Wirtschaftspolitik
einschließlich der Lohnpolitik stark geprägt wird. Insbesondere die
Investitionstätigkeit, die der wichtigste Träger des technischen Fortschritts ist, ist
abhängig von der Dynamik der Gesamtwirtschaft und von dem Druck, den der
Wettbewerb für jedes einzelne Unternehmen schafft.
Wenn wir von Produktivität sprechen, dann sprechen wir hier von der Produktivität
der Arbeitskraft oder Arbeitsproduktivität. Im Gegensatz zu dem, was die
neoklassische Kapitaltheorie behauptet, liegt hier die entscheidende Größe, die über
Erfolg oder Misserfolg von wirtschaftlicher Entwicklung entscheidet. Und es kann
kein Zweifel daran bestehen, dass die Entlohnung der Arbeit darüber entscheidet, wie
groß die Anstrengungen der Unternehmen sind, um Arbeit durch Kapital zu ersetzen.
Und das, machen wir uns nichts vor, ist genau das, was die Menschheit voran bringt.
Ja, die ganze Geschichte der Industrialisierung ist gekennzeichnet davon, dass die
Menschen versucht haben, Dinge effizienter und mit weniger Mühsal für den
Menschen herzustellen. Steigen die Löhne kräftig und für alle Unternehmen in
gleichem Maße, ist das zentrale Bestreben, das die Unternehmen antreibt, der
Versuch, über Rationalisierungsprozesse Kosten zu sparen und mit weniger
Arbeitskräften auszukommen. Das führt aber nicht, auch das habe ich dort gezeigt,
wie die Neoklassik vermutet, zu Arbeitslosigkeit bei gegebenen Einkommen, sondern
zu steigendem Einkommen bei gegebener Beschäftigung.
Dieser Prozess läuft auf der mikroökonomischen Ebene in der Weise ab, dass alle
Unternehmen gezwungen sind, sich an eine bestimmte Lohnerhöhung anzupassen,
ganz gleich, wie hoch ihr individueller Produktivitätsfortschritt ist. Ist der allgemeine
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Lohn durch die durchschnittliche Produktivitätszunahme und das Inflationsziel
vorgegeben, müssen die Unternehmen die Kostenbelastung entweder durch eigene
Produktivitätsanstrengungen ausgleichen oder die Preise erhöhen, wenn sie ersteres
nicht können. Dienstleistungsbetriebe oder der öffentliche Dienst, die ein weit
geringeres Potential haben, um die Produktivität zu erhöhen, sind ständig gezwungen,
die Preise den steigenden Kosten anzupassen. Industriebranchen, die besonders
produktiv sind, sind dagegen in der Lage, die Preise zu senken, weil ihr
Produktivitätszuwachs deutlich über dem des Durchschnitts der Volkwirtschaft liegt.
Ein Unternehmen, das im Wettbewerb mit anderen Unternehmen in der gleichen
Branche steht, versucht unter diesen Umständen, produktiver als seine Konkurrenten
zu sein, um sich Vorsprünge im Wettbewerb zu erarbeiten. Das ist die Art von
konstruktivem unternehmerischem Wettbewerb, den Joseph Schumpeter vor hundert
Jahren als charakteristisch für den Erfolg des Kapitalismus beschrieben hat.
Genau diesen für den Erfolg der wirtschaftlichen Entwicklung absolut notwendigen
Prozess hat man in Deutschland mit der „Arbeitsmarktflexibilisierung“ zu Beginn
dieses Jahrhunderts weitgehend eliminiert. Aber auch im Rest der Welt wurde das,
was die Gewerkschaften in Deutschland einst die „Produktivitätspeitsche“ genannt
hatten, mehr und mehr abgeschwächt. Wenn die allgemeine Lohnerhöhung die
Summe von Produktivitätszunahme und Inflationsziel für die Volkswirtschaft nicht
ausschöpft, sinkt für die Unternehmen der Anreiz, mehr zu investieren, weil sie ihre
Kapazitäten systematisch nicht voll auslasten können.
