Inhalt AUFSÄTZE Strafprozessrecht Zur Freiwilligkeit des abgesprochenen Geständnisses Von Prof. Dr. Aristomenis Tzannetis, Athen 281 Strafrecht Strafgrund, Wesen und Tathandlung der Anstiftung, § 26 StGB: Soziale Desintegration mittels doppeltpathologischen Diskurses – Teil 2 Von Wahrheit und Absurdität der Anstiftungsstrafbarkeit und deren Abgrenzung zur Täterschaft Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Oliver Harry Gerson, Passau 295 Der individuelle Schadenseinschlag beim Betrug Von Adriano Teixeira, LL.M., München 307 Europäisches Strafrecht Identitätsfeststellung und Vernehmung festgenommener Personen im Anschluss an grenzüberschreitende Nacheile im Schengen-Raum Von Dr. Michael Soiné, Berlin 319 BUCHREZENSIONEN Strafrecht Lutz Eidam, Der Organisationsgedanke im Strafrecht, 2015 (Akademischer Mitarbeiter Dr. Fabian Stam, Potsdam) 330 Alan Dershowitz, Taking the Stand, 2013 (Rechtsanwalt Jochen Thielmann, Wuppertal) 334 Zur Freiwilligkeit des abgesprochenen Geständnisses Von Prof. Dr. Aristomenis Tzannetis, Athen I. Guilty plea und Geständnis Ein abgesprochenes Strafverfahren wird bekanntlich dadurch gekennzeichnet, dass zwischen den Verfahrensbeteiligten (Gericht bzw. Staatsanwalt und Verteidigung) Verhandlungen über das Verfahrensergebnis und die anschließende Festsetzung der Strafe geführt werden. Die Justizbehörde schlägt eine verminderte Strafe vor (im Vergleich zu der im Normalverfahren zu erwartenden Sanktionierung) und von Seiten des Angeklagten wird als Gegenleistung ein Schuldeingeständnis erbracht. Der Tausch von Geständnis gegen Strafreduzierung ist der Dreh- und Angelpunkt aller konsensualen Verfahrensweisen, die auf die Verfahrensabkürzung bzw. Vereinfachung abzielen. Die Wurzeln der einvernehmlichen Verfahrenserledigung liegen im angelsächsischen Strafprozess, was sich damit erklären lässt, dass dort die geständige Einlassung (guilty plea) die Verurteilung unmittelbar nach sich zieht, so dass nichts anderes als die Straffestsetzung bleibt.1 Dass der guilty plea dazu geeignet ist, das Strafverfahren durch Schuldspruch zu beenden, liegt an der spezifischen Ausgestaltung des angloamerikanischen Strafverfahrens, das vom Konflikt zwischen Anklagebehörde und Verteidigung geprägt ist (adversatorisches Parteiverfahren).2 Stimmen die Parteien über den Inhalt des Urteils überein, tritt eine Konfliktauflösung ein (dispute resolution), die der Fortführung des Strafverfahrens vor der Jury entgegensteht.3 Es ist ausgerechnet diese verfahrensbeendigende Wirkung des guilty plea, die in den Vereinigten Staaten das Aushandeln (bargaining) des guilty plea im Gegenzug für die Gewährung von Vergünstigungen (allen voran Strafmilderung) um der Justizentlastung willen begünstigt hat. Am angelsächsischen Leitbild des plea bargaining sind die verschiedenen Varianten von abgesprochenen Strafverfahren ausgerichtet, die in den letzten Jahrzehnten zum Zwecke der Bewältigung der ständig ansteigenden Justizüberlastung in den Rechtskreis des civil law eingeführt worden sind. Die tiefgreifenden Strukturdivergenzen, die zwischen dem angelsächsischen und dem kontinentaleuropäischen Strafmodell bestehen, haben die rasche Ausbreitung konsensualer Verfahrensweisen europaweit kaum gehemmt. Die beiden gegenläufigen Strafverfahrensformen lassen sich vornehmlich danach unterscheiden, dass sie sich abweichender Methoden zur Wahrheitsermittlung bedienen; während nämlich bei kontradiktorischen Strafverfahren die Sachverhaltsaufklärung den Parteien aufgegeben wird, ist das kontinentaleuropäische Strafverfahrensmodell von dem Amtsaufklärungsgrundsatz getragen, wonach die Wahrheitsermittlung dem Strafrichter anvertraut wird (inquisitorisches System). Hieraus lässt sich schließen, dass das amerikanische plea bargai1 Rönnau, Die Absprache im Strafprozess, 1990, S. 271. Weigend, Absprachen in ausländischen Strafverfahren, 1990, S. 49; Brodowski, ZStW 124 (2012), 733 (741). 3 Trüg, ZStW 120 (2008), 331 (366); Langer, Harvard International Law Journal 45 (2004), 4 (20). 2 ning nicht unverändert auf dem civil law angehörende Rechtsordnungen übertragbar ist, sondern in die strukturellen Besonderheiten des inquisitorischen Strafverfahrens eingepasst werden muss.4 Im Kern dieser strukturellen Umstellung steht die Ersetzung des guilty plea durch sein funktionales Äquivalent, welches im Geständnis zu sehen ist. Allerdings ist hervorzuheben, dass das guilty plea sich dadurch maßgeblich vom Geständnis unterscheidet, dass es verfahrensbeendigende Wirkung hat, die dem Geständnis völlig fehlt. Bekennt sich nämlich der Angeklagte im inquisitorischen Strafprozess für schuldig, läuft seine Einlassung keineswegs automatisch auf einen Schuldspruch hinaus, sondern sie soll auf ihre Glaubhaftigkeit hin überprüft werden.5 Dies bedeutet, dass dem glaubhaften Geständnis nur dann eine verfahrensabkürzende Wirkung zukommt, soweit dadurch die Durchführung einer weitergehenden umfassenden Beweisaufnahme überflüssig wird.6 Nach alledem ist festzuhalten, dass das guilty plea im Hinblick auf die strafprozessrechtliche Dynamik weit über das Geständnis hinausreicht.7 II. Verfassungsrechtliche Vorgaben Ungeachtet ihrer funktionalen Verschiedenartigkeit sind guilty plea und Geständnis insoweit inhaltlich identisch, als beide eine selbstbezichtigende Stellungnahme zum Tatvorwurf enthalten. Unter diesem Aspekt kommt der Frage hohe Bedeutung zu, inwieweit die Schuldanerkennung, die an einen Strafnachlass anknüpft – ganz gleich, ob sie sich in einem guilty plea oder in einem Geständnis niederschlägt – eigenverantwortlich und ohne unzulässige Eingriffe in die Selbstbelastungsfreiheit erfolgt. Die in Deutschland geführte Diskussion über die Vereinbarkeit der Absprachepraxis mit den tragenden Prozessmaximen richtet das Augenmerk in allererster Linie auf die Übereinstimmung der einvernehmlichen Verfahrenserledigung mit dem Amtsaufklärungsgrundsatz (§ 244 StPO), während der Frage nach der Freiwilligkeit des abgesprochenen Geständnisses eher zweitrangige Bedeutung beigemessen wird. Im angelsächsischen Raum dagegen sind die möglichen Abstriche an die Sachverhaltsermittlung – angesichts der dort geltenden formalisierten Wahrheit 8 – unbeachtlich, stattdessen rückt in den Mittelpunkt des Interesses an der rechtsstaatlichen Zulässigkeit des plea bargaining die Frage, inwieweit das abgegebene guilty plea im Einklang mit dem Selbstbezichtigungsverbot steht. 4 Langer, Harvard International Law Journal 45 (2004), 4 (5). Schünemann, Gutachten B zum 58. DJT, S. 83. 6 Damaška, Journal of International Criminal Justice 2004, 1018 (1026). 7 Trüg, ZStW 120 (2008), 331 (341); Brodowski, ZStW 124 (2012), 733 (737); U.S. Supreme Court, Kercheval vs. US, 274 U.S., 220, 224 (1927); U.S. Supreme Court, Marchibroda v. US, 368 U.S., 487, 493 (1962). 8 Dazu Trüg, ZStW 120 (2008), 331 (347 f.). 5 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 281 Aristomenis Tzannetis _____________________________________________________________________________________ Man ist sich allenthalben durchaus einig, dass der Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare“ aus verfassungsrechtlich verbürgten Prinzipien (Rechtstaatsprinzip, Persönlichkeitsrecht) ableitbar ist. Die Selbstbelastungsfreiheit wird nämlich in den Vereinigten Staaten im fünften Amendement der Verfassung verankert, das jeden Zwang zur Selbstbelastung verbietet. Die Voraussetzungen eines gültigen guilty plea sind weiterhin in den Federal Rules of Criminal Procedure9 ausführlich normiert, wonach das guilty plea nur dann nicht zu beanstanden ist, wenn es freiwillig (voluntary) abgelegt wird, mit keinerlei Zwang, Drohungen oder Versprechungen verbunden ist und auf einer Tatsachengrundlage (factual basis) beruht. In Deutschland genießt der Schutz des Angeklagten vor erzwungenen Selbstbezichtigungen als Ausprägung der Menschenwürde und des fair trial-Grundsatzes ebenfalls Verfassungsrang und findet seinen einfachgesetzlichen Niederschlag in § 136a StPO.10 Es lässt sich somit festhalten, dass die Freiwilligkeit (voluntariness) zur grundlegenden Voraussetzung für die Gültigkeit des guilty plea bzw. des Geständnisses erhoben wird.11 Die verfassungsrechtliche Legitimierung des plea bargaining wird in den USA weiterhin unter dem Aspekt überprüft, dass der Angeklagte, der sich auf die Abgabe eines guilty plea einlässt, notwendigerweise eine Reihe von verfassungsrechtlich verankerten Rechten preisgibt, nämlich das im sechsten Verfassungsamendement vorgesehene Recht auf eine adversatorische Aburteilung durch Geschworene (Jury Trial), das Recht auf konfrontative Befragung der Belastungszeugen und das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen.12 Soweit beim plea bargaining der Genuss eines Vorteils (Strafnachlass) von der Preisgabe der oben erwähnten prozessualen Rechte bedingt wird, geht die Verfassungsmäßigkeit dieser Verfahrensweise eng mit der allgemeineren Problematik einher, unter welchen Bedingungen die Ausübung von verfassungsgeschützten Rechten eingeschränkt werden kann. In der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court wurde die sog. „Lehre von den verfassungswidrigen Bedingungen“ („Unconstitutional Conditions Doctrine“) entwickelt, wonach es dem Staat verwehrt ist, einen Vorteil von Bedingungen abhängig zu machen, die unsachgemäß zu einem Verzicht auf verfassungsrechtlich garantierte Rechte drängen bzw. anregen, selbst wenn die Gewährung dieses Vorteils ins Ermessen des Staates gestellt ist.13 Diese Lehre, die als Ausfluss der „due process“-Klausel erachtet wird, dämmt die staatliche Macht ein, den Bürger wegen der Ausübung eines verfassungsrechtlichen Rechtes zu bestrafen, in Anbetracht der Tatsache, dass die Nichtgewährung eines Vorteils von der direkten Verhängung eines Übels nicht zu unterscheiden sei.14 Der U.S. Supreme Court führt des Weiteren aus, dass der Verzicht auf Verfassungsrechte im Gegen9 Rules 11 (b) (2), (3). BVerGE 38, 105 (113); 56, 37 (43). 11 Wertheimer, Philosophy & Public Affairs 1979, 203; Weigend (Fn. 2), S. 63. 12 Wertheimer, Ethics 89 (1979), 269 (270). 13 Sullivan, Harvard Law Review 102 (1989), 1413 (1415). 14 McCoy/Mirra, Stanford Law Review 32 (1980), 887. 10 zug für die Gewährung von Vorteilen nur dann aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden sei, wenn er als notwendig für die Erreichung eines überragenden staatlichen Interesses, dem eine besondere Bedeutung zukommt, erachtet werden könne.15 III. Diskussionsstand 1. U.S. Supreme Court Der U.S. Supreme Court hat ursprünglich die Praxis des plea bargaining unter Zugrundelegung der schon angeführten verfassungsrechtlichen Prämissen keinesfalls vorbehaltlos und uneingeschränkt abgesegnet. Die Rechtsprechung des U.S. Supreme Court greift auf die Willensfreiheit des Angeklagten nicht nur beim konsensualen Verfahren des plea bargaining, sondern auch bei jedem im Normalverfahren abgegebenen (nicht ausgehandelten) Geständnis zurück. Als Grundsatzentscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des Geständnisses gilt Bram vs. United States aus dem Jahre 1897. Bram, ein Matrose auf einem amerikanischen Schiff, gab erst dann zu, den Schiffkapitän getötet zu haben, als die Polizeibeamten auf das Vorhandensein eines Augenzeugen verwiesen. Der U.S. Supreme Court ging davon aus, dass das Geständnis nur dann zulässig sei, wenn es freiwillig ist und weder durch Drohungen oder Zwang noch durch direkte bzw. implizite Versprechungen oder durch unzulässige Beeinflussung gewonnen wurde. Der Supreme Court hat einen Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit (self-incrimination clause) mit der Begründung bejaht, die vernehmenden Polizeibeamten hätten die Geständnisabgabe durch das unzulässige Inaussichtstellen der Strafmilderung für den Fall eines Geständnisses beeinflusst und gefördert. Die Entscheidung betrachtet die Freiwilligkeit als einen psychologischen Zustand, indem sie auf Brams Hoffnungen oder Ängste verweist.16 Eine Reihe von nachfolgenden Entscheidungen des U.S. Supreme Court hatte seitdem die Freiwilligkeit des ausgehandelten Geständnisses (guilty plea) zum Gegenstand. So wurde diese Problematik in der Entscheidung Kercheval vs. United States aus dem Jahre 1927 aufgegriffen. 17 Dabei ging es um die Gültigkeit eines guilty plea, das deswegen zurückgenommen wurde, weil die Staatsanwaltschaft das guilty plea durch das irreführende Versprechen eines Strafmaßes von drei Monaten entlockt hatte. Der Supreme Court stellte fest, 15 U.S. Supreme Court, US v. Jackson, 390 U.S., 582, 583 (1968). 16 Die nachfolgende Rechtsprechung des U.S. Supreme Court bezüglich der Bedingungen des freiwilligen Geständnisses ist stark von den Prämissen des Bram-Urteils beeinflusst. Sie geht nämlich davon aus, dass ein Geständnis nicht als freiwillig betrachtet werden kann, wenn es durch die Versprechung des Absehens von Strafverfolgung bzw. einer milderen Strafe entlockt wurde. Darstellung der einschlägigen Entscheidungen in Becker, Loyola of Los Angeles Law Review 1988, 757 (780). 17 U.S. Supreme Court, Kercheval v. U.S., 274, U.S. 220 (1927). _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 282 Zur Freiwilligkeit des abgesprochenen Geständnisses _____________________________________________________________________________________ dass Schuldanerkenntnisse nur dann angenommen werden dürften, wenn sie freiwillig (voluntary), nach geeigneter Beratung und mit vollem Verständnis der Auswirkungen abgegeben wurden. Dementsprechend sei ein guilty plea, das aus Unkenntnis, Angst oder Versehen abgegeben wurde, widerrufbar und unverwertbar mit der Folge, dass der Angeklagte sein Recht auf den normalen streitigen „Jury Trial“ wiedererlange. Die für die Freiwilligkeit des guilty plea maßgeblichen Kriterien sind in der nächsten Entscheidung des Supreme Court Machibroda vs. United States aus dem Jahre 196218 weiter herausgearbeitet. Der Angeklagte, der aufgrund eines guilty plea zu einer Strafe von 40 Jahren wegen zweier Raube verurteilt worden war, hatte die Rüge vorgebracht, dass sein guilty plea unfreiwillig sei, da man es ihm zum einen durch die Vorspiegelung, die zu verhängende Strafe solle nicht über zwanzig Jahre ausfallen und andererseits durch die Androhung, dass er bei Leugnen der bestehenden Vorwürfe wegen zweier zusätzlicher Raube angeklagt werden würde, entlockt habe. Der Supreme Court hat angenommen, dass ein durch Versprechungen oder Androhungen veranlasstes guilty plea unwirksam sei, weil dadurch die Willensentschließungsfreiheit des Angeklagten eingeschränkt worden sei. Der Supreme Court sieht also sowohl die Androhung als auch die unmittelbare bzw. implizite Versprechung als faktische Zwänge an, die auf die Aussagefreiheit Einfluss nehmen. Eine ausgearbeitete Verfassungsmäßigkeitsprüfung des plea bargaining unter Zugrundelegung der sog. „Lehre von den verfassungsrechtlichen Bedingungen“ lässt sich in der Entscheidung des Supreme Court United States vs. Jackson (1968) finden.19 Anlass der verfassungsrechtlichen Rüge war die Vorschrift des Federal Kidnapping Act, welche für Menschenraub die Todesstrafe vorsah, es sei denn, das Opfer wird unversehrt freigelassen (18 U.S.C. § 1201 [a]), in Verbindung mit der Bestimmung, dass nur das Schwurgericht zur Auferlegung der Todesstrafe befugt ist. Hieraus ergibt sich, dass nur derjenige Angeklagte, der sich für schuldig bekennt, gegenüber dem Risiko der Todesstrafe vollkommen abgeschirmt wird, weil allein durch das guilty plea dem streitigen Jury Trial ausgewichen wird. Der Supreme Court hatte mithin darüber zu entscheiden, ob durch die in U.S.C. § 1201 (a) enthaltene Regelung das Verfassungsrecht des Angeklagten, die Tatvorwürfe vor dem Schwurgericht zu bestreiten, unzulässig beeinträchtigt wird, m.a.W. ob es verfassungskonform ist, mit der Todesstrafe nur denjenigen Angeklagten zu bedrohen, der sich auf das streitige Jury Trial einlässt. Der Supreme Court sprach sich für die Verfassungswidrigkeit der Vorschrift U.S.C. § 1201 (a) aus mit der Erwägung, dass dadurch die Menschenraubtäter unnötig angeregt werden („needlessly encourages“), sich für schuldig zu bekennen, um der Todesstrafe zu entgehen, obwohl zur Erreichung des angestrebten Zwecks, nämlich der Milderung der Härte der Todesstrafe, ein weniger einschneidendes Mittel ausreichen würde, etwa die Anerkennung der Zuständigkeit des Jury Court dafür, neben der Todesstrafe auch Freiheitsstrafen zu verhängen. An der Regelung des Federal Kidnapping Act wird also bemängelt, dass sie eine innewohnende Zwangssituation (inherent coercive) herbeiführe, indem der Angeklagte von der Durchführung des Jury Trial abgeschreckt wird. Mit der aus der Vorschrift U.S.C. § 1201 (a) entstandenen verfassungsrechtlichen Problematik hat sich der Supreme Court nochmals in der Grundsatzentscheidung zum plea bargaining Brady v. United States auseinandergesetzt.20 Diese Entscheidung erkannte zum ersten Mal die Verfassungsmäßigkeit des plea bargaining ausdrücklich an. Brady stützte die Rüge, sein guilty plea sei nicht eigenverantwortlich, sondern aus der Angst vor der in U.S.C. § 1201 (a) vorgesehenen Todesstrafe abgegeben worden, auf das Präjudiz des Urteils United States v. Jackson. Der Supreme Court judizierte, dass die vorangegangene Entscheidung Jackson nicht dazu verleiten solle, dass alle guilty pleas, die unter der Angst vor Todesstrafe abgegeben werden, von vornherein als unfreiwillig erachtet werden müssen. Der Supreme Court führte aus, dass es dem Staat zwar nicht gestattet sei, durch körperliche Misshandlung bzw. durch die Schaffung einer Zwangssituation die Willensentschließung des Angeklagten zu beugen, es sei aber im konkreten Fall nicht nachgewiesen, dass die Fähigkeit Bradys, die Vor- und Nachteile des guilty plea gegeneinander vernünftig abzuwägen, allein aus Angst vor der Todesstrafe aufgehoben worden sei. In Betracht kämen auch andere Motive (wie z.B. das Begehren des Angeklagten, dem psychischen und finanziellen Aufwand des Rechtsstreits zu entgehen), auf welche die Schuldanerkennung zurückgeführt werden könne, ganz abgesehen von Situationen, in denen die Beweislage so erdrückend sei, dass das Bestreiten des Tatvorwurfs sinnlos erscheine. Der Supreme Court stellte weiterhin fest, dass die jedem guilty plea innewohnende Hoffnung auf einen erheblichen Strafrabatt an sich nicht ausreiche, um die Verfassungsmäßigkeit des plea bargaining in Frage zu stellen, wenn man bedenke, dass dieses Verfahren beiderseitige Vorteile sowohl für den Angeklagten als auch für die Justizbehörden nach sich ziehe. Der Supreme Court betonte schließlich, dass die Entscheidung Brady nicht im Widerspruch zur Grundsatzentscheidung Bram stehe im Hinblick darauf, dass Bram, ganz anders als Brady, sich in einer empfindlichen Lage (in Untersuchungshaft und ohne Rechtsbeistand) befunden habe, weswegen das geringste Nachsichtigkeitsangebot geeignet gewesen sei, die Geständnisabgabe zu erzwingen. Mit den Auswirkungen der angedrohten Todesstrafe auf die Freiwilligkeit des guilty plea beschäftigt sich die nächste Entscheidung North Carolina v. Alford (1970).21 Die Besonderheit des abgeurteilten Falles lag darin, dass der Angeklagte Alford lediglich erklärte, dass er dem Anklagevorwurf nicht mehr entgegentrete – ohne jedoch zugleich einzugestehen, dass er die ihm zur Last gelegte Tat begangen habe (da- 18 20 U.S. Supreme Court, Machibroda v. U.S., 368 U.S., 487 (1962). 