Die Dissoziation des Individuums und der Schrecken der

www.sascha-brehm.de
Die Dissoziation des Individuums und der Schrecken der Unendlichkeit in Franz
Kafkas Werken
Contributed by Sascha Brehm
Während der Lektüre Kafkas drängen sich Begriffe auf wie grotesk, skurril ja sogar surreal. Je weiter man in die von
Kafka erschaffene Welt eindringt, desto mehr entwickelt sich zwar die Handlung und es offenbart sich der Konnex, der
sich um den Protagonisten spinnt. Jedoch scheint etwas zu fehlen, das man erst später benennen kann. Es ist die Tiefe
der Charaktere, die Kafka vermissen läßt, indem nur die notwendigen Informationen dargeboten werden. Eine tiefe
Beschreibung der Personen zum Selbstzweck ist demnach nicht Kafkas Intention. Weiterhin entwickelt sich die Handlung
oft nicht zielstrebig; statt dessen gewinnt man den Eindruck emphatisch erzählter Episoden, wenngleich diese auch in
einer Einheit verbunden sind. So werden Bilder, Stimmungen und Gefühle in dem Leser erzeugt, welche die Erzählung
vielmehr als prosaische Lyrik erscheinen lassen. Welche Empfindungen sind es nun, die ich hier meine?
Primär stellt sich eine gewisse Bedrückung und Beklemmung ein, da der Protagonist sich einem undurchdringlichen,
undurchschaubaren und anonymen Gebilde gegenüber sieht. Sei es nun eine Behörde, ein Gericht oder ein
persönliches Schicksal. In "Der Proceß" versucht der Protagonist einem Gericht und den Konsequenzen einer etwaigen
Verurteilung zu entgehen. Die Frage der Schuld und des Verbrechens tritt immer mehr in den Hintergrund, und der
ermüdende Kampf gegen den Prozeß verzweigt sich in das Wahrnehmen dubioser Hilfestellungen von Personen,
welche nicht unmittelbar der Gerichtsbarkeit oder noch nicht einmal der Jurisprudenz zugehörig sind. Diametral dazu
sucht der Protagonist in "Das Schloß" den Zugang zu den gräflichen Behörden im Schloß. Wieder stellt sich die
Undurchdringlichkeit und Anonymität der Behörde als unüberwindliche Hürde dar, die zu erklimmen wiederum mittels
dubioser Kontakte versucht wird.
Zentrales Element dieser Romane ist die Ohnmacht des Individuums. Es bleibt nun noch zu klären, worauf sich diese
bezieht. Die Behörde oder das Gericht per se und nicht symbolisch zu verstehen, wäre eine Reduktion auf eine
Trivialität. Vielmehr kommt die Befremdung, Anonymität und Ohnmacht des Individuums gegenüber der modernen
Massen-Gesellschaft zum Ausdruck, die schließlich zur Dissoziation und Reduktion des Menschen führt. Dieser wird
nur noch als Fall, oder in seiner Funktion betrachtet.
In dem Roman "Der Verschollene" sieht sich der Protagonist nun nicht einer Behörde oder Organisation gegenüber,
vielmehr scheitert die Hauptfigur in den USA an dem Stolz, den Ãœberzeugungen und Anforderungen der Personen, mit
denen ein Kontakt zu Stande kommt. Aber das Motiv der Ohnmacht und dem Nichtverstehen komplexer Strukturen ist
auch in diesem Roman gegeben, wenngleich sich dies eher auf die Beziehung zu einzelnen Persönlichkeiten und der
Moral eines Landes bezieht.
"Die Verwandlung" thematisiert nun nicht den Kampf des Individuums gegen einen übermächtigen Apparat, sondern
ein unerhörtes Schicksal einer körperlichen Veränderung. Diese lässt nun den Protagonisten nicht mehr seinen Beruf
ausüben, sondern offenbart ihn als ein widerwärtiges nutzloses Untier. Jedoch stellt sich die Frage, inwiefern die
Verwandlung nicht nur der ohnehin existenten Sinnlosigkeit des Daseins des Protagonisten äußerlichen Ausdruck
verleiht. Das Agens hinter der Ausübung des Berufes war nur die vermeintliche Unfähigkeit der Familie sich selbst zu
versorgen, welche sich als falsch herausstellt. Somit hat die Verwandlung nichts an der Bedeutung des Daseins
verändert. Der Protagonist hatte keinerlei individuelle Identität, wodurch die neue körperliche Gestalt auch keine
Einschränkung dieser bedeutet. So wird auch die Frage nach dem Grund der Verwandlung oder der Möglichkeit zur
Wiederherstellung der alten Verhältnisse gänzlich ausgespart.
Das fortwährende Anlaufen gegen undurchdringliche Strukturen oder die untätige Akzeptanz des eigenen Schicksals
suggerieren das Bild des ohnmächtigen "auf-der-Stelle-Tretens". Diese alptraumhafte Unendlichkeit ist es eigentlich, die
im Leser die Bedrückung und Beklemmung hervorruft. Mathematik und Naturwissenschaft versuchen die Unendlichkeit
einzig durch Grenzwertbetrachtungen zu fassen. Jedoch hat schon Kurt Gödel - wohl unbestritten einer der
bedeutensten Theoretiker des 20. Jahrhundert - im Rahmen seines Unvollständigkeitssatzes die Unzulänglichkeit der auf
Georg Cantor zurückgehenden Mengenlehre zur Erklärung der Unendlichkeit gezeigt. Dies kommt auch in dem
bisherigen Fehlen eines Beweises der Kontinuumshypothese zum Ausdruck, welche David Hilbert im Jahre 1900 an
Platz eins seiner Liste von 23 wichtigsten und ungelösten Problemen der Mathematik setzte. Während also
mathematische Wissenschaften bisher die Unendlichkeit ihres wahren Charakters berauben und zum Werkzeug einer
Grenzwertbetrachtung herabsetzen, bedient sich Kafka der alptraumhaften Wirkung, die der Unendlichkeit inne wohnt,
um in seinen Werken Stimmungen zu erzeugen. Sollten Zweifel an dieser Wirkung bestehen, so braucht man sich nur
der quälenden Realität zu vergegenwärtigen, welche bei Erwachen zurückbleibt nach einem nächtlichen Traum von
einem Fall in das Bodenlose oder dem vergeblichen kataplektischen Versuch einer Flucht vor irgendeiner nicht genauer
spezifizierten Gefahr. Hierbei kann weder die unbekannte Gefahr noch der nie erfolgende Aufprall erschrecken, sondern
einzig und allein die Unendlichkeit selbst.
http://cms.sascha-brehm.de
Powered by Joomla!
Generated: 15 May, 2016, 23:56