Noch schlimmer war es, das Instrument zu demolieren, das in Deutschland in der
Vergangenheit ganz besonders erfolgreich gemacht hatte. Der Flächentarifvertrag,
also die Lohnerhöhung unabhängig von Branche und Art des Betriebes, war lange Zeit
das, was Deutschland gegenüber anderen Ländern eine besonders gute
Produktivitätsentwicklung beschert hatte. Den Flächentarifvertrag aufzuweichen und
„individuelle“ Lösungen für Betriebe in Abhängigkeit von ihrer wirtschaftlichen
Situation zuzulassen, wie das die Rot-Grüne Regierung unter Gerhard Schröder
durchsetzte, war ein absurder und fataler Verstoß gegen die Regeln, die eine
erfolgreiche Marktwirtschaft kennzeichnen.
Unternehmen, die die allgemeine Produktivitätsvorgabe nicht einhalten können oder
nicht in der Lage sind, ihre Preise so stark wie ihre Konkurrenten zu erhöhen (weil die
Qualität ihres Angebots zum Beispiel nicht ausreichend gut ist), sich aber dadurch im
Wettbewerb behaupten können, dass sie erfolgreich mit ihren Arbeitnehmern über
Lohnzugeständnisse verhandeln, ist das Ende der normalen Marktwirtschaft. Das
bedeutet nämlich nichts anderes als die massenhafte Subventionierung solcher
Unternehmen durch die Arbeitnehmer.
Wie ich in der Serie über die Automatisierung im Januar gezeigt habe, hat die gesamte
Konstellation von Kosten und Nachfrage in der neoliberalen Welt dazu geführt, dass
die Unternehmen hohe Gewinne machen können, ohne wirklich kräftig zu investieren.
Wie anders soll man interpretieren, dass die Investitionsquoten (siehe die Abbildung
aus diesem Beitrag) fast in der gesamten westlichen Welt tendenziell sinken, obwohl
die Wirtschaftspolitik alles für die Unternehmen tut, was man sich neoklassisch
vorstellen kann.
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Daraus folgt, dass die Lohnpolitik mittelbar und unmittelbar Einfluss auf die
Produktivitätsentwicklung hat. Alles, was Deutschland in den vergangenen zwanzig
Jahren in Sachen „Lohnflexibilität“ getan hat, war geeignet, den
Produktivitätsfortschritt abzuschwächen. Nimmt man das zur Kenntnis und will etwas
dagegen tun, ist es unangemessen, in die Lohnformel die aktuelle Produktivitätsrate
aufzunehmen. Vielmehr muss man zurückgehen zu einer Produktivitätsrate wie sie
vorherrschte, als es noch normale Lohnverhältnisse gab.
Würde man nur, wie das in der folgenden Abbildung getan ist, die Lohnformel
ausrichten an der Rate von 1,5 Prozent für die Produktivität und die Zielinflationsrate
(die graue Kurve), kommt man für Deutschland auf 3,4 Prozent als die Norm, die für
Lohnsteigerungen gelten müsste, wenn es keine Eurokrise gäbe.
Da Deutschland aber weit unter der grauen Kurve liegt, gibt es einen Nachholbedarf
für den Fall, dass man andauernde europäische Deflation und einen Zerfall der EWU
verhindern will. Folglich müssten die deutschen Nominallöhne für viele Jahre
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mindestens um 4,5 Prozent steigen, will man ein solches Horrorszenario (vor allem für
deutsche Arbeitsplätze) ausschließen. Daran gemessen, ist jeder Vorschlag (oder auch
jede unkommentierte Prognose, die eine solche Rate unterstellt), in der
Größenordnung von zwei Prozent zu bleiben, unverantwortlich.
Dass die deutschen Arbeitgeber einschließlich der öffentlichen Hände sich offenbar
entschlossen haben, ein Exempel zu statuieren und die Schwäche (bzw. in manchen
Fällen den vorauseilenden Gehorsam) der Gewerkschaften auszunutzen, ist ein
schlimmes Signal. Es zeigt, dass Deutschland bereit ist, mit großer Brutalität, seine
merkantilistische Politik fortzusetzen und den Zusammenbruch der Europäischen
Währungsunion dabei in Kauf zu nehmen.
Dieser Beitrag wurde publiziert am Freitag den 29. April 2016 um 04:00
in der Kategorie: Arbeitsmarkt und Verteilung, Europa, Wirtschaftspolitik.
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