19 U.S. Supreme Court, U.S. v. Jackson, 390 U.S. 570 (1968). U.S. Supreme Court, U.S. v. Brady, 397 U.S., 742 (1970). U.S. Supreme Court, North Carolina v. Alford, 400 U.S., 25 (1970). 21 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 283 Aristomenis Tzannetis _____________________________________________________________________________________ bei handelt es sich um das sog. plea of nolo contendere). 22 Der Supreme Court hielt an seiner vorherigen Rechtsprechung fest, wonach die Angst vor der Todesstrafe für sich allein nicht ausreiche, um die Freiwilligkeit des guilty plea in Frage zu stellen, solange der Angeklagte sich frei und vernünftig für eine der verschiedenen zur Verfügung stehenden Verhaltensalternativen entschließe. Dies gelte umso mehr, wenn der Angeklagte dem Rat seines Strafverteidigers folge. Der Supreme Court erläuterte ferner, dass das plea of nolo contendere nicht nur freiwillig und vernünftig sein soll, sondern darüber hinaus auf einer „starken Tatsachengrundlage“ („strong factual basis“) basieren muss. Soweit im vorliegenden Fall die gegen den Angeklagten vorhandenen Beweismittel den Anklagevorwurf wegen Mordes ausreichend stützten, war es dem Gericht gestattet, die Vernünftigkeit der Entscheidung von Alford, die Anklage nicht mehr zu bestreiten, anzunehmen. Nach der Mindermeinung von Justice Brennan habe Alford das plea of nolo contendere insoweit nicht freiwillig abgegeben, als seine Einlassung durch die Angst vor der drohenden Todesstrafe ausgelöst worden sei. 23 Von besonderer Bedeutung ist die Entscheidung Bordenkircher v. Hayes aus dem Jahre 1978.24 Folgender Sachverhalt lag zugrunde: Der Angeklagte Hayes rügte, dass der Staatsanwalt die due process clause missachtet habe, soweit er im Rahmen der Verhandlungen (plea bargaining) bezüglich der schon erhobenen Anklage wegen Fälschung eines Schecks in Höhe von $ 88,30 ( für diese Tat ist eine Freiheitstrafe von zwei bis zehn Jahren gesetzlich vorgesehen) dem Angeklagten für den Fall eines guilty plea eine Freiheitstrafe von fünf Jahren angeboten habe mit der gleichzeitigen Drohung, dass er ansonsten unter Hinweis auf zwei Vorstrafen die Verurteilung des Angeklagten mit dem strafschärfenden Umstand der Rückfälligkeit beantragen würde. Nachdem der Angeklagte nicht bereit war, sich für schuldig zu bekennen, verurteilte das Tatgericht – entsprechend dem Vorschlag des Staatsanwalts – den Angeklagten im ersten Rechtszug als rückfällig zu lebenslanger Freiheitstrafe. Das Berufungsgericht nahm im Gegensatz dazu an, dass die Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft rachsüchtig (vindictive) gewesen sei, weil die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen einer schwereren Tat von dem Begehren der Behörden, das guilty plea zu erzwingen, getragen worden sei. Der Supreme Court hat mit knapper Mehrheit (5:4) entschieden, dass die Sanktionsschere zwischen fünfjähriger und lebenslanger Freiheitsstrafe den due process-Grundsatz keineswegs verletze im Hinblick darauf, dass das plea bargaining von einer Austauschbeziehung („give and take“) zwischen dem Angeklagten und der Staatsanwaltschaft geprägt sei, die auf eine beiderseitig vorteilhafte Vereinbarung hinauslaufe. Die starke Mindermeinung verweist dagegen darauf, dass der Staatsanwalt unter Berufung auf die Rückfälligkeitsvorschriften eine unange- 2. Deutsche höchstrichterliche Rechtsprechung Der Regelung der Verständigung durch das „Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren“ vom 29.7.2009 gingen in Deutschland seit den 70er Jahren Urteilsabsprachen ohne Rechtsgrundlage voraus. Es war mithin Aufgabe der Rechtsprechung, die Mindeststandards aufzustellen, welche die Absprachepraxis erfüllen müsse, um als rechtstaatlich zulässig anerkannt zu werden. Bezüglich der hier zu behandelnden Problematik der Freiwilligkeit bei der Geständnisabgabe sind die folgenden höchstrichterliche Entscheidungen erwähnenswert: Der Kammerbeschluss des BVerfG vom 27.1.1987 weist darauf hin, dass die Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung des Angeklagten nicht entgegen der Bestimmung des § 136a StPO beeinträchtigt werden darf; soweit im konkretem Fall die Initiative zur Verständigung vom Angeklagten und nicht von der Justizbehörde ausging, liegt kein Verstoß gegen §136a StPO vor, weil der Angeklagte „uneingeschränkter Herr seiner Entschlüsse gewesen sei“. 26 Ausführlichere Leitlinien enthält die nachfolgende Grundsatzentscheidung BGHSt 43, 195, die unter Bezug auf § 136a StPO besagt, dass der Angeklagte nicht durch Drohung mit einer höheren Strafe oder durch Versprechung eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils zur Abgabe eines Geständnisses gedrängt werden soll.27 Auch die nächste Entscheidung des Großen Senats in BGHSt 50, 40 sieht in der Androhung einer überhöhten Strafe eine unzulässige Beeinträchtigung der Willensentschließungsfreiheit und stellt ferner klar, dass die Differenz zwischen der absprachegemäßen und der beim normalen Verfahren zu erwartenden Strafe (Sanktionsschere) den Angeklagten inakzeptablem Druck aussetze; dies gelte nicht nur, wenn die in Aussicht gestellte Sanktion beim Ausbleiben der Absprache das vertretbare Maß überschreite, sondern auch, wenn der Strafnachlass unterhalb der Grenze der schuldangemessenen Bestrafung liege. 28 Abschließend ist von besonderer Bedeutung die Entscheidung des BVerfG vom 19.3.201329, die nunmehr die gesetzliche Regelung des § 257c StPO auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen hatte. Das BVerfG stellt fest, dass der Angeklagte sich wegen der Aussicht eines Strafrabatts in einer besonderen Anreiz- und Verlockungssituation befinde, die die Selbstbelastungsfreiheit gefährde (Rn. 112). Vor diesem Hintergrund gewährleiste die in § 136a Abs. 5 StPO vorgesehene Belehrung über die Bindungswirkung und die Folgen des Scheiterns der Verständigung, dass der Angeklagte autonom entscheide, sich auf eine Verständigung einzulassen (Rn. 112, 126). Zudem sei die Selbstbelastungsfreiheit auch dann be- 22 25 Dazu Trüg, ZStW 120 (2008), 331 (359); Brodowski, ZStW 124 (2012), 733 (764). 23 U.S. Supreme Court, North Carolina v. Alford, 400 U.S., 25, 31 (1970) 24 U.S. Supreme Court, Bordenkircher v. Hayes, 434 U.S., 357 (1978). messene lebenslange Freiheitsstrafe in Aussicht gestellt habe, um die Ausübung des Rechts des Angeklagten auf ein Jury Trial abzuwenden.25 U.S. Supreme Court, Bordenkircher v. Hayes, 434 U.S., 357, 364 (1978). 26 BVerfG NJW 1987, 2662 (2663). 27 BGHSt 43, 195 (204). 28 BGHSt 50, 40 (50). 29 BVerfG NJW 2013, 1058. _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 284 Zur Freiwilligkeit des abgesprochenen Geständnisses _____________________________________________________________________________________ troffen, wenn dem Angeklagten eine geständnisbedingte Strafmilderung in Aussicht gestellt werde, die den Boden schuldangemessenen Strafens verlasse, denn in diesem Fall gehe es um ein gesetzlich nicht vorgesehenes Vorteilsversprechen i.S.v. § 136a StPO (Rn. 113). 3. Kritische Stellungnahmen im Schrifttum Wie soeben dargestellt, begnügt sich der U.S. Supreme Court für die Freiwilligkeit des guilty plea bzw. des Geständnisses damit, dass der Angeklagte die Wahl zwischen Eingeständnis und Bestreiten des Tatvorwurfs behält und über die Umstände und die Folgen der Verständigung in Kenntnis gesetzt wird. Ähnlich verfährt die deutsche höchstrichterliche Judikatur. Der überwiegende Teil des Schrifttums meldet gravierende Bedenken gegen diesen Ansatzpunkt an und überprüft die Absprachepraxis sorgfältiger auf ihre Vereinbarkeit mit dem nemo tenetur-Grundsatz, wobei besonders danach gefragt wird, ob der Angeklagte durch die verlockende Aussicht auf eine günstige Strafbehandlung dazu gedrängt wird, seine Schuld einzugestehen. In den Vereinigten Staaten unterliegt die plea bargaining-Praxis einer darüber hinausgehenden Verfassungsmäßigkeitsprüfung im Hinblick auf die „Lehre von den verfassungswidrigen Bedingungen“, aus der der Schluss gezogen wird, dass die Gewährung von Vorteilen (Strafrabatt) den Angeklagten unverhältnismäßig zur Preisgabe seiner mit dem Jury Trial einhergehenden strafprozessualen Rechte verleite.30 Kaum zu bezweifeln ist, dass die Umstände, die das Absprachenterrain prägen (zu nennen sind das Ungleichgewicht der Verhandlungsteilnehmer wie auch die Angst des Angeklagten vor dem Ausgang des Verfahrens), erhebliches Druckpotenzial schaffen, was umso mehr gilt, wenn die Justizorgane die Verhandlungsinitiative ergreifen.31 Aber der stärkste Einfluss auf die Aussagefreiheit des Angeklagten resultiert aus der sog. „Sanktionsschere“, die als Triebkraft der Urteilsabsprachen fungiert. Darunter versteht man den Strafmaßunterschied zwischen der für den Fall der Geständnisabgabe zugesagten milderen Strafe und der für den Fall des Beharrens auf der Durchführung des regulären Verfahrens in Kauf genommenen höheren Bestrafung; je weiter die „Sanktionsschere“ geöffnet wird, desto verlockender erscheint der Verständigungsweg. Vor diesem Hintergrund verweist ein erheblicher Teil der Literatur eindringlich darauf, dass der Angeklagte durch den Einsatz der Sanktionsschere veranlasst wird, den Tatvorwurf einzugestehen, sei es, um sich den vorgeschlagenen Strafrabatt nicht entgehen zu lassen, sei es um die in Betracht kommende härtere Bestra30 McCoy/Mirra, Stanford Law Review 32 (1980), 887 (905). Vgl. auch H. Jung, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice 1997, 112 (120). In Anlehnung an diese Lehre hat der U.S. Supreme Court vereinzelt in der schon dargelegten Entscheidung United States vs. Jackson, 390 U.S., 570 (1968), die Freiwilligkeit des abgegebenen guilty plea verneint. 31 Jahnke, Verständigung und Absprachen im Strafverfahren, 1995, 158; Rönnau (Fn. 1), S. 185. fung zu vermeiden.32 Auf der Basis dieser Erwägungen wird der Schluss gezogen, dass der abgesprochenen Verfahrenserledigung eine systemimmanente Zwangswirkung zur Geständnisablegung und zum Verzicht auf das weitere Bestreiten des Tatvorwurfs innewohnt (Geständnisdruck). 33 Von dieser Grundeinstellung leitet sich der eher extreme Standpunkt von Langbein ab, wonach die plea bargaining-Praxis hinsichtlich ihrer Zwangswirkung mit der Folter vergleichbar sei.34 Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist der Ansatz von Kipnis, der versucht hat, die im Zuge des plea bargaining vorgeschlagene Strafmilderung den klassischen Zwangsmitteln (z.B. Gewalt, Drohung) gleichzusetzen.35 Lehrreich ist dabei der Vergleich des Staatsanwaltes mit dem bewaffneten Räuber (Gunman), der das Opfer durch den Satz „your money or your life“ zur Herausgabe einer Geldsumme zwingt. Kipnis meint, dass der Staatsanwalt und der Räuber sich insofern ähnlich verhalten, als beide gleichermaßen ihren Adressaten vor die „schwierige Wahl“ stellen, entweder einen ganz sicheren geringeren Verlust hinzunehmen oder einen unsicheren größeren Nachteil zu erleiden. Je niedriger, so Kipnis, der sichere Nachteil ausfalle und je wahrscheinlicher der Eintritt des größeren Übels erscheine, desto vernünftiger erscheine es, die Entscheidung für die erste Alternative zu treffen.36 Kipnis gesteht jedoch ein, dass nicht alle Angebote, die eine „schwierige Wahl“ aufstellen in dem Sinne, dass sie verständlicherweise nicht abgelehnt werden können, unbedingt eine Zwangswirkung entfalten; dies zeige sich am Beispiel des Arztes, der zur Übergabe lebensrettender Medikamente an den Kranken nur gegen Bezahlung einer übertriebenen Geldsumme bereit ist. Kipnis nimmt an, dass die Vorschläge des Staatsanwaltes beim plea bargaining mit der Drohung des Räubers und nicht mit dem Verhalten des Arztes vergleichbar seien; begründet wird dieser Schluss damit, dass der Arzt nicht auf den Willen des Patienten einwirke, indem er keine Verantwortlichkeit für die Krankheit trage, während der Staatsanwalt – genauso wie der Räuber – beide Alternativen (niedrige und härtere Strafe), die das Dilemma des Angeklagten ausmachen, angelegt habe.37 32 Langbein, University of Chicago Law Review 46 (1978), 3 (12); Wright, University of Pennsylvania Law Review 2005, 79 (93); Wertheimer, Philosophy & Public Affairs 1979, 203 (207); Weigend, JZ 1990, 774 (778); Malek, StraFo 2005, 441; Kotsoglou, ZIS 2015, 179. 33 In diesem Sinne Dencker, JZ 1973, 149; Rönnau (Fn. 1), S. 184; Ransiek, ZIS 2008, 116 (119); Schünemann, ZRP 2009, 104 (106). 34 Langbein, University of Chicago Law Review 46 (1978), 3. 35 Kipnis, Ethics 86 (1976), 93. 36 Kipnis, Ethics 86 (1976), 93 (98 f.). 37 Kipnis, Ethics 86 (1976), 93 (100). Um mögliche Einwände vorwegzunehmen, stellt der Verf. klar, dass es verfehlt wäre anzunehmen, das Dilemma des Angeklagten auf sein Fehlverhalten (und nicht auf den Vorschlag des Staatsanwalts) zurückzuführen, denn eine solche Überlegung würde gegen die Unschuldsvermutung verstoßen. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 285 Aristomenis Tzannetis _____________________________________________________________________________________ 4. Bisherige Erkenntnisse Die bisherige Darstellung lässt erkennen, dass die Art und Weise, wie die Rechtsprechung mit der Problematik des freiwilligen guilty plea umgeht, auf dem Ansatzpunkt beruht, dass dem plea bargaining-Verfahren keine systemimmanente Zwangswirkung zukommt. Sowohl der U.S. Supreme Court als auch die deutsche höchstrichterliche Judikatur gehen nämlich davon aus, dass der Selbstbelastungsfreiheit genüge getan werde, wenn der Angeklagte, der sich auf einen Deal einlasse, sich der Umstände und der wahrscheinlichen Konsequenzen des plea bargaining bewusst sei und das guilty plea nicht aus Gewalt, Drohung oder unlauteren Versprechungen (andere als die mit dem Deal zusammenhängenden) resultiere.38 Nach diesem Maßstab hängt die Freiwilligkeit praktisch lediglich davon ab, ob dem Angeklagten ein gewisser Spielraum zugestanden wird, zwischen der herkömmlichen Verfahrensweise und der geständnisbedingten konsensualen Verfahrenserledigung zu wählen und die Vor- und Nachteile einer geständigen Einlassung vernünftig gegeneinander abzuwägen. Im Gegensatz dazu weist die überwiegende Meinung im Schrifttum darauf hin, dass das Verständigungsverfahren derart durchgeführt werde, dass der Angeklagte einem nicht unerheblichen Druck ausgesetzt sei, der ihn zum Geständnis dränge. Es gilt im Folgenden zu untersuchen, welcher Seite Recht zu geben sei. IV. Die vielfältigen Einflüsse von Verständigungsvorschlägen auf die Aussagefreiheit 1. Die grundlegende Unterscheidung zwischen Drohung und Angebot a) Die „Grundlinie“ Der von Kipnis vorgenommene Vergleich des plea bargaining-Verfahrens mit zwei entgegengesetzten anderen Fallkonstellationen (Räuber – Arzt) bringt die Problematik der Freiwilligkeit des guilty plea auf den Punkt und wirft die Frage auf, ob die im Rahmen des plea bargaining geäußerten Vorschläge der Justizorgane dem Verhalten des Räubers oder der Vorgehensweise des Arztes ähneln. Der Räuber-Fall stellt eine klare nötigende Drohungssituation dar, die sich auf den ersten Blick vom Arzt-Fall dahingehend unterscheiden lässt, dass der Räuber rechtswidrig mit einem Übel droht, während der Arzt dem Adressaten ein Angebot macht. Die Gegenüberstellung beider Fälle deutet auf die in der Moralphilosophie wohl gefestigte Annahme hin, dass nur von Drohungen, nie aber von Angeboten eine Zwangswirkung ausgehen kann. 39 Dies wird damit begründet, dass im Gegensatz zu Drohungen Angebote Vorteile mit sich bringen und somit den Freiheitsraum des Adressaten erweitern.40 Die Trennung zwischen Drohung und Angebot erweist sich indes schwieriger, als es auf den ersten Blick erscheint. 