Christoph Schäfer, Rüsselsheim hr 1-Zuspruch am Mittwoch, 11. Mai 2016 Von kleinen Engeln und kleinen Teufeln Der Songschreiber Tom Waits fasziniert mich immer wieder durch die Lebensweisheiten, die in seinen Texten aufblitzen: unverblümte und gleichzeitig rätselhafte Statements über Leben und Tod, Erfolg und Scheitern. Eine dieser Weisheiten lautet frei übersetzt: „Wenn ich alle kleinen Teufel, die in mir stecken, endgültig vertreibe, dann verlassen mich auch alle kleinen Engel in mir drin.“ Beim ersten Hören habe ich gedacht: Der Ausspruch kann ja nicht ernst gemeint sein. Weshalb sollten mich die positiven Lebensgeister verlassen, wenn ich endlich mal den inneren Schweinehund kaltgestellt habe? Könnte ich diese oder jene lästige Angewohnheit von mir endlich über Bord werfen, dann würde ich doch eindeutig ein „besseres“ Leben führen. Aber beim längeren Nachdenken fand ich den Gedanken nachvollziehbar: Vermutlich würde zumindest der ein oder andere Engel unwirsch mit den Flügeln schlagen, wenn ich mit brutaler Konsequenz Jagd auf wirklich alle kleinen Teufelchen in mir gehen würde. Denn ich habe mich plötzlich erinnert: Immer dann, wenn ich gleich ein ganzes Bündel schlechter Angewohnheiten besonders gründlich beseitigen wollte, wurde ich richtig unausstehlich – und ich habe mich einfach unglücklich gefühlt. Und mir kam der Gedanke: Anscheinend geht es gar nicht darum, alle Angewohnheits-Teufelchen ganz loszuwerden. Sondern darum, sie in Zaum zu halten. Ich lege nicht die Hand dafür ins Feuer, dass Tom Waits dies mit seiner SongtextZeile gemeint hat. Aber ich merke, wie inspirierend es ist, sich einen eigenen Reim auf solche faszinierenden Verse zu machen. Und ich spüre, dass ich folgende Vorstellung beruhigend finde: Dass Engel mich letztlich davor bewahren möchten, mich als „Möchtegern-Engel“ verbissen durch den Alltag zu kämpfen. Auf einmal fühle ich mich gleichzeitig gelassen und voller Tatendrang – eine vielversprechende Stimmung, wie ich finde. Und ich nehme mir in dieser Stimmung vor: Ich will meine Teufelchen zwar möglichst an der kurzen Leine halten, aber nicht wie ein wildgewordener Putzteufel auf sie losgehen. Zum Nachhören als Podcast http://www.hr-online.de/website/radio/hr1/index.jsp?rubrik=19034
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