38 Trüg, ZStW 120 (2008), 331 (358). Siehe insbesondere Nozick, in: Morgenbesser/Suppes/ White (Hrsg.), Philosophy, Science and Method, Essays in Honor of Ernest Nagel, 1969, 447. 40 Wertheimer, Princeton University Press (1987), 136, 204. 39 Am Beispiel des Arztes wird ersichtlich, dass dasselbe Verhalten je nach Blickwinkel von Drohung zu Angebot (und umgekehrt) umschwenken könnte. Geht man nämlich davon aus, dass der Arzt schlicht eine Therapiemöglichkeit vorschlägt, deren Annahme oder Verweigerung ins freie Ermessen des Patienten gestellt wird, scheidet eine Zwangssituation aus. Unterstellt man hingegen, dass der Arzt die Zurückweisung seines Vorschlags mit einem Übel (Lebensverlust) verbindet, kann man in dieser Vorgehensweise ein Drohungsmoment erblicken. Da es aber unzuträglich wäre, die Unterscheidung zwischen „Angebot“ und „Drohung“ der zufälligen Leseart eines Verhaltens zu überlassen, ist es erforderlich, handfeste Kriterien für die trennscharfe Abgrenzung der genannten Fallgruppen aufzustellen. Es kann als allgemein gesicherte Erkenntnis angesehen werden, dass eine sachgerechte und zuverlässige Unterscheidung zwischen „Drohung“ und „Angebot“ anhand der sog. „Grundlinie“ („baseline“) getroffen werden soll. Nozick bestimmt die „Grundlinie“ in seiner bahnbrechenden Analyse als „den zu erwartenden Geschehensablauf“; demgemäß lassen sich Vorschläge, die den zu erwartenden Geschehensablauf verbessern, als Angebote erfassen, die den Adressaten niemals in eine Zwangslage versetzen können; kommt hingehen eine Verschlechterung des zu erwartenden Geschehensablaufs in Betracht, wird in die Entschließungsfreiheit eingegriffen.41 Grundlinien können entweder prädiktiv oder normativ bestimmt werden.42 Die prädiktive Leseart nimmt den normalerweise zu erwartenden Gang der Ereignisse vorweg, während der normativen Grundlinie die rechtmäßigen Erwartungen des Adressaten zugrunde gelegt werden. 43 Prädiktive und normative Grundlinien können zwar zusammenfallen, sind aber keineswegs immer identisch. Im Räuber-Fall laufen alle denkbaren Grundlinien (prädiktiv, normativ) gleichermaßen darauf hinaus, dass die Geldherausgabe zwangsweise durchgesetzt wird. Denn zum einen soll das Opfer erfahrungsgemäß nicht mit einer abgenötigten Vermögensverfügung rechnen (prädiktive Grundlinie) und zum anderen hat es einen rechtlichen Anspruch darauf, sowohl sein Leben als auch sein Vermögen zugleich unversehrt beizubehalten (normative Grundlinie). 44 Die zwei Arten von Grundlinien führen jedoch zu abweichenden Ergebnissen in Fallkonstellationen, in denen die normativen Erwartungen über die faktischen hinausgehen. 45 Dies genau kann bei Ur41 Nozick (Fn. 39), S. 23 ff. Berman, Georgetown Law Journal 90 (2000), 13 (16). 43 Feinberg, Harm to Self (1986), 219; Wertheimer, Philosophy & Public Affairs 1979, 203 (217). 44 Wertheimer, Philosophy & Public Affairs 1979, 203 (235). 45 Dies lässt sich mithilfe folgenden Beispiels (entlehnt von Nozick [Fn. 39], 27) veranschaulichen: Der Vorschlag des Herren, der alltäglich seinen Sklaven schlägt, auf weitere Schläge unter der Voraussetzung zu verzichten, dass der Sklave am Ruhetag arbeitet, stellt an der Prognosegrundlinie gemessen ein Angebot dar, soweit der Sklave auch ohne den Vorschlag geschlagen würde. Aufgrund der normativen Grundlinie dagegen kommt eine Drohung zustande, denn der Sklave hat ein Recht darauf, nicht geprügelt zu werden. 42 _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 286 Zur Freiwilligkeit des abgesprochenen Geständnisses _____________________________________________________________________________________ teilsabsprachen der Fall sein, wie im Folgenden gezeigt werden wird. Der normativen Grundlinie ist der Vorzug einzuräumen, insbesondere in Fällen (wie der hier zu besprechenden Freiwilligkeit der Geständnisablegung), in denen die Annahme einer Zwangslage mit rechtlichen Konsequenzen verbunden ist. Mit der normativen Grundlinie bieten sich als Maßstab nur diejenigen zu erwartenden Situationen an, auf welche der Adressat einen rechtlichen Anspruch hat. 46 Aufgrund der normativen Sichtweise kommt man zum Schluss, dass die Bereitschaft des Arztes, nur gegen Entgelt seine Dienste zu erbringen, ein Angebot (und keine Drohung) darstellt, weil der Patient keinen rechtlichen Anspruch darauf hat, kostenlos behandelt zu werden. b) Zwangswirkende Angebote Es gilt als nächstes zu untersuchen, inwieweit von Angeboten ausnahmsweise eine der Androhung entsprechende willensbeeinträchtigende Wirkung ausgehen kann. Dem Ansatz von Nozick, wonach Angebote nie in die Willensfreiheit eingreifen, ist nicht vorbehaltlos zuzustimmen. Die Unterscheidung zwischen „Angebot“ und „Drohung“ klingt – trotz ihrer inhaltlichen Richtigkeit – schematisch und vermag den vielgestaltigen Einflüssen von Angeboten auf den Willen des Empfängers nicht genügend Rechnung tragen. Es würde zu kurz greifen, definitorisch Angeboten bzw. Anreizen jede Zwangswirkung abzusprechen, und zwar im Hinblick darauf, dass bestimmte Angebote geeignet sind, auf den Willensentschluss einzuwirken, insbesondere wenn sie derart verlockend sind, dass sie schwerlich abgelehnt werden könnten. Je verlockender das Angebot, desto umfangreicher ist die Beeinflussung der Willensrichtung.47 An dieser Stelle sei an die Rechtsprechung des U.S. Supreme Court erinnert, die bei der Behandlung der Freiwilligkeit des guilty plea Androhungen und Versprechungen gleichermaßen für geeignet hält, das Aussageverhalten des Angeklagten zu beeinflussen. 48 § 136a StPO misst ebenfalls nicht nur den Androhungen, sondern auch den Versprechungen eine potentiell freiwilligkeitsausschließende Wirkung bei. Die Zwangstauglichkeit von Angeboten lässt sich auf den Begriff der sog. sozialen Freiheit stützen. Im Gegensatz zur psychologischen Freiheit, die lediglich auf die psychischen Auswirkungen einer Zwangslage abstellt, 49 hängt die soziale Freiheit mit Eingriffen in die Umstände, die eine Wahlsituation bestimmen, zusammen.50 Die soziale Freiheit lässt sich als eine Beziehung mit drei Parametern beschreiben: X ist frei von Y (Einschränkung), Z (Zweck) zu tun. 51 Zweck und Einschränkung müssen in einem sachgerechten und angemessenen Verhältnis stehen, das jedoch in sozialer Hinsicht dann gestört wird, wenn durch geschickte Eingriffe in die Wahlsi46 Brunk, Law & Society Review 13 (1979), 527 (540). Brunk, Law & Society Review 13 (1979), 527 (530). 48 U.S. Supreme Court, Machibroda v. U.S., 368 US, 493, 497 (1962). 49 Wertheimer, Philosophy & Public Affairs 1979, 203 (209). 50 Brunk, Law & Society Review 13 (1979), 527 (531, 537). 51 Brunk, Law & Society Review 13 (1979), 527 (531). 47 tuation der Verhaltensspielraum erheblich eingeschränkt wird. Inwieweit ein Angebot die Wahl zwischen mehreren Alternativen erleichtert oder erschwert, lässt sich erneut mit Bezug auf die normative Grundlinie, die der normalerweise zu erwartenden Wahlsituation entspricht, zuverlässig beurteilen.52 Werden nämlich durch den Einsatz eines verlockenden Angebotes die äußeren Umstände, welche die normale Wahlsituation ausmachen, dahingehend modifiziert, dass der Adressat davon abgehalten wird, etwas zu tun, was unter normalen Umständen (d.h. ohne den Anreiz) vorzugswürdig wäre oder umgekehrt zur Vornahme einer Handlung veranlasst wird, die weniger erwünscht erscheint als eine andere, die normalerweise denselben Zweck erreichen würde, wird auf die Entscheidungsfreiheit eingewirkt.53 Die auf die zu erwartende Wahlsituation angelegte Grundlinie bedarf einer Normativierung dahingehend, dass sich als Maßstab nur diejenigen Wahlsituationen anbieten, auf deren Beibehaltung der Adressat einen rechtlichen Anspruch hat. 54 2. Die maßgebliche Bezugspunkte der „Grundlinie“ bei der Urteilsabsprache Das Kernstück eines jeden abgesprochenen Strafverfahrens liegt darin, dass als Gegenzug für das Geständnis eine Strafe zugesichert wird, die niedriger ausfällt als diejenige, die beim regulären streitigen Strafverfahren zu verhängen wäre. Es ist nun zu überprüfen, ob durch diesen Strafmaßunterschied dem Geständigen eine Strafmilderung angeboten wird oder ob dem Nicht-Geständigen mit einer überhöhten Strafe gedroht wird. Die Antwort auf diese Frage hängt entscheidend davon ab, wie die anzuwendende Grundlinie bei den Urteilsabsprachen erfasst werden soll. Grundsätzlich leuchtet es ein, die maßgeblichen Bezugspunkte der Grundlinie zeitlich vor und nach dem Verständigungsvorschlag anzulegen. Rechnet beispielsweise der Angeklagte noch vor der Verständigung mit der Möglichkeit einer erheblich höheren Strafe bei Durchführung des normalen Strafverfahrens, verbessert die seitens der Justizorgane in Aussicht gestellte Strafminderung die vorherige Lage und somit liegt ein Angebot und keine Drohung vor. Zu einem entgegengesetzten Ergebnis gelangt dennoch Kipnis, der den Bezugspunkt der Grundlinie auf die Lage des Angeklagten nicht vor der Verständigung, sondern vor der Anklageerhebung zurückversetzt und daraus den Schluss zieht, dass der vorgeschlagene Strafrabatt sich zu einer Drohung wandelt, solange die Inaussichtstellung der (wenn auch verringerten) Strafe die vor Beginn des Strafverfahrens liegende Situation, in der keine Strafverhängung in Betracht 52 Brunk, Law & Society Review 13 (1979), 527 (534), der eine Differenzierung zwischen reinen bzw. einfachen und zwanghaften Angeboten vornimmt. Während Erstere die Wahlmöglichkeiten ausweiten und infolgedessen die Wahlsituation verbessern, sind Letztere dadurch gekennzeichnet, dass aufgrund der durchgesetzten Einschränkung die Reichweite der Optionen eingeengt wird. 53 Brunk, Law & Society Review 13 (1979), 527 (538). 54 Brunk, Law & Society Review 13 (1979), 527 (540). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 287 Aristomenis Tzannetis _____________________________________________________________________________________ kam, verschlechtert. Kipnis zieht für die Verlagerung der Grundlinie in das Vorfeld des Strafverfahrens unterstützend die Unschuldsvermutung heran.55 Gegen diese Annahme spricht jedoch der Gesichtspunkt, dass die Unschuldsvermutung erst nach Einleitung des Strafverfahrens eingreift und den Einzelnen davor bewahrt, als schuldig behandelt zu werden, bevor das Gericht von der Tatbegehung überzeugt ist. Würde die Unschuldsvermutung so weit gehen, wie Kipnis meint, könnte man kaum die Eröffnung der Hauptverhandlung rechtfertigen.56 Die besseren Gründe sprechen daher für die Festlegung der maßgeblichen Bezugspunkte der Grundlinie innerhalb des Strafverfahrens, nämlich auf die vor und nach den Verhandlungen liegenden Situationen. 3. Die Verständigungsvorschläge als „Angebote“ bzw. „Drohungen“ Die Bewertung der im Rahmen einer Verständigung seitens der Justizorgane angegebenen Vorschläge als „Drohungen“ bzw. als „Angebote“ hängt entscheidend davon ab, inwieweit dadurch die vor der Verständigung liegende Lage unter gleichzeitiger Berücksichtigung der rechtmäßigen Erwartungen des Angeklagten verbessert oder verschlechtert wird. Legt man diesen normativen Maßstab zugrunde, ergibt sich Folgendes: a) „Angebotene“ Strafsenkung? Die geständnisbedingt mitgeteilte Strafabsenkung stellt im Ansatz ein Angebot und keine Drohung dar, soweit dadurch dem Angeklagten eine günstigere Behandlung im Vergleich zu der erwartungsgemäß härteren Bestrafung beim Bestreiten des Tatvorwurfs in Aussicht gestellt wird.57 Es versteht sich aber von selbst, dass eine Verbesserung der zu erwartenden Lage nur dann in Betracht kommt, wenn eine Verurteilung naheliegt. Die Inaussichtstellung einer verminderten Strafe wandelt sich ganz im Gegenteil zu einer unzulässigen Androhung in Fällen, bei denen der Angeklagte hätte freigesprochen werden müssen, entweder weil er tatsächlich unschuldig ist, oder weil angesichts der unzureichenden Beweislage die Aussicht auf eine Verurteilung nicht naheliegt. Denn in solchen Fällen läuft der vorgeschlagene Strafrabatt der rechtlich gesicherten Erwartung des Angeklagten, im Zuge des streitigen Strafverfahrens seinen Freispruch anzustreben, zuwider. Ein möglicher Einwand gegen diesen Lösungsansatz geht dahin, dass ein Vergleich mit einer rein hypothetischen höheren Sanktion insoweit vorgenommen wird, als es keine bestimmte Normalstrafe gibt, an der sich die Grundlinie ausrichten ließe.58 Dabei ist zwar richtig, dass aufgrund der gel55 Kipnis, Ethics 86 (1976), 93 (100). Wertheimer, Philosophy & Public Affairs 1979, 203 (223). 57 Dies gilt nicht nur für den Strafrabatt, sondern auch für andere Vorschläge, die die zu erwartende Situation verbessern. Ein Angebot stellt etwa die Zusage der Justizorgane dar, die Untersuchungshaft im Falle des Geständnisses aufzuheben. 58 Weigend, JZ 1990, 774 (778), Fn. 57; Tschwernika, Absprachen im Strafprozess, 1995, S. 134 f. 56 tenden „Spielraumtheorie“ die schuldangemessene Strafe keine feste Strafgröße (Punktstrafe) darstellt, sondern innerhalb eines engeren Strafrahmens auf der Grundlage der individuellen Schuld und der Strafzwecke zuzumessen ist. 59 Dies ändert aber nichts daran, dass den Urteilsabsprachen strukturell eine Absenkung des zu erwartenden Strafmaßes zugrunde liegt. Entscheidend für die vorliegende Problematik ist vielmehr, dass der zu erwartende Geschehensablauf unvermeidlich hypothetische und auf die Zukunft gerichtete Züge trägt, welche aber die grundlegende Differenzierung zwischen „Angebot“ und „Androhung“ nicht zu erschüttern vermögen. b) „Angedrohte“ Straferhöhung? Die Sanktionsschere erschöpft sich nicht in der Gewährung einer milderen Strafe. Sie hat auch eine entgegengesetzte härtere Seite, die darin zu sehen ist, dass eine höhere Strafe in Aussicht gestellt wird, falls der Angeklagte nicht bereit ist, sich auf eine Verständigung einzulassen. Es stellt sich somit die Frage, ob die Aussicht auf eine strengere Bestrafung als Drohung qualifiziert werden kann mit der Folge, dass dadurch in die Willensentschließungsfreiheit des Angeklagten eingegriffen wird. Es wird teilweise vertreten, dass die Inaussichtstellung eines Strafnachlasses notwendigerweise die gleichzeitige implizite Androhung einer härteren Strafe gegen den NichtGeständigen enthält.60 Dem steht entgegen, dass Angebote und Drohungen nicht immer die Kehrseiten derselben Medaille sind. Gemessen an der Grundlinie kann von einer „Drohung“ nur dann ausgegangen werden, wenn der normalerweise zu erwartende Geschehensablauf verschlechtert wird. Dass eine niedrigere Strafe für den Fall der Verständigung vorgeschlagen wird, bedeutet nicht zwangsläufig, dass der Strafzuschlag, der gleichzeitig für den Fall der Nichtmitwirkung an der Verständigung in Betracht kommt, als nötigende Drohung erfasst werden kann. Nur wenn die ins Auge gefasste höhere Strafe das beim normalen Strafverfahren zu erwartende Strafmaß übersteigt, läuft dieser Vorschlag auf eine „Androhung“ hinaus.61 Darauf wird noch zurückzukommen sein.62 V. Auf dem Weg zur Normativierung des Freiwilligkeitsbegriffs 1. Kritik an der psychologischen Betrachtungsweise Eingangs wurde bereits die überwiegende Ansicht dargestellt, wonach der Strafmaßdifferenz (insbesondere wenn sie zu hoch ausfällt) eine innewohnende Zwangswirkung beigemessen werden soll. Nicht zu beanstanden ist, dass durch die 59 Statt vieler Fischer, Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, Kommentar, 63. Aufl. 2016, § 46 Rn. 20 m.w.N. 60 Weigend, JZ 1990, 774 (778); Rönnau (Fn. 1), S. 196; Jahnke (Fn. 31), S. 169; Weichbrod, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, 2006, S. 159. 61 Dies gilt selbstverständlich umso mehr, wenn die Verhängung einer erhöhten Strafe gegen einen Unschuldigen in Aussicht gestellt wird. 62 Unter V. 3. b). _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 288 Zur Freiwilligkeit des abgesprochenen Geständnisses _____________________________________________________________________________________ Inaussichtstellung einer niedrigeren in Verbindung mit einer härteren Strafe (Sanktionsschere) auf den Angeklagten psychischer Druck ausgeübt wird, der geeignet ist, auf seine Einlassungsfreiheit einzuwirken. Aber selbst wenn man bei diesem rein psychologischen Verständnis des Freiwilligkeitspostulats bleibt, kann man schwerlich zum Schluss gelangen, dass die unter Druck getroffene Entscheidung des Angeklagten, sich selbst zu belasten, unfrei sei. Allein die Drucksituation, der der Angeklagte sich unterworfen fühlt, wenn ihm etwas angeboten wird, was schwerlich abgelehnt werden kann, ist allerdings kein hinreichender Grund für die Annahme, dass die Wahlmöglichkeiten verringert sind.63 Es ist für die Bejahung einer unzulässigen Beeinträchtigung der Willensfreiheit nicht einmal ausreichend, dass der Angeklagte bei den Urteilsabsprachen vor die schwierige Wahl zwischen zwei unangenehmen Alternativen (zum einen der Verurteilung zu einer wenn auch verminderten Strafe und zum anderen der Durchführung des normalen Strafverfahrens mit unsicherem Ausgang) gestellt wird.64 Vom psychologischen Standpunkt aus ist eine Entscheidung nur dann von jedem Einfluss frei, wenn aus ihr kein Nachteil zu erwarten ist. 65 Auf die psychologische Freiheit des Willensentschlusses soll es im Strafverfahren nicht entscheidend ankommen, was damit begründet wird, dass der Angeklagte sich vielfältigen Belastungen (hauptsächlich der drohenden Verurteilung) gegenübergestellt sieht, die sein Prozessverhalten unvermeidlich beeinflussen.66 Bei genauerem Hinsehen lässt sich behaupten, dass der Druck, der die Wahl zwischen mehreren Übeln erzeugt, als Ausfluss der Autonomie des Angeklagten hingenommen werden soll.67 Ansonsten dürfte man zahlreiche Vereinbarungen, die alltäglich unter finanzieller oder sonstiger Not oder durch den Einsatz von Druckmitteln getroffen werden, für unfreiwillig halten. 68 Derart weitgehend kann die Willensfreiheit nicht aufgefasst werden, da sonst ein uferloser Raum erzwungener Entscheidungen entstünde. Die rein psychologische Sichtweise versäumt darüber hinaus, die Intensität des auf den Angeklagten ausgeübten psychischen Drucks näher zu bestimmen. Dies wäre aber deswegen geboten, weil die psychische Einwirkung, die mit einem Verständigungsvorschlag ausgelöst wird, erst dann die von § 136a StPO geschützte Selbstbelastungsfreiheit tangiert, wenn sie die Grenze zum Zwang erreicht. Man könnte in dieser Richtung allenfalls erwägen, dass bei den Urteilsabsprachen der Angeklagte nicht den üblichen Einflüssen unterliegt, die stets im Zuge des laufenden Strafverfahrens entstehen, sondern vielmehr einem gesteigerten Druck ausgesetzt wird insofern, als er zu einer selbstbelastenden Einlassung 63 Weßlau, Das Konsensprinzip im Strafverfahren, Leitidee für eine Gesamtreform?, 2002, S. 232 f. 64 So aber Kipnis, Ethics 86 (1976), 93 (100). 65 Weßlau (Fn. 63), S. 232. 66 Rönnau (Fn. 1), S. 183. 67 Zutreffend Weßlau (Fn. 63), S. 233. 68 Philips, Law & Society Review Vol. 16 (1981-1982), 207 (209 f.), beruft sich auf den Fall des Verkaufs eines Unternehmens, das kurz vor dem Zusammenbruch steht, zum halben Preis. motiviert wird. Aber selbst wenn dies zuträfe, wäre es übertrieben anzunehmen, dass mit der Herausbildung von Anreizen, die auf die Geständnisablegung abzielen, ohne Weiteres gegen das nemo tenetur-Prinzip verstoßen wird. Denn die Willensfreiheit bleibt im Ansatz bestehen, solange dem Angeklagten eine Wahlmöglichkeit zwischen zwei Alternativen (Geständnis gegen Strafrabatt einerseits und Bestreiten des Tatvorwurfs andererseits) eröffnet wird.69 Es läge wesentlich näher, von einer Zwangswirkung nur dann auszugehen, wenn die im Zuge der Urteilsabsprachen sich abzeichnenden Vorund Nachteile des Geständnisses den Angeklagten in eine derart aussichtslose Lage versetzen, dass ihm keine andere vernünftige Wahl mehr übrig bleibt, als den Tatvorwurf einzugestehen.70 Anders gewendet: Nur solche Verständigungsvorschläge, die das weitere Bestreiten des Tatvorwurfs sinnlos machen, sind geeignet, die Aussagefreiheit zu beeinflussen. Die Frage, wann eine solche Aussichtlosigkeit vorliegt, lässt sich nur einzelfallbezogen beantworten und setzt eine umfassende Berücksichtigung aller Umstände voraus. Zu beachten ist dabei, dass die in Aussicht gestellte Sanktionsschere nicht das einzige Druckmittel darstellt, das die getroffene Entscheidung, den Tatvorwurf einzugestehen, bestimmt. Bei den Urteilsabsprachen gibt es eine Vielzahl von anderen Faktoren, welche eine geständige Einlassung wenigstens mitbestimmen. Diese Faktoren sollten wir in der Diskussion weder außer Acht lassen noch geringschätzen. Stellt sich etwa heraus, dass es dem Angeklagten hauptsächlich darauf ankommt, den Unannehmlichkeiten und den psychischen oder finanziellen Belastungen eines sich in die Länge ziehenden Strafprozesses auszuweichen oder das Risiko einer sonst höheren Bestrafung zu vermeiden, dann ist die Entscheidung, die Tat einzugestehen, in psychologischer Hinsicht primär auf diese Vorstellungen und nicht auf den Verständigungsvorschlag zurückzuführen. In derartigen Fallkonstellationen kann ein erzwungenes Geständnis ebenso wenig angenommen werden wie bei einem nicht abgesprochenen Falschgeständnis, das etwa deswegen abgelegt wird, weil der Geständige den Tatverdacht von einem anderen abzulenken beabsichtigt. Aber selbst wenn der Verständigungsvorschlag der einzige Faktor ist, auf den die ausweglose Lage des Angeklagten zurückzuführen ist, kann eine unzulässige Willensbeeinträchtigung – ungeachtet der Intensität des hervorgerufenen Drucks – nicht lediglich aufgrund des psychischen Zustandes des Angeklagten ohne Rückgriff auf die normative Dimension der Problematik beurteilt werden. Im Zuge der vorstehenden Ausführungen wurde bereits deutlich, dass die normative Grundlinie, anhand derer die Verständigungsvorschläge als „Angebote“ bzw. „Androhungen“ einzustufen sind, dazu verpflichtet, die rechtmäßigen Erwartungen des Angeklagten 69 Für ein ähnliches relativierendes Verständnis der Freiwilligkeit beim Täter-Opfer-Ausgleich siehe Saliger, GA 2005, 155 (168); Tzannetis, ZIS 2012, 132 (144). 70 Jahnke (Fn. 31), S. 159; Rönnau (Fn. 1), S. 186; Siolek, DRiZ 1989, 327. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 289 Aristomenis Tzannetis _____________________________________________________________________________________ in die Bewertung einzubeziehen.71 Der Angeklagte hat nämlich einen rechtlichen Anspruch darauf, dass der Absprachevorgang sich nicht nachteilig auf seine prozessrechtliche Stellung auswirkt. Dieser Anspruch wird aber erst dann vereitelt, wenn sich die Vorgehensweise der Justizorgane über die Grenze des prozessual Zulässigen hinwegsetzt.72 Die Regelung des § 136a StPO weist unmissverständlich auf die Gesetzesmäßigkeit der Vorgehensweise der Justizorgane hin, denn all die dort erwähnten Vernehmungsmethoden sind rechtswidrig.73 Aufgrund des normativen Ansatzpunkts ist es geboten, bei der Beurteilung der Freiwilligkeit des abgesprochenen Geständnisses zu berücksichtigen, inwieweit die Verständigungsvorschläge an sich gesetzmäßig sind. 74 Es ist somit der jüngsten Rechtsprechung des U.S. Supreme Court im Ansatz beizupflichten, wenn sie nunmehr die Freiwilligkeit des guilty plea losgelöst von jedweder psychischen Einwirkung (selbst von solchen, die unüberwindbar scheinen, wie z.B. die Angst vor der Todesstrafe) bewertet.75 Nach alledem ergibt sich ein zweistufiges Prüfungsmodell, anhand dessen sich die Freiwilligkeit des abgesprochenen Geständnisses aus dem Zusammenspiel von psychologischen und normativen Gesichtspunkten bestimmen lässt: In psychologischer Hinsicht ist die Entscheidung des Angeklagten, sich selbst zu bezichtigen, nur dann unfrei, wenn das Bestreiten des Tatvorwurfs als sinnlos erscheint; in normativer Hinsicht dürfen die Verständigungsvorschläge kein prozessual unzulässiges Verhalten darstellen. Nach alledem ergibt sich, dass rechtmäßige Verständigungsvorschläge nicht als Zwangsauslöser zu bewerten sind, selbst wenn sie vernünftigerweise nicht abgelehnt werden dürfen oder einen erheblichen Druck erzeugen. 2. Normative Rahmenbedingungen bei Urteilsabsprachen a) Die generelle Zulässigkeit der Belohnung der Kooperation im Strafverfahren Vor dem soeben skizzierten normativen Hintergrund taucht die allgemeinere Problematik auf, ob es dem Gesetzgeber überhaupt gestattet ist, durch Vorteile in Form der Sanktionsmilderung den Angeklagten zu einer Aussageerklärung bestimmten Inhalts zu veranlassen. Die h.M. spricht sich uneingeschränkt gegen die Gewährung von Vorteilen im 71 Ähnliche Bedenken lassen sich gegen die ältere (der Brady-Entscheidung vorausgehende) Rechtsprechung des U.S. Supreme Court vorbringen, welche die Freiwilligkeit des Geständigen unter rein psychologischen Gesichtspunkten beurteilte. Siehe dazu Becker, Loyola of Los Angeles Law Review 1988, 757 (781). 72 Wertheimer, Philosophy & Public Affairs 1979, 203 (216). 73 Rogall, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung, GVG und EMRK, Bd. 2, 4. Aufl. 2010, § 136a Rn. 67. 74 Wertheimer, Philosophy & Public Affairs 1979, 203 (216); Brunk, Law & Society Review 13 (1979), 527 (552); Philips, Law & Society Review Vol. 16 (1981-1982), 207 (222); Jahnke (Fn. 31), S. 163. 75 Wertheimer, Philosophy & Public Affairs 1979, 203 (220). Gegenzug für eigenständige Aussagen aus. 76 Dagegen wird teilweise eingewandt, dass die Belohnung eines kooperativen Prozessverhaltens ausnahmsweise nur in bestimmten Kriminalitätsbereichen, die Beweisschwierigkeiten aufweisen, erlaubt ist, wie etwa bei den Kronzeugenregelungen im Rahmen von Betäubungsmitteldelikten.77 Derartigen Regelungen lässt sich freilich entnehmen, dass es rechtsstaatlich statthaft ist, Vergünstigungen als Gegenleistung für Aussagen zu gewähren, die dem Interesse der Strafjustiz an der Sachverhaltsaufklärung dienlich sind.78 Die Überwindung von Beweisschwierigkeiten stellt indes nicht den einzigen legitimen Grund für die Belohnung der Kooperation im Strafverfahren dar.79 Die Überforderung der Strafjustiz und die Aufrechterhaltung der „Funktionstüchtigkeit“ der Strafrechtpflege rechtfertigen, ja gebieten sogar ebenso gut die Besserstellung des kooperierenden Angeklagten durch die Einführung abgekürzter konsensualer Strafverfahrensformen. Bricht das überforderte Strafsystem zusammen, wird die Strafrechtspflege insgesamt und nicht nur in bestimmten „beweisschwierigen“ Kriminalitätsbereichen versagen. Eine konsensorientierte Vereinfachung des Strafprozesses kann jedoch nur unter der unabdingbaren Bedingung unternommen werden, dass die tragenden Strukturelemente des Strafverfahrens unversehrt bleiben. Zum empfindlichen Kern des Strafverfahrens gehört unstreitig das Verbot der Selbstbezichtigung, auf welches bei der Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit der Urteilsabsprachen besonderes Gewicht gelegt werden muss. b) Hinreichender Tatverdacht insbesondere als Schutzgewähr für Unschuldige Zu den normativen Rahmenbedingungen, die die Verständigungspraxis einhegen, gehört vorrangig die selbstverständliche Verpflichtung der Justizbehörden, nur dann mit Verständigungsvorschlägen an den Angeklagten heranzutreten, wenn die Beweislage einen hinreichenden Tatverdacht begründet. Von dieser Grundvoraussetzung geht auch der U.S. Supreme Court aus, wenn er ausdrücklich das plea bargaining in Fällen untersagt, bei denen „der Staatsanwalt die Strafverfolgung bei unbegründeten Vorwürfen angedroht hat“. 80 Durch diese normative Einschränkung soll in besonderem Maße sichergestellt werden, dass Unschuldige sich nicht zu Unrecht belasten, um in den Genuss einer extremen Strafmilderung zu kommen und dem Risiko einer Fehlverurteilung zu einer erheblich höheren Strafe zu entgehen. 81 Die Erfahrungen aus der Praxis lehren, dass es nicht selten vorkommt, dass die großzügigsten guilty plea-Angebote Unschuldigen unterbrei76 Diemer, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 7. Aufl. 2013, § 136a Rn. 32; Müller, in: v. Heintschel-Heinegg/Stöckel (Hrsg.), KMR, Kommentar zur Strafprozeßordnung, 78. Lfg., Stand: Dezember 2015, § 136a Rn. 15; BVerfG NStZ 1984, 82. 77 Weßlau (Fn. 63), S. 246 f. 78 Jahnke (Fn. 31), S. 172. 79 So aber Weßlau (Fn. 63), S. 246. 80 U.S. Supreme Court, Brady vs. United States, 397 U.S., 751 (1970). 81 Weigend (Fn. 2), S. 69. _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 290 Zur Freiwilligkeit des abgesprochenen Geständnisses _____________________________________________________________________________________ tet werden, was sich mit der geringeren Verurteilungswahrscheinlichkeit erklären lässt.82 Dem Risiko, dass ein Unschuldiger sich wahrheitswidrig für schuldig bekennt, lässt sich erfolgreich entgegenwirken, wenn für die Gültigkeit des guilty plea vorausgesetzt wird, dass aufgrund der Beweisaufnahme ein hinreichender Tatverdacht besteht. Stützt sich dagegen die Anklage auf unzureichende Beweise, ist der vorgeschlagene Strafrabatt in Wirklichkeit eine rechtswidrige Androhung im Gewande einer Vergünstigung, die auf die Geständniserzwingung ausgerichtet ist.83 Dies gilt insbesondere für die in den USA weit verbreitete Praxis des „Overcharging“, wonach in die Anklageschrift Vorwürfe miteinbezogen werden, die weit über die tatsächlich begangenen Straftaten hinausgehen. 84 Schlägt der Staatsanwalt dem „overcharged“ Angeklagten vor, von einem Teil der erhobenen Anklagen abzusehen, so ist dies nur zum Schein eine Besserstellung;85 in Wirklichkeit wird dem Angeklagten dabei eine künstlich hoch angesetzte Strafe angedroht, deren Nachlass keine Begünstigung, sondern eine Herabstufung auf das Normalmaß wäre. 86 c) Zuständigkeit und sachlicher Zusammenhang Nur diejenigen Verständigungsvorschläge halten einer normativen Prüfung stand, welche sich in den Grenzen zulässiger Verfahrensweise bewegen. Um der Rechtssicherheit willen kommt es auf die objektive Rechtmäßigkeit des staatlichen Vorgehens an. Der entgegengesetzten Auffassung von Seier,87 wonach es für die Unfreiwilligkeit des Geständnisses genüge, dass dem Angeklagten durch das Verhalten der Justizorgane der Eindruck des Rechtswidrigen vermittelt werde, ist entgegenzuhalten, dass durch diese Subjektivierung das normative Kriterium ausgehöhlt wird und die Beurteilung ungerechtfertigt von dem jeweiligen Empfängerhorizont abhängig wird. In erster Linie rechtlich zu beanstanden sind solche Vorschläge, die deswegen nicht eingehalten werden können, weil sie nicht in den Entscheidungsbereich der an der Verständigung beteiligten Justizorgane fallen. Dies gilt etwa, wenn das Gericht Vergünstigungen im Bereich der Strafvollstreckung, für welche es keinerlei Zuständigkeit besitzt, verspricht. 88 In diesem Zusammenhang wird die Rechtmäßigkeit der Anordnung bzw. der Verlängerung der Untersuchungshaft erör82 Weigend (Fn. 2), S. 69. Wertheimer, Philosophy & Public Affairs 1979, 203 (229). 84 Dazu Rönnau (Fn. 1), S. 274. 85 Derartigen Zwangswirkungen wirken die „ABA Standards relating to the administration of criminal justice“ durch die Empfehlung (§ 14-3.1) entgegen, dass die Staatsanwaltschaft nur beim Vorhandensein hinreichender Beweise die Rücknahme einer schon erhobenen Anklage verweigern kann. 86 Heller, Das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren, No big deal?, 2012, S. 118; Brunk, Law & Society Review 13 (1979), 527 (547). 87 Seier, JZ 1988, 683 (688); ihm folgend Rönnau (Fn. 1), S. 193; Jahnke (Fn. 31), S. 166. 88 Jahnke (Fn. 31), S. 173; Rönnau (Fn. 1), S. 195; Tschwernika (Fn. 58), S. 133, 138; Dahs, NStZ 1988, 153 (157). 83 tert.89 Fehlen die Voraussetzungen der Untersuchungshaft, drohen die Justizorgane dem Angeklagten mit einer rechtswidrigen Maßnahme, die normativ als Zwangsmittel zu betrachten ist. Bei Aufhebung der Untersuchungshaft gegen Geständnis sollte allerdings nach den Haftgründen differenziert werden; die Rechtmäßigkeit der in Aussicht gestellten Aufhebung des Haftbefehls ist etwa zu bejahen, wenn die Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr angeordnet wurde, nicht aber, wenn sie auf der Fluchtgefahr beruht, denn das Schuldankerkenntnis kann im letzteren Fall nicht den Haftgrund ausräumen.90 Für die rechtliche Zulässigkeit des Verständigungsverfahrens wird darüber hinaus zu Recht gefordert, dass der Verständigungsvorschlag in einer Konnexität mit der abzulegenden Aussage steht (sog. „Koppelungsgebot“). 91 Das „Koppelungsgebot“ lässt sich dahingehend präzisieren, dass zwischen den Verständigungsvorschlägen und dem geforderten Prozessverhalten des Angeklagten ein innerer Zusammenhang bestehen muss.92 Weisen Vorschlag und Leistung keine gemeinsamen Anknüpfungspunkte auf, dann liegen der Vorgehensweise der Justizorgane sachwidrige Erwägungen zugrunde mit der Folge, dass die in Aussicht gestellte Begünstigung als rechtswidrig bewertet werden sollte.93 Der notwendige funktionale Zusammenhang zwischen den Verständigungsvorschlägen und dem Geständnis liegt auch der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court zugrunde, wenn für die Unfreiwilligkeit des guilty plea ein weiteres Bedrängnis (außer dem von der Sanktionsschere ausgehenden Druck) gefordert wird.94 Erwähnenswert ist dabei die Entscheidung des U.S. Supreme Court Garrity v. New Jersey, 95 die eine unzulässige Einwirkung in der Inaussichtstellung der Entlassung aus dem Dienst bei Bestreiten des Tatvorwurfs erblickt hat. In ähnlicher Richtung bewegt sich auch der EGMR. Die Entscheidung Deweer v. Belgium vom 27.2.198096 nahm eine Verletzung der Unschuldsvermutung in einem Fall an, in dem der Beschwerdeführer nur deshalb zu einem Geständnis gegen Bezahlung eines Geldbetrags motiviert wurde, weil die Justizorgane ein unverhältnismäßi89 Heller (Fn. 86), S. 117; BGH StV 2004, 636, mit Anm. Eidam, StV 2005, 201. 90 Seier, JZ 1988, 683 (687). 91 Schünemann (Fn. 5), S. 103 f. 92 Von einer solchen Konnexität geht auch der BGH aus, wenn er verlangt, dass die Verständigung geeignet sein soll, anerkannten strafprozessualen Zwecken zu dienen, wie der Vermeidung einer langwierigen Beweisaufnahme oder der Beschleunigung des Strafverfahrens. Zu diesen Zwecken gehört jedoch nicht die Begleichung des aus der Tat herrührenden Schadens, siehe BGH NStZ 2004, 339 mit Anm. Wieder, NStZ 2004, 339. 93 Jahnke (Fn. 31), S. 165; Rönnau (Fn. 1), S. 191. 94 Wertheimer, Philosophy & Public Affairs 1979, 203 (220); Philips, Law & Society Review Vol. 16 (1981-1982), 207 (221). 95 U.S. Supreme Court, Garrity vs. New Jersey 385, U.S. 493, 497 (1967). 96 EuGRZ 81, 15. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 291 Aristomenis Tzannetis _____________________________________________________________________________________ ges Gewerbeausübungsverbot bis zur Aburteilung des Tatvorwurfs einbezogen hatten.97 3. Die Verständigungspraxis auf dem Prüfstein des § 136a StPO a) Der Strafabschlag als „Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils“ Steht nach den vorliegenden Erkenntnissen fest, dass der Strafnachlass nur dann als Angebot anzusehen ist, wenn der Angeklagte keine Aussicht auf einen Freispruch hat, so schließt sich die Frage an, inwieweit dieser Verständigungsvorschlag am Maßstab des § 136a StPO als „Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils“ zu behandeln ist. Zweifel an der Rechtsmäßigkeit der Strafreduzierung, die als Belohnung für das Geständnis gewährt wird, könnten auf dem Boden der ursprünglich herrschenden „Indiztheorie“ entstehen, wonach das Geständnis nur dann strafmildernd berücksichtigt werden darf, wenn es von Reue und Schuldeinsicht getragen ist.98 Das abgesprochene Geständnis genügt auf den ersten Blick diesen Voraussetzungen regelmäßig nicht, soweit es allein von prozesstaktischen und kalkulierten Erwägungen geprägt wird und keine Schlüsse auf die Schuldeinsicht des Geständigen zulässt.99 Die neuere Rechtsprechung hat jedoch in völliger Abkehr von der Indiztheorie angenommen, dass selbst ein nicht von Reue getragenes ausgehandeltes Geständnis als Beitrag zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens und zur Genugtuung sowohl des Opfers als auch der Allgemeinheit angesehen werden kann.100 Die strafmildernde Wirkung des abgesprochenen Geständnisses ließe sich auch damit begründen, dass nicht auszuschließen wäre, dass neben den prozesstaktischen Überlegungen eben auch Reue und Einsicht für die Geständnisablegung mitbestimmend waren. Im Hinblick darauf, dass die Geständnisbeweggründe nicht mit hinreichender Sicherheit bestimmt werden können, sollte man unter Anwendung des Zweifelsatzes davon ausgehen, dass alle Geständnisse (einschließlich der abgesprochenen) auf Reue und Einsicht beruhen können und somit eine Strafmilderung verdienen.101 Ein sachlicher Zusammenhang zwischen Geständnis und Strafrabatt ist mithin im Ansatz zu bejahen. Daraus kann jedoch nicht ohne Weiteres geschlossen werden, dass die Gewährung einer Strafminderung unbedingt ein „gesetzlich vorgesehener Vorteil“ i.S.d. § 136a StPO ist. Die angebotene Strafmilderung dürfte rückhaltlos als rechtmäßig betrachtet werden, wenn sie sich innerhalb der gesetz97 Dazu Ashworth, in: Müller-Dietz/Müller/Kunz/Radtke/Britz/ Momsen/Koriath (Hrsg.), Festschrift für Heike Jung zum 65. Geburtstag am 23. April 2007, 2007, S. 19 (24). 98 Grundlegend BGHSt 1, 105 (106). 99 Schünemann (Fn. 5), S. 111; Rönnau (Fn. 1), S. 195. 100 BGHSt 43, 195 (209); BGH NStZ 2000, 366; Niemoller, StV 1990, 34 (36). 101 Schmidt-Hieber, NJW 1982, 1017 (1020); Tschwernika (Fn. 58), S. 161; Jahnke (Fn. 31), S. 186, 187; a.A. Schünemann (Fn. 5), 112. lich in § 49 StGB normierten niedrigeren Strafrahmen hält. Die Absprachepraxis verdankt jedoch ihren Reiz vorwiegend dem Umstand, dass dem geständnisbereiten Angeklagten ein zusätzlicher Strafnachlass zugebilligt wird, der weit über die übliche Strafmilderung, die aufgrund des normalen (nicht abgesprochenen) Geständnisses eingetreten wäre, hinausgeht.102 Im Hinblick darauf, dass dem Richter ein Freiraum eingeräumt wird, die zu verhängende Strafe uneingeschränkt nach unten herabzusetzen, kommt der angebotene Strafrabatt unter Anwendung der „Schuldrahmentheorie“ einem „gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteil“ nur dann gleich, wenn die in Aussicht gestellte verminderte Strafe die Untergrenze des schuldangemessenen Strafrahmens unterschreitet.103 Demgegenüber stellt die schuldangemessene Strafminderung keinen rechtswidrigen Vorteil dar, so dass durch sie keine unzulässige Willensbeeinträchtigung in normativer Hinsicht ausgelöst werden kann. Doch allein der Umstand, dass die Strafabschläge, die unter Verletzung des Untermaßverbots angeboten werden, als rechtswidrig anzusehen sind, schließt nicht verbindlich die Freiwilligkeit des Geständnisses aus. Wie soeben dargelegt, wirken sich Angebote nur dann auf die Willensfreiheit aus, wenn sie die normativ zu erwartende Wahlsituation derart einschränken, dass der Adressat von einer Handlung abgehalten wird, die für ihn ansonsten vorzugswürdig wäre. Vor diesem Hintergrund kann von einer Zwangssituation nur dann ausgegangen werden, wenn der Angeklagte durch den rechtswidrig gewährten Strafrabatt zu einem Geständnis bewegt wird, welches er ansonsten (d.h. ohne das Angebot) nicht abgelegt hätte. Ob dies der Fall ist, lässt sich anhand der vor dem Angebot des Strafnachlasses bestehenden Verteidigungsaussichten zuverlässig beurteilen. Hat nämlich der Angeklagte, noch bevor ihm der Strafrabatt bekannt war, entschieden, nicht weiter gegen den Tatvorwurf anzukämpfen – etwa weil die Beweislage so erdrückend ist, dass die bestreitende Einlassung zum Anklagevorwurf erfolglos erscheint –, ruft die vorgeschlagene Strafminderung keine Verschlechterung der Wahlmöglichkeiten hervor, ganz im Gegenteil dehnt sie die Reichweite der dem Angeklagten verfügbaren Optionen aus. Anders verhält es sich aber, wenn trotz des Bestehens eines hinreichenden Verdachts die Aussicht auf Freispruch nicht ganz ausscheidet oder das Bestreiten des Tatvorwurfs erfolgsversprechend erscheint. Bei derartigen Konstellationen läge es näher anzunehmen, dass übermäßige (d.h. widerrechtlich gewährte) Strafreduzierungen die Wahlsituation dahingehend einschränken, dass der Angeklagte, der ansonsten den Tatvorwurf bestreiten würde, den verlockenden Vorschlag auf Strafrabatt annimmt und sich auf eine Verständigung einlässt, um die Chance für eine äußerst milde Bestrafung nicht zu verpassen und von den Unsicherheiten eines streitigen Strafverfahrens verschont zu werden. Ausgerechnet in solchen Fällen beeinträchtigt das Angebot eines rechtwidrigen (schuldunangemessenen) Strafrabatts unzulässig die Einlassungsfreiheit, soweit dadurch das weitere Abstreiten 102 103 Tschwernika (Fn. 58), S. 135; Heller (Fn. 86), S. 113. Heller (Fn. 86), S. 123. _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 292 Zur Freiwilligkeit des abgesprochenen Geständnisses _____________________________________________________________________________________ des Tatvorwurfs sinnlos wird und der Angeklagte unnötig davon abschreckt wird, seine prozessual gewährleisteten Verteidigungsrechte in Anspruch zu nehmen. b) Der Strafaufschlag als „Drohung mit einer unzulässigen Maßnahme“ Genauso wie die unangemessen milde Strafe einen „gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteil“ darstellt, kommt umgekehrt eine „Drohung mit einer unzulässigen Maßnahme“ i.S.d. § 136a StPO in Betracht, wenn für die Annahme des Verständigungsvorschlags eine überhöhte Strafe eingesetzt wird. Der Angeklagte hat ein Recht darauf, dass er bei Durchführung des normalen streitigen Strafverfahrens nicht zu einer Strafe verurteilt wird, die schuldunangemessen hoch angesetzt wird. Es steht den Justizorganen nicht zu, eine über die angemessene Obergrenze hinausgehende Strafe zu prognostizieren, um ein Geständnis zu erzwingen. Ein solches Vorgehen ist aus normativer Hinsicht zu beanstanden, denn die Strafmaßerhöhung wird nicht an strafzumessungsrelevante Aspekte angeknüpft, sondern dient ausschließlich dazu, den Angeklagten von der Wahrnehmung seiner Prozessrechte abzuschrecken.104 Als passender Bezugspunkt bietet sich der angemessene Strafrahmen an, wie er sich anhand der Schuldrahmentheorie bestimmen lässt. Hält sich die ins Auge gefasste höhere Strafe daran, ist es den Justizorganen gestattet, den wahrscheinlichen105 Ausgang des streitigen Normalstrafverfahrens anzukündigen, selbst wenn mit diesem Hinweis Druck auf den Adressaten ausgeübt wird,106 es sei denn, in die Wahlsituation sind neue Abwägungselemente einbezogen, die in keinem sachlichen Zusammenhang mit dem Inhalt der Aussage stehen. Der Staat ist zwar befugt, seine gesetzmäßigen Strafvorstellungen (einschließlich der Todesstrafe) bekannt zu geben, nicht aber durch sachwidrige Androhungen (wie etwa durch die Arbeitsentlassung)107 auf die Geständnisablegung hinzuwirken. Mithilfe dieser normativen Überlegungen lässt sich der Räuber-Fall von den Verständigungsvorschlägen klar abgrenzen. Der Räuber hat das Wahlproblem seines Adressaten selbst durch die rechtswidrige Drohung herbeigeführt, während die zu verhängende Strafe, auf welche der Vorschlag des Staatsanwalt sich bezieht, schon Bestandteil der Wahlsituation ist, noch bevor der Weg der Verständigung beschritten wird; darüber hinaus ist der Staatsanwalt unzwei- felhaft dazu berechtigt, die auf das streitige Strafverfahren bezogene vermutliche Strafe vorwegzunehmen.108 Überschreitet dagegen die bekanntgegebene höhere Strafe den schuldangemessenen Rahmen, dann wird der rechtliche Anspruch des Angeklagten auf eine gerechte Bestrafung missachtet. In solchen Fällen liefe die Inaussichtstellung einer übermäßigen Freiheitsstrafe, falls es zu einer streitigen Verhandlung käme, darauf hinaus, dass der Angeklagte für sein Beharren auf der Ausübung der ihm zustehenden prozessualen Rechte geahndet wird (Trial Penalty). Wiederum kann nach der „Lehre von den verfassungsrechtlichen Bedingungen“ auf die Unfreiwilligkeit des Geständnisses geschlossen werden im Hinblick darauf, dass die unangemessene Straferhöhung die Inanspruchnahme des Rechts, sich gegen den Tatvorwurf zu wehren, unnötig verhindert bzw. erschwert.109 Zuzugeben ist zwar, dass es praktisch schwerfällt, die normale Strafe, deren Überschreitung als Androhung anzusehen ist, punktgenau festzustellen. Hilfreich könnte dabei der Rückgriff auf die Strafmaßspanne sein. Fällt die Divergenz zwischen Ober- und Untergrenze der Sanktionsschere so hoch aus, dass sie mit der strafmildernden Wirkung des Geständnisses nicht zu erklären ist, kann auf eine unzulässige Willensbeeinflussung geschlossen werden. 110 Ob dabei der angebotene Strafnachlass zu niedrig oder der angedrohte Strafaufschlag zu hoch ist, ist letztendlich unerheblich. 111 Dem schließt sich die deutsche Rechtsprechung an, indem sie auf die nicht vertretbare Divergenz zwischen der in Aussicht gestellten milderen und härteren Strafalternativen abstellt. So hat der BGH angenommen, dass rechtlich zum einen die Differenz zwischen dem Strafmaßangebot einer zweijährigen Bewährungsstrafe und der verhängten siebenjährigen Freiheitsstrafe112 und zum anderen die Zusicherung einer Strafe von dreieinhalb Jahren für den Fall eines Geständnisses im Vergleich zu einer Strafe von sieben bis acht Jahren im Falle einer Verurteilung zu beanstanden sei. 113 Auf der anderen Seite hat der BGH keinen benachteiligenden Verfahrensverstoß in einem Fall angenommen, in dem der Vorsitzende erklärt hatte, dass der Angeklagte im Falle eines Geständnisses mit der Hälfte der sonst zu verhängenden Strafe zu rechnen habe (vier gegenüber acht Jahren Freiheitsstrafe).114 Die Entscheidung, die so deutlich wie kaum eine andere die Unzulässigkeit einer zu weitgehenden Straferhöhung belegt, ist die schon erwähnte Entscheidung des U.S. Supreme Court Bordenkircher vs. Hayes. Obgleich der Staatsan- 104 Brunk, Law & Society Review 13 (1979), 527 (548); Rönnau (Fn. 1), S. 185; Wagner, in: Dölling (Hrsg.), Festschrift für Karl Heinz Gössel zum 70. Geburtstag am 16. Oktober 2002, 2002, S. 585 (596); Heller (Fn. 86), 116. 105 Dem Gericht ist es dagegen verwehrt, seine feste und endgültige Überzeugung von der Schuld bekannt zu geben, siehe Schmidt-Hieber, StV 1986, 355 (356). 106 Brunk, Law & Society Review 13 (1979), 527 (545). Bedenken gegen die prozessuale Zulässigkeit der Antizipation des Verfahrensergebnisses bringt Schünemann vor, siehe ders., NJW 1989, 1895 (1897 f.). 107 Hingewiesen sei auf die schon erwähnte Entscheidung des U.S. Supreme Court Garrity vs. New Jersey. 108 Philips, Law & Society Review Vol. 16 (1981-1982), 207 (209). 109 Wertheimer, Philosophy & Public Affairs 1979, 203 (225); Philips, Law & Society Review Vol. 16 (1981-1982), 207 (223). 110 BGH NStZ 2008, 170. 111 Streng, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 1, 4. Aufl. 2013, § 46 Rn. 85. 112 BGH StV 2000, 556. 113 BGH NStZ 2008, 170. 114 BGH NStZ 1997, 561. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 293 Aristomenis Tzannetis _____________________________________________________________________________________ walt dazu berechtigt war, die begangene Urkundenfälschung als dritte Übertretung unter das „three strikes“-Gesetz115 zu subsumieren, damit eine lebenslange Freiheitsstrafe in Betracht kam, war es äußerst unverhältnismäßig, diesen Verstoß mit einer so harten Strafe zu ahnden, insbesondere im Hinblick auf den geringfügigen Wert des gefälschten Schecks ($ 88,-).116 Im vorliegenden Fall ließ sich die Unfreiwilligkeit des guilty plea nicht schlechterdings damit erklären, dass der Staatsanwalt sich rachsüchtig verhielt, da solche inneren Einstellungen kaum nachweisbar sind. 117 Es genügte vielmehr, dass eine unangemessen harte Strafe allein deswegen eingesetzt wurde, weil Hayes dem Verständigungsvorschlag nicht nachkam und am Bestreiten des Tatvorwurfs festhalten wollte. VI. Fazit Das Ergebnis der vorausgegangenen Überlegungen können wir so zusammenfassen: Entgegen einem weitverbreiteten Verständnis wohnt dem Strafmaßunterschied, der unabdingbarer Bestandteil jeder Urteilsabsprache ist, keine systemimmanente Zwangswirkung inne. Zu diesem Schluss kommt man über die gebotene Normativierung des Freiwilligkeitsbegriffs. Inwieweit die Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten unzulässig beeinträchtigt wird, lässt sich nicht lediglich mit Bezug auf die psychischen Auswirkungen, die von den Verständigungsvorschlägen ausgehen, beurteilen. Vor diesem normativen Hintergrund ist vor allem zu berücksichtigen, ob die Justizorgane sich beim Umgang mit der Inaussichtstellung von Strafzuschlägen bzw. Nachlässen im Rahmen der Verständigung an die prozessrechtlichen Vorgaben halten. Schlussendlich erscheint die Einschätzung gerechtfertigt, dass die generelle Ablehnung der Urteilsabsprachen auf der Basis der Unfreiwilligkeit des Geständnisses ebenso verfehlt ist wie die allzu große Bereitschaft, das Verständigungsverfahren uneingeschränkt hinzunehmen. 115 Dazu Brodowski, ZStW 124 (2012), 733 (747). Wertheimer, Philosophy & Public Affairs 1979, 203 (228). 117 Brunk, Law & Society Review 13 (1979), 527 (548). 116 _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 294 Strafgrund, Wesen und Tathandlung der Anstiftung, § 26 StGB: Soziale Desintegration mittels doppelt-pathologischen Diskurses – Teil 2* Von Wahrheit und Absurdität der Anstiftungsstrafbarkeit und deren Abgrenzung zur Täterschaft Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Oliver Harry Gerson, Passau** II. Tathandlung der Anstiftung: „Bestimmen“ – Das „Wie?“ der Verführung Folgerichtig ist nunmehr die Art und Weise der Korrumpierungshandlung einzugrenzen, mithin das „Wie?“ der Anstiftung zu klären. Da die aufgeführten Strafbegründungsansätze nach Ansicht einiger Autoren für die Teilnahmestrafbarkeit insgesamt gelten/gelten sollen (dazu oben ZIS 2016, 183 [184 ff.]), bedarf es zur Abgrenzung der Anstiftung aufgrund ihrer Sonderstellung weiterer Erwägungen.1 Bedeutsam ist hierbei, dass bei der Klärung des objektiven Tatbestandes des § 26 StGB oftmals nicht streng zwischen dem Strafgrund der Anstiftung, ihrem Wesen und der Anstiftungshandlung unterschieden wird.2 Diese Ungenauigkeiten ergeben sich insbesondere dann, wenn die Verursachungstheorien als taugliche Begründung für beide Teilnahmeformen herangezogen werden.3 Es ist daher auf die nächste Ebene zu wechseln: Der (angeblich) gemeinsame Strafgrund der §§ 26, 27 StGB muss zumindest auf Tatbestandsebene differenziert werden, um die tätergleiche Bestrafung des Anstifters zu rechtfertigen. 4 Daher wird der Streit um den Strafgrund der Anstiftung auf das Tatbestandsmerkmal „Bestimmen“ verlagert. Der Streit ist damit dennoch keineswegs gelöst, sondern wird lediglich mit anderen Vorzeichen „eine Ebene tiefer“ perpetuiert. Im Spektrum der Auffassungen zur Konkretisierung der Tathandlung der Anstiftung, des „Bestimmens“, divergieren drei wesentliche Linien5 mit zahlreichen Unterkategorien: Einige verstehen das Tatbestandsmerkmal „Bestimmen“ eng als „Pakt“, andere ursächlich-funktional als Schaffung einer Tatgelegenheit sowie die inzwischen überwiegende Ansicht als „kommunikativen Austausch“. Allen Deutungen haften Vorzüge und Mängel an. Es wird sich zeigen, dass die * Fortsetzung von ZIS 2016, 183. ** Der Verf. ist Wiss. Mitarbeiter und am Lehrstuhl für Deutsches, Europäisches und Internationales Strafrecht, Strafprozessrecht sowie Wirtschaftsstrafrecht von Prof. Dr. Robert Esser, Universität Passau. 1 Krey/Esser, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2012, Rn. 986 ff.; Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl. 2011, § 26 Rn. 2; Heghmanns, GA 2000, 473 (475). 2 Kritisch auch Schild, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 3, 4. Aufl. 2013, vor §§ 26, 27 Rn. 13; der dies jedoch selbst in Rn. 14 vermischt; zu finden auch bei Joecks (Fn. 1), § 26 Rn. 10 ff. 3 Heghmanns, GA 2000, 473 (475 f.). 4 Joecks (Fn. 1), vor § 26, 27 Rn. 17. 5 Nach Redmann (Anstiftung und anstiftungsähnliche Handlungen im StGB unter Berücksichtigung linguistischer Aspekte, 2014, S. 42 ff.) seien es vier Linien: Verursachungstheorie, Theorie vom geistigen Kontakt, Sanktionierungstheorie und Dominanztheorie. „Wahrheit“ in diesem Fall sprichwörtlich wie tatsächlich dazwischen liegt, der „kommunikativen Deutung“ der inzwischen überwiegenden Auffassung jedoch zu recht der Vorzug gebühren sollte. 1. Unrechtspakt und Verbrechensvereinbarung Unter dem Topos „Unrechtspakt“6 werden in der Literatur Vertreter gefasst, die sich zwar lediglich zum Teil einig in der Ausgestaltung der Strafbegründung der Anstiftung sind, allerdings auf vergleichbaren Prämissen bei der Bestimmung der Tathandlung aufbauen. Es verbindet sie das Verständnis der Anstiftung als vertragsähnliches Konstrukt. 7 Es komme dabei nicht primär auf die psychische Einwirkung des Anstifters auf den Täter, sondern auf die Vereinbarung der Verbrechensbegehung an. Diese (in der engsten Deutung) „Unrechtsvereinbarung“ verpflichte den Anstifter zur Übernahme der Bürde der Unrechtsverantwortung der Tatverwirklichung und vice versa.8 Der „Tatentschluss“ wird damit als Merkmal herausdefiniert. Somit sei auch der bereits Entschlossene taugliches Objekt der Anstiftungshandlung9, da auch mit diesem ein Pakt über die gemeinsame Überbürdung der Tatbegehung geschlossen werden könne. 10 Autoren, die keinen konkreten Unrechtspakt verlangen, nähern sich stattdessen von Seiten der Mittäterschaft, die sich von der Anstiftung über die Übereinkunft zur alleinigen Begehung durch den Täter unterscheide.11 Täter wie Teilnehmer konstruierten einen Organisationsakt, der die Delinquenz verantworte. Entscheidend sei in jedem Fall, dass der Täter handle, weil der Anstifter diese Handlung provoziert hat12, der Täter somit seinen „Entschluß in Abhängigkeit vom Willen des Beein- 6 So vor allem bei Puppe, GA 1984, 101 (112); erneut dies., GA 2013, 514 (517 ff.). 7 Puppe, GA 1984, 101 (112); dies., Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2011, § 25 Rn. 3; zum Teil auch als “Dominanztheorien” bekannt, vgl. Redmann (Fn. 5), S. 85 ff. m.w.N. 8 Puppe, GA 1984, 101 (118). Dieser Gedanke wird von T. Zimmermann (ZStW 124 [2012], 1023) für die Erläuterung der Korruptionsdelikte fruchtbar gemacht: „Bestimmen“ und „Korrumpieren“ seien artverwandt, die Erforderlichkeit zweier reziprok verbundener Delinquenten der Anstiftung, wie der Korruption als „Sondertatbestand“ dazu, immanent. 9 Den es nach Puppe ([Fn. 19], § 22 Rn. 6) nicht gibt, da ansonsten Pläne und Vorhaben vor der eigentlichen Tatbestandsausführung strafrechtlich überinterpretiert würden. 10 Puppe, GA 1984, 101 (118). 11 Zum Beispiel Hoyer, in: Rudolphi u.a. (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2001, § 26 Rn. 12 ff. 12 Hoyer (Fn. 11), § 26 Rn. 13 ff. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 295 Oliver Harry Gerson _____________________________________________________________________________________ flussenden faßt und durchhält“.13 Zwar existieren unter den restriktiven Deutungen ebenfalls Auffassungen, die ein Willenselement mit einbeziehen.14 Dieses wird jedoch zumeist kausal aufgeladen, so dass der Tatentschluss des Täters auf der Beeinflussung durch den Anstifter gründen müsse. 15 2. Ursächlich-funktionale Deutung der Tathandlung Eine weitere, in diesem Sinne extensivere, Auffassung verlangt keinen sonstig gearteten Konsens der Akteure, sondern die kausale Herbeiführung des Tatentschlusses.16 Erforderlich sei die Schaffung einer Tatgelegenheit, die dem Täter Raum für seine Tathandlung biete. Gestützt werden diese Ansichten von dem Vorverständnis der Anstiftung als Verursachung der rechtswidrigen Haupttat.17 3. Kommunikative Deutung: Geistig-kommunikativer Manipulationsakt Nach der inzwischen wohl überwiegenden Ansicht meint das „Bestimmen“ der Anstiftung das Erzeugen eines auffordernden Beziehungsgeflechts zwischen Anstifter und Täter, d.h. einer kollusiv-kommunikativen Beeinflussung des Haupttäters durch den Anstifter, die den Tatentschluss hervorruft. 18 Eine bloße (Mit-)Verursachung des Tatentschlusses genüge nicht, stattdessen bedürfe es der Manipulation des Willens mithilfe des offenen geistigen Kontaktes. 19 Die kommunikative Deutung knüpft damit zum Teil bereits an den Korrumpierungsgedanken an, was bei Amelung besonders deutlich wird.20 Das manipulative, verführende Element wird als Wesen der Anstiftung in das „Bestimmen“ hineingelesen, das notwendige Element der Verursachung gleichwohl beibehalten. 4. Bewertung aus dogmatischer Sicht Zunächst ist zu hinterfragen, welche dogmatischen Gründe für und wider die aufgezeigten Deutungen sprechen. a) Unrechtspakt verwischt Grenzen zur Täterschaft Das Erfordernis eines Unrechtspaktes hat für sich, dass es einen Anknüpfungspunkt für die Strafzumessung „gleich 13 Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 22/22. So z.B. Köhler, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1997, Kap. 9, S. 521 ff. 15 Vgl. Joecks (Fn. 1), § 26 Rn. 11 m.w.N. 16 Dazu Joecks (Fn. 1), § 26 Rn. 12 ff.; zum geschichtlichen Ursprung vgl. Redmann (Fn. 5), S. 48 ff. 17 Ablehnend hierzu Joecks (Fn. 1), § 26 Rn. 13 f. 18 Vgl. BGH NStZ 2009, 393; Krey/Esser (Fn. 1), Rn. 1037 m.w.N.; Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 2003, § 26 Rdn. 74 ff.; ähnlich Hoyer (Fn. 11), § 26 Rn. 10; Rogall, GA 1979, 11 (12); Geppert, Jura 1997, 299 (304); Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, § 16, S. 116. 19 Krey/Esser (Fn. 1), Rn. 1038; Jescheck/Weigend, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 64 Rn. 1, S. 686. 20 Amelung, in: Hoyer/Müller/Pawlik/Wolter (Hrsg.), Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder zum 70. Geburtstag, 2006, S. 147 m.w.N. 14 einem Täter“ liefern kann. Ausschließlich derjenige Akteur, der sich mit der Tat des Täters identifiziere (de facto „Täterwille“ innehabe21) erfülle das erforderliche Unrecht, um gleich einem Täter bestraft zu werden. Gegen das Erfordernis einer Unrechtsvereinbarung sprechen jedoch zahlreiche gewichtige Gründe: Zum einen geht der Wortlaut des § 26 StGB davon aus, dass „ein anderer“ bestimmt wird.22 Ein funktionales, „gleichgesinntes“ (horizontales23) Tätigwerden wie bei der Mittäterschaft wird sprachlich hingegen durch „mehrere gemeinschaftlich“ ausgedrückt, vgl. § 25 Abs. 2 StGB.24 Demzufolge unterscheidet das Gesetz dezidiert perspektivisch: Es gibt Haupt- und Nebenfiguren der Tatbegehung25, oder (veraltet) Akteure mit animus auctoris und solche mit animus socii.26 Zusammenwirken auf Ebene der Gleichwertigkeit führt entweder zu einer Mittäterschaft, oder – wenn ein Tatbeitrag den anderen qualitativ wie quantitativ erheblich unterschreitet – zur Beihilfe, § 27 StGB.27 Die Anstiftung steht systematisch wie phänotypisch hingegen der mittelbaren Täterschaft näher, § 25 Abs. 1 Var. 2 StGB. Bei ersterer führt das Werkzeug die Tat des Hintermannes aus. Da dieser „die Zügel in der Hand hält“, d.h. kraft überlegenen Willens 28 oder Wissens29 das Tatgeschehen hemmen oder fördern kann, wird der Handelnde zum (nicht strafbaren) Akteur, der Hintermann zur Zentralgestalt.30 Die Anstiftung spaltet sich da21 Das klingt ebenso bei Joecks (Fn. 1), § 26 Rn. 17, an. Das betont auch Schild (Fn. 2), § 26 Rn. 2. 23 Lampe, ZStW 119 (2007), 471 (472); ders., ZStW 119 (2007), 492. 24 Krey/Esser (Fn. 1), Rn. 812 ff., ablehnend Rn. 850 ff.: Keine normative Basis und zugleich Einfallstor der Willkürlichkeit. 25 Welzel (Fn. 18), § 15, S. 107. 26 Vgl. Krey/Esser (Fn. 1), Rn. 814 ff.; Heinrich, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2014, § 33 Rn. 1205 ff. m.w.N.; Welzel (Fn. 18), § 15, S. 108; Haas, ZStW 119 (2007), 519 (520 ff.); dazu noch RGSt 74, 85 (Badewanne; vgl. dazu Hartung, JZ 1954, 430 f.); BGHSt 18, 87 (Staschinskij); dazu Baumann, NJW 1963, 561; die neue Kombinationstheorie der Rechtsprechung, die sich der Tatherrschaftslehre annähert in BGHSt 36, 363 (367); BGH NStZ 1987, 364; BGH NStZ 1988, 406; BGH StV 1998, 540; vgl. auch BGHSt 32, 38 (42); 32, 165 (178); 35, 347 (353); eingehend Roxin (Fn. 18), § 25 Rn. 22 ff.; Hoyer (Fn. 11), § 25 Rn. 6. 27 Eine quantitative Reihung lehnt jedoch Schild ([Fn. 2], vor § 26 Rn. 5) ab; dagegen ebenso Bloy, ZStW 117 (2005), 3 (20 f.). 28 Krey/Esser (Fn. 1), Rn. 874; Roxin (Fn. 18), § 25 Rn. 45 f.: Willensherrschaft kraft Nötigung, Irrtum, organisatorischer Machtapparate; zu letztem erneut ders., in: Hoyer/Müller/ Pawlik/Wolter (Fn. 20), S. 387. 29 Murmann, JA 2008, 321 (322). 30 Instruktiv Murmann, JA 2008, 321; zur Begrifflichkeit der Zentralgestalt eingehend Roxin (Fn. 18), § 25 Rn. 10 ff.; kritisch dazu Lampe, ZStW 119 (2007), 471 (474), der dies für eine vorjuristische Verklärung hält; kritisch auch Hoyer (Fn. 11), § 25 Rn. 16. 22 _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 296 Strafgrund, Wesen und Tathandlung der Anstiftung, § 26 StGB – Teil 2 _____________________________________________________________________________________ von lediglich „strafverfolgungstechnisch“, nicht jedoch perspektivisch ab. Der Unterschied bei der Anstiftung liegt allein darin, dass der handelnde „Vordermann“ der Anstiftung keinen Strafbarkeitsdefekt hat. Daher kann er selbst Täter sein. Dass der Hintermann in dieser Konstellation nicht ebenso Täter ist, aber dennoch wie ein solcher bestraft werden soll, ist mithin erklärungsbedürftig. Keine taugliche Lösung für diese Unebenheit in der Systematik ist es dann, einen „Pakt“ zu fordern. Zwar ist nachvollziehbar, dass ein Merkmal herangezogen wird, dass die Bestrafung „gleich einem Täter“ legitimieren können soll. Der Grund der Bestrafung liegt allerdings schon bei der mittelbaren Täterschaft darin, dass der Hintermann die Tat als eigene will und sich eines Werkzeugs bedient. Damit ist er qua Tatherrschaft31 alleiniger Täter der Tat.32 Der „Unrechtspakt“ erforderte ebenfalls, dass der Anstifter die Tat als „eigene will“, zudem aber auch die vorsätzliche Begehung des anderen wünscht. Das ist allerdings nahezu schizophren, wollte der Anstifter die Tat damit schließlich als eigene, um sie gleichzeitig als fremde Tat zu forcieren. Daher gerät diese Deutung in Abgrenzungsschwierigkeiten zur Mittäterschaft und zur mittelbaren Täterschaft.33 Auch dort möchte jeder Täter die Tat als eigene, sowie gleichzeitig die des anderen, in funktionaler Verknüpfung verwirklichen.34 Der Unrechtspakt als Substrat der Anstiftungshandlung deformierte die Anstiftung somit zur „einseitigen Mittäterschaft“, bei der im Unterschied zur „normalen Mittäterschaft“ lediglich ein einziger Beteiligter die Tat als eigene und fremde will. Puppe geht daher in vielen Fällen – nach ihrer Auffassung konsequent – eher vom Vorliegen einer Anstiftung aus: „Mittelbarer Täter ist nur derjenige, der sich zur Tatausführung eines unfreien Werkzeugs bedient. Wer lediglich im Vorbereitungsstadium einen bestimmenden Einfluss auf den Täter ausübt, ist eben Anstifter. Der Agentenführer und der viel berufene Bandenchef sind nicht Täter, sondern Prototypen des Anstifters. Wer weder maßgeblich an der Tatausführung teilnimmt, noch im Vorbereitungsstadium einen bestimmenden Einfluss auf den oder die Täter ausübt, ist Gehilfe.“35 Für Jakobs ergibt sich ebenfalls kein Widerspruch, da er in Täterschaft und Teilnahme keine qualitative, sondern 31 Dazu instruktiv Roxin (Fn. 18), § 25 Rn. 13 ff., 27 ff.; Kritik und Dekonstruktion der Tatherrschaftslehre bei Haas, ZStW 119 (2007), 519 (523 ff.); ders., in: Matt/Renzikowski (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2013, vor § 25 ff. Rn. 10 ff.; vgl. auch Lampe, ZStW 119 (2007), 471 (475 ff.). 32 Krey/Esser (Fn. 1), Rn. 875. 33 Roxin (Fn. 18), § 26 Rn. 89; Schünemann, in: Laufhütte/ Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 1, 12. Aufl. 2007, § 26 Rn. 10; Schild (Fn. 2), vor § 26 Rn. 17; Haas (Fn. 31), § 26 Rn. 11; Puppe (NStZ 2006, 424 [425]) sieht das gerade als Zugewinn des Unrechtspaktes; ebenso zu erkennen in dies. (Fn. 7), § 22 Rn. 4, und dies., GA 1984, 101 (113). 34 Eingehend Haas, ZStW 119 (2007), 519 (534 ff.): „Mandatierung des jeweils anderen“. 35 Puppe, NStZ 2006, 424; dies. (Fn. 7), § 22 Rn. 5. lediglich eine quantitative Differenzierung erkennen will. 36 Das ist jedoch systematisch mit den §§ 25 ff. StGB kaum vereinbar (vgl. Wortlaut §§ 26, 27 StGB: „einen anderen zu dessen […] Tat“) und ebnet jede Trennung der Beteiligungsformen ein (vgl. aber Titelüberschrift: Täterschaft und Teilnahme), so dass kein Zugewinn darin gesehen werden kann. 37 Ein fließender Übergang von Täterschaft zur Teilnahme käme einem Einheitstätermodell gleich, welches mit dem Schuldprinzip und dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG konfligieren würde und gegen welches sich der Gesetzgeber durch Schaffung der §§ 25 ff. StGB eindeutig ausgesprochen hat.38 Demzufolge leuchtet die Forderung nach dem Unrechtspakt bzw. der gemeinsamen Entschlussfassung bei einseitiger Unterordnung zunächst zwar unzweifelhaft ein: Die Bestrafung gleich einem Täter muss ein „Mehr“ sein als bloßes Zuhelfen, da ansonsten die Abgrenzung zur Beihilfe verwaschen würde.39 Müsste der Anstifter mit dem Täter allerdings eine Vereinbarung (unabhängig ob faktisch, synallagmatisch, reziprok oder moralisch40) über die Begehung schließen, würde die Anstiftung zur „kupierten Mittäterschaft“, anstatt, wie es sich ihrem Sinn und Zweck nach ergibt, zur perspektivisch (vertikalen!41) „kleinen“ mittelbaren Täterschaft.42 „Bestimmen“ verlangt daher keinen Unrechtspakt. Ebenso kann dieser kein Erfordernis der Strafbegründung der Anstiftung darstellen. b) Ursächlich-funktionale Deutung ist tatbestandlich zu weit Gegen das „Bestimmen“ im Sinne eines ursächlichen Hervorrufens in Form der Schaffung einer Tatgelegenheit spricht, dass dies den Tatbestand der Anstiftung unerträglich weit hielte.43 Dabei muss streng unterschieden werden, ob Verur36 So z.B. Jakobs, in: Dölling (Hrsg.) Jus humanum, Grundlagen des Rechts und Strafrecht, Festschrift für Ernst Joachim Lampe zum 70. Geburtstag, 2003, S. 561 (571). 37 Ablehnend auch Schild (Fn. 2), vor § 26, 27 Rn. 17. 38 Krey/Esser (Fn. 1), Rn. 784; Murmann, in: Satzger/ Schluckebier/Widmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2. Aufl. 2014, vor § 25 ff. Rn. 1; Maiwald, in: Hoyer/ Müller/Pawlik/Wolter (Fn. 20), S. 283; Schünemann (Fn. 33), vor § 25 Rn. 5 ff.; strenge Grenzen sehen auch Jescheck/ Weigend (Fn. 19), § 61 Rn. 1 ff., S. 645 ff. und Roxin (Fn. 18), § 25 Rn. 2 ff. A.A. Rotsch, in: Gropp u.a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Günter Heine, 2016, S. 309 (311 ff.). 39 Puppe, GA 1984, 101 (118 f.); Heghmanns (GA 2000, 473 [479 f., 485]) vertritt auch bei der Beihilfe das Erfordernis eines Unrechtspaktes, lehnt es aber bei der Anstiftung ab. 40 Unzweifelhaft fühlt man sich aus interaktionistischen (d.h. „zwischenmenschlichen“) Erwägungen an Abreden gebunden. Um solche Mikrophänomene fruchtbar machen zu können, müsste jedoch die Psychologie insgesamt wesentlich stärker in die Rechtsdogmatik integriert werden. 41 Lampe, ZStW 119 (2007), 471 (503). 42 Vgl. auch Schild (Fn. 2), vor §§ 26, 27 Rn. 17, § 26 Rn. 6 m.w.N., 17 m.w.N.; Heinrich (Fn. 26), § 33 Rn. 1193. 43 Roxin (Fn. 18), § 26 Rn. 76 m.w.N.; Amelung (Fn. 20), S. 152 ff.; Puppe, GA 1984, 101 (121 f.); ansonsten wären _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 297 Oliver Harry Gerson _____________________________________________________________________________________ sachung als Strafgrund der Anstiftung, oder als deren Tathandlung verstanden wird.44 Vor allem die Ausweitung auf die Tathandlung gerät nämlich in Untiefen. „Bestimmen“ ist nach dem Wortsinn nicht lediglich „verursachen“. 45 Erstes impliziert einen Akt der Aussonderung, der Wahl, Abstraktion und Finalität.46 Die Wahl eines Bundeskanzlers wurde selbstredend durch die Mehrheit der Stimmen im Bundestag „verursacht“. Man ginge jedoch darin fehl, die bewusste Entscheidung des Einzelnen zur Stimmabgabe als diffusen Zustand des „Aufeinanderberuhens“ zu missdeuten. Kausalität ist bloße Verknüpfung von Ursache und Folge, ihr fehlt das sinnstiftende und sinngebende Element47, da sie ein naturwissenschaftlicher und gerade kein sozialer Vorgang ist. Demnach wäre auch die Mutter des Täters Anstifter, da sie – qua Geburt – kausal dazu beitrug, dass dieser sich irgendwann zur Tat entschloss: Ohne Geburt keine Schaffung einer Tatgelegenheit. Es bedürfte zur Verhinderung solch absurder Ergebnisse der Hinzuziehung der Konkretisierungsmechanismen objektiver Zurechnung. 48 Auch diese Methode ist aber erschreckend uneindeutig: Ist jemand, der mit einem Klappmesser in der Öffentlichkeit herumspielt, ein Anstifter, weil ein Dritter sich dieses aneignet und damit eine Körperverletzung begeht? Schließlich stellt es eine rechtlich missbilligte Gefahr dar, mit einem Messer in der Öffentlichkeit herumzuprahlen, da auf diese Weise „lange Finger“ angelockt werden, was sich schließlich im konkreten Erfolg der Verletzung eines Dritten realisiert hat.49 Einem solchen „Täter“ ist jedoch in der Regel ein Fahrlässigkeitsvorwurf zu machen und nicht etwa eine Anstiftung zu unterstellen. Es fehlt offenkundig an der bewussten Auswahl „eines anderen“, § 26 StGB, zur Begehung einer Tat. Reine Ursächlichkeitsansätze bei der Bestimmung der Anstiftungshandlung geraten daher in Begründungsschwierigkeiten, wenn „fahrlässige Teilnahme“ von Fahrlässigkeit abgegrenzt werden soll. Die Schaffung einer Tatgelegenheit ist somit kein hinreichendes Kriterium zur Konkretisierung der Tathandlung der Anstiftung.50 auch einfache Fragen umfasst, vgl. Riklin, GA 2006, 361. In jedem Fall kann nicht pauschal beantwortet werden, wie mit Fragen zu verfahren ist. Sofern sie manipulativen Charakter entfalten (dazu sogleich), sind sie ebenfalls geeignet, den Täter zu bestimmen. 44 Das Wechselspiel aus „Verursachungstheorie“, die den Strafgrund darstellen soll und „ursächlichem Hervorrufen des Tatentschlusses“ als Tathandlung der Anstiftung ist zumindest terminologisch unglücklich. 45 Amelung (Fn. 20), S. 147. 46 Schild (Fn. 2), § 26 Rn. 5; ebenso Puppe, NStZ 2006, 424 (426). 47 Bloy, ZStW 117 (2005), 3 (13 f.); zudem missachtet sie den Willen des Täters, Haas (Fn. 31), § 26 Rn. 15. 48 So z.B. Jakobs, GA 1997, 553 (558 ff.); Lesch, ZStW 105 (1993), 271 (280 ff.); gegen die Heranziehung dieser Wertungen Bloy, ZStW 117 (2005), 3 (15 f.). 49 Zu diesem Problemkreis auch Heinrich (Fn. 26), § 37 Rn. 1290 ff. 50 Schild (Fn. 2), vor § 26, 27 Rn. 9. c) Stattdessen: Geistig-kommunikativer Kontakt durch Manipulation Präferiert wird daher weiterhin die aufgezeigte kommunikative Deutung. Der durch offenen geistigen Kontakt Beeinflusste begeht eine Tat, die dem Manipulator (d.h. dem Anstifter) angelastet werden kann. Es bedarf daher der Hervorrufung des Tatentschlusses in einem anderen durch eine Kommunikation mit Aufforderungscharakter, welche die vorsätzliche, rechtswidrige Begehung der Haupttat indiziert. Das „Bestimmen“ ist demnach das ursächliche (d.h. einwirkende) Hervorrufen dieses Tatentschlusses beim Täter durch offenen geistigen Kontakt.51 Diese kommunikative Deutung vereint eindeutige dogmatische Vorzüge: Systematisch gleicht sie sich dem „Bestimmen“ in § 30 StGB an, der in Abs. 2 ein „bereit erklären“ normiert, was auf Reziprozität52 und kognitiven Austausch zwischen Bestimmtem und Bestimmendem rückschließen lässt. Zudem wird an § 48 StGB a.F. angeknüpft, der beispielhaft Formen für Anstiftungshandlungen aufzählte, die allesamt kommunikativen Charakter („Drohung, Gewalt, Irrtum“) 53 aufwiesen: „Als Anstifter wird bestraft, wer einen anderen zu der von demselben begangenen mit Strafe bedrohten Handlung durch Geschenke oder Versprechen, durch Drohung, durch Mißbrauch des Ansehens oder der Gewalt, durch absichtliche Herbeiführung oder Beförderung eines Irrtums oder durch andere Mittel vorsätzlich bestimmt hat“ (Fassung bis 1975). Dass die Neuschaffung des § 26 StGB diesen gesetzlichen Impetus ablegen wollte, ist nicht zu erkennen.54 Darüber hinaus wird durch das Erfordernis des kommunikativen Austausches ein Abgrenzungskriterium geschaffen, dass die besondere Struktur der Anstiftung einerseits von der Täterschaft abgrenzt (da kommunikativer Austausch auch ohne Tatherrschaft möglich ist, dazu sogleich), anderseits jedoch ein „Mehr“ zur Beihilfehandlung darstellt, da bei dieser jede Form der Förderung der Tat genügt, sie somit vollständig jeden reziproken Elementes entledigt ist.55 Der kommunikative Aspekt zeigt zudem das Wesen der Anstiftung als „Verführungs- und Manipulationshandlung“ sinnstiftend auf. BGH, Urt. v. 20.1.2000 – 4 StR 400/99 = BGHSt 45, 373 (374) = NJW 2000, 1877; BGH, Urt. v. 22.3.2000 – 3 StR 10/00 = NStZ 2000, 421; Schünemann (Fn. 33), § 26 Rn. 17; Heine/ Weißer, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 26 Rn. 1; Krey/Esser (Fn. 1), Rn. 984; Heinrich (Fn. 26), § 37 Rn. 1287; Redmann (Fn. 5), S. 83 m.w.N. 52 Reziprozität ist ein tief im Menschen verwurzeltes Prinzip, dass nahezu jeder Sozialisation innewohnt, vgl. nur Röhl, Rechtssoziologie, 1987, § 19 S. 162 ff. 53 Dazu noch Welzel (Fn. 18), § 16, S. 116. 54 Redmann (Fn. 5), S. 84 m.w.N. 55 Ob die Handlung wenigstens kausal sein muss, ist ebenso umstritten, vgl. Roxin (Fn. 18), § 26 Rn. 184 ff. 51 _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 298 Strafgrund, Wesen und Tathandlung der Anstiftung, § 26 StGB – Teil 2 _____________________________________________________________________________________ 5. Zwischenfazit: Kommunikative Näherung dogmatisch vorzugswürdig Sofern den Strafgrund der Anstiftung noch ein „Patt“ aus Korrumpierungs- und Verursachungstheorien beherrschte, ist bei der Tathandlung der Anstiftung der kommunikativen Deutung eindeutig der Vorzug zu gewähren. „Bestimmen“ meint vom Wortlaut mehr als Verursachen, jedoch weniger als einen Pakt.56 Systematisch muss es etwas anderes als Kausalität sein, da ansonsten die tätergleiche Bestrafung nicht zu legitimieren ist, andererseits wäre eine Unrechtsvereinbarung „zu viel des Guten“, da auf diese Weise ein Täterwille verlangt würde, der die Abgrenzung zur Täterschaft vollends einebnete. Historisch enthielt bereits § 48 StGB a.F. kommunikative Elemente, die die Anstiftungshandlung nicht abschließend umschrieben.57 Dass der Gesetzgeber von dieser kommunikativen Deutung abdriften wollte, ist nicht anzunehmen. Zuletzt ist der Telos der Anstiftung der einer „Verführungs- und Manipulationshandlung“. Der Anstifter fungiert als „geistiger Brandstifter“ und weckt als „Initialzündung“ den Tatentschluss des Täters58, den dieser aufnimmt, wodurch er sich in einen pathologischen Diskurs mit der Gesellschaft begibt (dazu oben ZIS 2016, 183 [188 ff.]). Damit ist die kommunikative Deutung nach den tradierten Auslegungsmethoden die passgenaue Näherung an Strafgrund, Wesen und Tathandlung der Anstiftung. Dogmatisch überzeugt der „offene geistige Kontakt“ umfassend. Zu prüfen ist abschließend, ob er auch außerhalb der juristischen Hermeneutik Bestand haben kann. dabei zu warnen61, was gleichwohl nicht bedeutet, dass ein Blick über den Tellerrand per se zu vermeiden wäre: „Würden wir alle Fragen unseres juristischen Tagesgeschäfts mit einer rechtsphilosophischen, -historischen oder -soziologischen Meta-Analyse überfrachten, müsste das Rechtssystem mit einem lauten Ächzen zum Stillstand kommen.“62 Das ist richtig, indes lediglich eine Seite der Medaille. Nicht umhin kommt man um die Erkenntnisse der „Bindestrich“- Wissenschaften, wenn sie die gefundenen Ergebnisse der Dogmatik gerade verifizieren können. Daher ist dezidiert auf die Besonderheiten der Wahrnehmungsbeeinflussung durch Handlung und Kommunikation sowie die Möglichkeiten und Grenzen der Manipulationswirkung „geistigen Kontaktes“ einzugehen. III. Psychosoziale Stringenz der kommunikativen Deutung Fraglich ist neben der dogmatischen Herleitung, ob die kommunikative Deutung zur Bestimmung der Anstiftungshandlung – und damit ihre Wesensschau – auch aus individualpsychologischer Sicht haltbar und vertretbar erscheint. Jescheck/Weigend formulierten diesbezüglich, dass Anstiftung des Einsatzes „bestimmter Mittel, die über die Psyche des Haupttäters Einfluss auf die Tatausführung gewinnen“, bedürfe.59 Unstreitig ist der Anstifter demnach „Verführer“, unabhängig davon, ob dafür tatsächlich der martialische Begriff des „Seelenschänders“60 verwendet werden muss. Kognitive Beeinflussung ist gleichwohl ein unergründlich weites Feld, dem sich im Folgenden anhand einiger Grundlagenüberlegungen gewidmet werden soll. Diese werden einerseits aufzeigen, dass die juristisch-dogmatische Näherung zu holzschnittartig mit dem Phänomen der Anstiftung umgeht, andererseits allerdings gerade diese „Naivität“ die größtmögliche Bestimmtheit in der Handhabe der konkreten Anstiftungshandlung offeriert. Vor umfassender Psychologisierung ist 61 56 Roxin (Fn. 18), § 26 Rn. 89. Eingehend Redmann (Fn. 5), S. 78 ff. 58 Murmann (Fn. 38), § 26 Rn. 1. 59 Jescheck/Weigend (Fn. 19), § 64 Rn. 2, S. 687. 60 So Less, ZStW 69 (1957), 43 (45); zu dieser „Seelenmordtheorie“ auch Trechsel, Der Strafgrund der Teilnahme, 1967, S. 7 f.; zur „Charakterverderbnis“ S. 8 ff. und 12. 57 1. Menschliche Interaktion als Summe sinnstiftender Einzelhandlungen Was kann Hervorrufen, Einflussnehmen oder geistiger Austausch tatsächlich bedeuten? Schnell liegt die Vermutung nahe, dass es sich hierbei um ausfüllungsbedürftige Begriffe handelt, die eine Schablone bieten, die überstülpt wird, ohne zu hinterfragen, ob es solche Phänomene überhaupt geben kann.63 Zuvörderst ist daher die denkbare Bandbreite des „Einflussnehmens“ auszuloten. Der menschliche Wille ist und bleibt ein Mysterium. Es wird gestritten, ob er überhaupt existiert, ob er determiniert oder frei ist64, wie er sich entwickelt und wie er optimiert 65 Was der Grund dafür sein könnte, dass sich Redmann (Fn. 5), S. 92 ff., zwar intensiv mit der Sprechakttheorie nach Searle und auch der Soziologie der Sanktionierung nach Luhmann befasst, eine Vertiefung in der interaktionistischen Ebene jedoch unterbleibt; vgl. aber die Ansätze ab S. 115 ff.; zudem ist die Sprechakttheorie zu „eng“, um tatsächlich alle Tatbestände und -varianten des Strafrechts abzubilden. Von der Sprechakttheorie aus betrachtet wäre es ein Leichtes gewesen, tiefer in die Individualpsychologie einzutauchen. 62 Gutmann, in: Hilgendorf/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion in der Rechtswissenschaft, 2015, S. 93 (96); vgl. aber die umfassende interdisziplinäre Analyse des Strafverfahrens von Gerson, Das Recht auf Beschuldigung – Strafprozessuale Verfahrensbalance durch kommunikative Autonomie, 2016 (im Erscheinen). 63 Der Kampf um Meinungen ist stets ein Kampf um Worte. 64 Der Streit zwischen Determinismus, Indeterminismus und Kompatibilismus ist so alt wie die Philosophie und wird weiterhin geführt, vgl. nur Hirsch, ZIS 2010, 62 (63 ff. m.w.N.); die Kontroverse werde jedoch seit langem nicht mehr so hitzig ausgefochten wie noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts, vgl. Baltzer, in: Albrecht/Kirsch/Neumann/ Sinner (Hrsg.), Festschrift für Walter Kargl zum 70. Geburtstag, 2015, S. 25; siehe auch Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre, 1974, S. 149; differenzierend Herzberg, in: Schröder/Hellmann (Hrsg.), Festschrift für Hans Achenbach, 2011, S. 157 (170); dazu auch Gerson (Fn. 62), Teil 2 Abschnitt 7. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 299 Oliver Harry Gerson _____________________________________________________________________________________ werden kann. Der Strafrechtsdogmatiker ist jedoch gezwungen, es sich an dieser Stelle einfach zu machen: Um von einer Willensbeeinflussung ausgehen zu können, muss es überhaupt einen Willen geben, der zudem zumindest so frei ausgestaltet ist, dass er beeinflusst werden kann. 66 All diejenigen Ansichten, die dies (womöglich zu Recht …) verneinen, sind der Fiktion der Anstiftung „als ob“ nicht zuträglich.67 Ein Mindestmaß an personaler und kognitiver Autonomie muss demzufolge gegen den Widerstand gewisser Strömungen der Psychologie und Hirnforschung68 verteidigt werden, um Strafrechtswissenschaft im eigentlichen Sinne weiterhin sinnvoll betreiben zu können. Die abstrakte Freiheit des Willens ist damit ein formbares Konstrukt, plastisch beschrieben eine individuell angeordnete Reihung von Modellen und Konzepten. 69 Eine Willensbeeinflussung (d.h. ein Einwirken auf diese Konzepte) ist vorstellbar über verbales und nonverbales (d.h. konkludentes) Verhalten. Dabei ist zu bedenken, dass Beeinflussung und Einwirkung keine einseitigen Prozesse sind. Menschliche Interaktion stellt einen dialogischen Vorgang dar, der kommunikative Akt vollzieht sich dabei über die Entsendung und den Empfang sinnstiftender Einzelmerkmale. Die Reizaufnahme erfolgt bottom up70, d.h. die primär rezipierten Reize werden 65 Mentales Training und Neuro-linguistisches Programmieren erwachsen solcherlei Erwägungen. 66 Vorzugswürdig sind daher Näherungen wie die Frankfurts. Frankfurt (The Journal of Philosophy 68 [1971], 5 [6 f., 10 ff.]) trennt in verschiedene Abstufungen des „WollenWollens“: „first-order-volitions“ lägen auch bei Tieren vor, denn es handle sich um die Wünsche und Triebe, denen man nachgehe, sobald sie hervorträten („wanton“). Die „secondorder-volitions“ umfassen nach Frankfurt die selbstreflexive Gewichtung der Bedürfnisse und Wünsche, d.h. also das Nachsinnen über das Handelnwollen, was wiederum dem Menschen als Spezies eigen und exklusiv sei („person“). Gleichwohl soll es sogar höhere „volitions“ als die der second order geben, da lediglich so der gesteigerten Komplexität des freien menschlichen Willens gerecht widerfahren werde, vgl. S. 16 ff.; diese Modelle möchte z.B. Bung (in: Albrecht/Kirsch/Neumann/Sinner [Hrsg.], Festschrift für Walter Kargl zum 70. Geburtstag, 2015, S. 65 [67 ff.]) für die deutsche Schulddiskussion fruchtbar machen; dazu auch Gerson (Fn. 62), Teil 2 Abschnitt 7. 67 Die Denkschule des „als ob“ geht auf Vaihinger zurück und setzt Fiktionen an den erkenntnistheoretischen Schnittstellen, an denen eine Streitlösung unmöglich und zudem kontraproduktiv wäre. 68 Zu nennen sind hier Libet, Singer, Prinz und Roth. 69 Konzepte sind zurechtgelegte Anschauungsmuster über Sachverhalte. Dass Dinge „so und so“ sind und sich „je nachdem“ verhalten. Denken nutzt Konzepte zur Herausbildung kognitiver Sicherheit. Es stimmt daher, dass man nicht wirklich Neues erdenkt, sondern lediglich „seine Vorurteile neu ordnet“. 70 Geipel, Handbuch der Beweiswürdigung, 2013, Kap. 13 Rn. 21 m.w.N.; Roth, APuZ 2008, 6 (7); Jansen, Zeuge und Aussagepsychologie, 2012, Rn. 500 f. m.w.N. als Ausgangspunkt der weiteren Aufnahme fixiert, die fortschreitende Interpretation ankert71 auf dem richtungsgebenden, ersten Einfluss. „Der Zwang, der von Worten ausgehen kann oder von einer hohen Belohnung, ist oft viel stärker als der, den eine Drohung ausübt. Der Anstifter macht sich zum Herrn fremden Willens, er verengt ihm die Möglichkeit, sich frei zu entscheiden, er schaltet sich in den Motivationsprozeß eines anderen ein zu dem Zweck, sich ihn zu unterwerfen.“72 Was bedeutet das für den Beginn eines Gesprächs zwischen Individuen? a) Kommunikation als Interpretation „Man kann nicht nicht kommunizieren“ (nach Watzlawick). Jede sinnstiftende Handlung sendet ein Signal an die Außenwelt, das wahrgenommen und verarbeitet wird. Sender A entäußert einen Reiz (z.B. eine Abfolge von Lauten, die ein verständiger Hörer als Sprache einordnet), der dem Rezipient übermittelt wird. Die Aufnahme des Reizes erfolgt nunmehr nicht wie in einer „black box“, d.h. kongruent, sondern stattdessen interpretativ.73 Dazu ein Beispiel: Äußert der Sender, mit Fingerzeig auf ein dreibeiniges Möbelstück: „Das ist ein Tisch“, bedarf es unzähliger Einzelfaktoren, um eine geglückte Kommunikation erwirken zu können. Diese verteilt sich paritätisch auf beide Interaktionspartner, A und B. Der Sender A muss seinen Reiz („Das ist ein Tisch“) auf die Art und Weise meinen, wie er ihn entäußert: Irrt er sich über den Sinngehalt seiner Äußerung, ist bereits der erste Makel gesetzt. So kann es sein, dass er der verwendeten Sprache nicht vollumfänglich mächtig ist und das bezeichnete Objekt anders heißt (Sender zeigt auf einen Stuhl, meint auch einen Stuhl, sagt aber „Tisch“). Möglich ist auch, dass er eine ironisierende oder kontextabhängige Deutung vorgenommen hat (es fehlt an Stühlen und A möchte die heikle Situation durch erneutes Aufzeigen der Überpräsenz von Tischen demonstrieren). Darüber hinaus ist denkbar, dass er den Reiz nicht an den Rezipienten adressiert hat, sondern einen anderen Adressaten im Auge hatte. B war möglicherweise lediglich zufällig in Hörweite oder hätte die Information nicht wahrnehmen sollen/dürfen. Auf Seite des Rezipienten B potenzieren sich die Fehldeutungen sogar. Möglicherweise versteht B die Äußerung 71 Ankereffekte (d.h. priming) stellen einen der am besten erforschten und gleichzeitig wirkmächtigsten Faktor für Wahrnehmungsverzerrungen dar, vgl. nur Englich, in: Bierhoff (Hrsg.), Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie, 2006, S. 309 (311 ff.); Murphy/Zajonc, Journal of personality and social psychology 64 (1993), 723; Higgins/Rholes/Jones, Journal of Experimental Social Psychology 13 (1977), 141. 72 Mit viel psychologischem Grundverständnis bereits Less, ZStW 69 (1957), 43 (50). 73 Nach der „kognitiven Wende“ einhellige Ansicht; einen leicht anderen Weg beschreitet daher Redmann (Fn. 5), S. 92 ff., der auf die Sprechakttheorie nach Searle abstellt. _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 300 Strafgrund, Wesen und Tathandlung der Anstiftung, § 26 StGB – Teil 2 _____________________________________________________________________________________ nicht, weil er der verwendeten Sprache nicht mächtig ist. 74 Dann zumindest könnte er durch das Zeigen auf das Möbel erschließen, um was es A geht. Dennoch ist alles andere als gewiss, dass jedes Zeigen auf einen Gegenstand permanent der Absicherung der Terminologie gilt, schließlich käme es einer „GaGa-Welt“ gleich, würden sich mündige Individuen dauerhaft im Duktus „Das ist ein Tisch“, „Das ist ein Baum“, „Das ist ein Mittagessen“ unterhalten. Unter gleichsprachigen Individuen herrscht stattdessen weitgehender Konsens 75 über Worte vor, da dieser erste Akt der Konzeptfindung bereits lange vorgelagert in der frühkindlichen Phase der Sprachentwicklung76 stattgefunden hat. Der Rückschluss von der Geste des A auf den Sinngehalt seiner Aussage ist mithin fehlerbehaftet. Es könnte zudem sein, dass B die Aussage falsch versteht, da er schlecht hört, der Sender nuschelt, oder Störgeräusche vorliegen („Das ist ein Fisch“). Es könnte auch sein, dass er die ironisierende oder kontextabhängige Deutung missdeutet, nicht erkennt, oder falsch auslegt. Zu guter Letzt ist möglich, dass ein individuelles Vorstellungsbild mit dem Gesagten schlicht nicht korreliert und daher Konfusion eintritt (Rezipient kennt ausschließlich vierbeinige Tische und hielt das aufgezeigte Möbel für einen Hocker). In jedem der aufgezeigten Fälle ändert sich die interpersonale Kommunikation abhängig vom primären Reiz. Äußert A, was er meint, und versteht B, was A sagen wollte, ist der Austausch gelungen, auf dem gemeinsamen kognitiven Konsens kann aufgebaut werden. Jeder Fehler in diesem Prozess erteilt der Kommunikation hingegen Schlagseite: Sollte einer der beiden Akteure der verwendeten Sprache nicht mächtig sein, wird im Anschluss an die Äußerung Zeit dafür verwendet werden müssen, zu klären, was gemeint war und was wirklich verstanden wurde. Wissen hingegen beide, um was es gehen sollte, liegt allerdings ein Verhörer oder 74 Sprachgrenzen können Denkgrenzen sein, das geht philosophisch auf Wittgenstein zurück und findet sich auch in der heutigen Sprachpsychologie wieder. 75 Nicht zu verwechseln ist der soziale Konsens mit dem diskursiven Konsens, wie ihn etwa die Diskurstheorie verwendet. Der Konsens der Diskurstheorie ist formalisiert und dient, je nach Diskurstheoretiker, höheren Zielen (Wahrheit, Moralität, Legitimität etc.). Der soziale Konsens hingegen ist Grundbedingung menschlichen Zusammenlebens, er legt die Grundmaximen der Gesellschaft fest, zu denen u.a. auch die Sprache, Umgangsformen, gegenseitiges Vertrauen etc. gehören. Es ist quasi der „Urkonsens“, der den Ausbruch aus dem „Krieg jeder gegen jeden“ ermöglichte; zum Konsens des Diskurses im Gegensatz zum Konsens des Radikalen Konstruktivismus vgl. Gerson (Fn. 62), Teil 2 Abschnitt 1 und 2. 76 Die Entwicklung von sprachbasierten Schemata beginnt im Kindesalter. Diese werden zunehmend kohärenter und bilden das objektive Bewusstsein der Außenwelt, vgl. Piaget, Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde, 1974 (Übersetzung der französischen Originalausgabe La construction du réel chez l’enfant, 1950), S. 11 ff.; zu Piaget und dessen Bedeutung für den Radikalen Konstruktivismus vgl. v. Glasersfeld, Radical Constructivism, A Way of Knowing and Learning, 1995, S. 53 ff. Versprecher vor, wird Konfusion eintreten, die Nachfragen provoziert oder – bei Nichtaufdeckung – ein Missverständnis befruchtet und perpetuiert. Dabei ist wichtig zu erkennen, dass erneut „nicht nicht kommuniziert werden kann“. Der nuschelnde A, der „Das ist ein Fisch“ geäußert hat, wird lediglich dann Rückschlüsse auf seine Verständlichkeit schließen können, wenn B tatsächlich reagiert. Nimmt B die Aussage lediglich hin, ist ein Rückschluss hingegen erneut interpretationsbehaftet: Möglicherweise hat B trotz undeutlicher Aussage „Tisch“ verstanden. Womöglich hat er zwar „Fisch“ vernommen, den Hörfehler jedoch selbst bereinigt und sich die Mühe der verbalen Korrektur erspart. Denkbar ist auch, dass B überhaupt nichts verstanden hat und nicht reagiert, weil er sich nicht angesprochen gefühlt hatte. Es bleibt in jedem Fall paradox: „Die Sprache ist ein Labyrinth von Wegen. Du kommst von einer Stelle und kennst dich aus; du kommst von einer anderen Stelle, und du kennst dich nicht mehr aus.“77 Kurzum: Geglückte Kommunikation ist Zufall. Das vergnügliche Spielchen kann darüber hinaus ad infinitum weitergetrieben werden, da neben die sprachliche Ebene zudem Gesten, Mimik, Begleitumstände, Erfahrungen, Gefühle, Stimmungslagen, Absichten etc. treten, die ebenfalls interpretiert und abgeglichen werden müssen. „Faktischer Konsens kann, wenn man darunter gleichzeitiges und gleichsinniges Erleben versteht, […] nur ein sehr seltenes Ereignis sein, und jedenfalls kann es in Bezug auf konkreten, verweisungsreichen Sinn nicht einmal voll adäquates aktuelles Erleben, geschweige denn vollen Konsens geben.“78 Ob das, was gesagt wurde, das ist, was gemeint wurde, bleibt Ansichtssache, im Grunde somit sozialer Kompromiss. Hinzu kommt die dauerhafte Interpretationsschematik menschlicher Wahrnehmung.79 Reizaufnahme ist kein linearer Akt, sondern ein innerhalb des Individuums stetig dialogisches Abgleichen. Das Aufgenommene wird mit Bekanntem und Tradierten korreliert und in vorgestanzte Schubladen einsortiert. Schemata und Heuristiken erleichtern die Reduktion allumfassender Komplexität: Beschränkte Sinnesorgane 80 liefern Wahrnehmungsfetzen, die durch Interpretation zu individuell stimmigen Konstrukten verklebt werden. 81 Der rezipierte 77 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Nachdruck 2003, S. 134. 78 Luhmann, Rechtssoziologie, 1972, S. 67. 79 Im Sinne Lenks, Erfassung der Wirklichkeit, 2000, S. 7. 80 Das lässt sich am besten anhand optischer Täuschungen belegen. Sogar wenn man sie als solche erkennt, funktionieren sie weiterhin, da der mechanische Vorgang der Reizverarbeitung nicht durch „vernünftiges“ Denken überwunden werden kann. Man erkennt, dass es sich um eine Täuschung handelt, nimmt sie dennoch weiterhin wahr. 81 Lesenswert Fischhoff/Beyth, Organizational Behavior and Human Performance 13 (1975), 1; Anschlussstudien von Ofir/Mazursky, Organizational Behavior and Human Decision Processes 69 (1997), 51; Anderson/Lowe/Reckers, Journal of Economic Psychology 14 (1993), 711 (715 ff.); Christensen-Szalanski/Willham, Organizational Behavior and Human Decision Processes 48 (1991), 147. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 301 Oliver Harry Gerson _____________________________________________________________________________________ Inhalt des Gegenübers wiederum ist abhängig von unzähligen Verzerrungsfaktoren, da – vor allem bei Überredungs- oder Überzeugungsanstrengungen – psychosoziale Reaktanzphänomene auftreten. Vorgefestigte Ansichten werden dauerhaft verteidigt82, dissente Informationen somit entweder ignoriert, umgedeutet oder in ihrer Bedeutung abgeschwächt.83 Das Individuum strebt dabei nach kognitiver Balance 84, die vor vehementer Erschütterung mithilfe von Selbstreferenzen 85 und Rückschaufehlern86 verteidigt wird. Ob das Wahrgenommene einen Bezug zur Realität, d.h. zur „ontologischen Wahrheit“ hat, ist dem Einzelnen dabei nicht erfahrbar. 87 Das konstruierte Bild (das Ergebnis des Reizverarbeitungsprozesses) stellt ausschließlich die subjektive Wirklichkeit des Individuums dar. „Das ist ein Tisch“ ist damit im Idealfall eine intersubjektive Verständigung auf den Umstand, dass es sich beim aufgezeigten Möbel um einen Gegenstand handelt, der in unserem Kulturkreis als Ablage verwendet wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Informationsaustausch gelingt, ist gering. Die Universalität der Aussage hingegen ist null, den in einer Welt, in der Tische „Stuhl“, Stühle „Pferd“ und Pferde „Zug“ heißen, verkommt die Allgemeingültigkeit einer „wahren“ Aussage zum kontextabhängigen Konsens.88 Die erste Erkenntnis bezogen auf den „offenen geistigen Kontakt“ ist mithin: Er ist bereits, er muss nicht erst erschaffen werden. Jeder zwischenmenschliche Kontakt ist kognitive Begegnung, die geistige Prozesse nach sich zieht, die aufgrund ihrer mannigfaltigen Interpretationsverzerrungen und -fehler permanent offen ausgestaltet sind: Wahrnehmung ist Interpretation, Kommunikation ist gelenkte Konstruktion. Geeigneter als „Unrechtspakt“ oder „Verursachung“ beschreibt der „offene geistige Kontakt“ somit den dauerhaften Zustand des schwelenden Missverständnisses menschlicher Kommunikation. b) Manipulation als Erschaffung nicht-kontingenter Wirklichkeitskonstruktionen Kommunikativer Austausch ist demzufolge ein Akt der Interpretation, d.h. geistiger Kontakt damit nicht lediglich möglich, sondern unvermeidbar: „Man kann nicht nicht kommunizieren“. Wie findet unter diesen Umständen Beeinflussung statt? Beeinflussung meint den Einfluss auf den individuellen Akt der Konzeptfindung. Sie impliziert drei Ebenen: Den Akt der Kommunikation, den Akt der Manipulation und den Akt der Verantwortungsübernahme. Um das Phänomen der Beeinflussung zu verstehen, ist erneut an das oben Ausgeführte zu erinnern: Jedes Individuum konstruiert durch Wahrnehmungsinterpretation seine eigene, individuelle, subjektive Welt. Damit ist zwar das Individuum selbst autonom, nicht gilt das hingegen für seine „Realitäten“. Diese sind dauerhaft Außenreizen ausgesetzt, die sie entweder bestätigen, widerlegen, abgleichen, verhärten usw. Einer der vielen Einflussfaktoren ist die kognitive Penetration durch Handlung eines Dritten mittels Kommunikation. Die subjektive Welt des Manipulators und die subjektive Welt des Manipulierten sind dabei so lange selbstreferenziell, bis die Perturbation (in diesem Fall einseitig) forciert wird. 89 Das führt sprichwörtlich zum „Krieg der Welten“. Dieser Krieg kennt zahlreiche Methoden der Kriegsführung, von der Überwältigung90, über die List91 bis hin zum Schulterschluss92. Wird ein Wille beeinflusst, wird gleichwohl nicht in dem Sinne wirklich auf ein Vorstellungsbild eingewirkt, dass ein Gedanke in den Kopf „eingepflanzt“ würde.93 Zwar ist dieses möglich, fällt allerdings in die psychologische und psychotherapeutische Diagnostik und Behandlung. 94 Beeinflussung 89 82 Schünemann, in: Kerner/Kury/Sessar (Hrsg.), Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentstehung und Kriminalitätskontrolle, 1983, S. 1117 (1131 ff.); ausführlich zum parallel verlaufenen „Assimilations-Kontrast“ bzw. zur Social Judgment Theorie nach Sherif/Hovland, vgl. Raab/Unger/Unger, Marktpsychologie, Grundlagen und Anwendung, 2010, Kap. 2, S. 22 f. m.w.N. Zum Teil werden weitere Formen unterschieden: Elimination, Addition, Substitution, Zieländerung, Leugnung, Revidierung, Mischformen, vgl. Raab/Unger/ Unger (a.a.O.), Kap. 4, S. 43 f.; Röhl (Fn. 52), § 28 S. 238 f.; 83 Raab/Unger/Unger (Fn. 82), Kap. 4, S. 42. 84 Festinger, A theory of cognitive dissonance, 1962. 85 Watzlawick/Ulrich, Wie wirklich ist die Wirklichkeit?, Wahn – Täuschung – Verstehen, 1976 (Sonderausgabe 2003), S. 73. 86 Bernard, forum poenale 2013, 112 (114). 87 Das ist Kernaussage des Konstruktivismus, vgl. nur Sutter, Interaktionistischer Konstruktivismus, 2009, S. 42; Gerson (Fn. 62), Teil 2 Abschnitt 2 und 7. 88 Damit ist die Brücke zu den Diskurstheorien geschlagen, vgl. Fn. 75. Watzlawick/Ulrich (Fn. 85), S. 6; Krotz, in: Karmasin/ Rath/Thomaß (Hrsg.), Kommunikationswissenschaft als Integrationsdisziplin, 2014, S. 19 (34); das erkennt auch Puppe, GA 1984, 101 (102). 90 Bzw. Unterwerfung. 91 Der Definitionenstreit zwischen List und Täuschung ist noch nicht ausgefochten. 92 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 28. Aufl. 2014, § 9 Rn. 1; Wilhelm, Vom Bedeutungsverlust der Hauptverhandlung, Texte und Ergebnisse des 38. Strafverteidigertages Dresden, 21.-23. März. 2014, 2015, S. 7 (26 ff.). Neutralere Beziehungsgeflechte sind die sog. „Kontaktsysteme“, vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1978, S. 75. Das BVerfG (Beschl. v. 1.7.2014 – 2 BVR 989/14 = StV 2014, 649) möchte darunter beispielsweise auch das Zusammenspiel von Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung bei der Absprache nach § 257c StPO verstehen; zur Wirkmächtigkeit von Schulterschlüssen auch Gerson (Fn. 62), Teil 1 Abschnitt 3. 93 So bereits zutreffend Less, ZStW 69 (1957), 43 (50 ff. m.w.N.), zu den zur damaligen Zeit herrschenden Erkenntnissen der Psychologie. 94 Instruktiv zu Formen und Funktionen von Hypnose vgl. Wadden/Anderton, Psychological Bulletin 91 (1982), 215. _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 302 Strafgrund, Wesen und Tathandlung der Anstiftung, § 26 StGB – Teil 2 _____________________________________________________________________________________ im täglichen Umgang findet hingegen über die Erschaffung einer anders gelagerten Wirklichkeitskonstruktion statt. 95 Um dies zu verdeutlichen, ein weiteres Beispiel: Betrachtet man eine Szene, in der A dem B mit der flachen Hand auf die Wange schlägt, ist die ontologische Realität klar: A schlägt B. Das ist die Wirklichkeit erster Ordnung96, die korrespondenztheoretische Übereinstimmung von Realität und Wahrnehmung. Durch Interpretation wird diese erste Ordnung (die „wirkliche Welt“) modifiziert: Handelt es sich um einen Streit, bei dem A den B beleidigt hat und zusätzlich handgreiflich wird, handelt es sich wohl um eine Ohrfeige. A greift B an und begeht eine Körperverletzung, § 223 StGB. Abgeleitete Realität 1: Angriff des A auf B durch Ohrfeige. Ist das Umfeld hingegen eine Spielszene und sind A und B Schauspieler, liegt zwar weiterhin eine Ohrfeige vor. Die Deutung ist allerdings eine andere: Weder wurde B beleidigt, noch lag ein sonstiger Angriff auf geschützte Rechtsgüter vor. Selbst wenn dies tatbestandlich angenommen wurde, war B einverstanden und willigte zumindest in die Körperverletzung ein. Abgeleitete Realität 2: Kein Angriff des A auf B durch Ohrfeige, sondern harmlose Spielszene. Wieder anders ist die Sachlage zu beurteilen, wenn B eine stechbereite Hornisse auf der Wange saß, er in beiden Händen jedoch schwere Einkaufstaschen trägt und sie daher nicht selbst entfernen konnte. Der Schlag des A ist in diesem Fall keine Ohrfeige, sondern eine erforderliche Hilfe, um den wesentlich schmerzhafteren Stich des Insekts abzuwehren. Abgeleitete Realität 3: Kein Angriff des A auf B, sondern erwünschte Hilfe. Je nach Begleitumständen und Informationsmaß ändert sich die Interpretation der Wirklichkeit erster Ordnung. Ontologische Realität erster Ordnung (die „wirkliche Welt“) bleibt dem Individuum dauerhaft verwehrt, da er interpretativ wahrnimmt, d.h. seine Umwelt aktiv als Prozess der Beschreibung und Erfindung erfährt. „Das vermeintlich Gefundene ist ein erfundenes, dessen Erfinder sich des Aktes seiner Erfindung nicht bewußt ist, sondern sie als etwas von ihm Unabhängiges zu entdecken vermeint und zur Grundlage seines ,Wissens‘ und daher auch seines Handelns macht.“97 Das zeitigt enorme Auswirkungen auf die Erkenntnisweite: Der Mensch ist lediglich zur Wahrnehmung von Wirklichkeiten abgeleiteter, zweiter Ordnung fähig. Er erkennt entweder einen wirklichen Angriff auf B, einen vermeintlichen in der 95 Anders geht Amelung (Fn. 20), S. 163 ff. die Sache an: Er nutzt die Erkenntnisse der Sprechakttheorie, um darzulegen, dass die Anstiftungshandlung positiv und negativ sanktionierenden Motivationscharakter entfaltet. Das ist absolut zustimmungswürdig, wirkt sich jedoch nicht erst auf die Bestimmenshandlung, sondern bereits auf den Strafgrund aus. Die Motivationswirkungen von Sprechakten sind zwar Grundlage des kommunikativen Austausches, indes keine Besonderheit der Anstiftung. 96 Begriff nach Watzlawick. 97 Watzlawick, Die erfundene Wirklichkeit, Wie wissen wir, was wir glauben?, Beiträge zum Konstruktivismus, 1978, S. 9 f. Spielszene, oder eine Hilfsaktion vor dem unangenehmen Hornissenstich. Drei Beobachter erfahren damit (mindestens!) drei subjektive Welten. Fragen auf dieser reflexiven Ebene der „Wahrheit“ – der sog. Wirklichkeit zweiter Ordnung – zeigen auf, dass bereits der erste Schritt der Interpretation eines Außenreizes den Zugang zur „Wahrheit“ grundlegend verändert.98 Ob die eigene Interpretation der Szenerie mit der „wirklichen Wirklichkeit“ korrespondiert, ist dabei allein dem Zufall geschuldet, da es abhängig ist von individueller Auffassungsgabe, Informationsstand und der Fähigkeit zur irrtumsfreien Sachverhaltseinschätzung: Konnte der Beobachter die Drehkulissen erkennen? War die hornissengeschmückte Wange ihm zugewandt? Wie weit stand er entfernt? Was ging dem Schlag an Vorfeldumständen voraus? Wie viel Erfahrung hat der Rezipient mit Gewalt in der Öffentlichkeit, ist er ein wacher Beobachter oder eher ein „träger Geist“? usw. Wirklichkeiten erster Ordnung werden demzufolge durch interpretative Näherung erfahren, die Ableitung ist Konstruktion, d.h. die subjektive Welt des Einzelnen bestimmt sich durch seinen Auffassungsgabe und seinen Informationsstand. Bei knapp sieben Milliarden Menschen existieren daher mindestens so viele Interpretationen der „identischen“ Szene, wenngleich sich viele ihrem „sozialen Sinngehalt“ nach ähneln und angleichen werden. Was ist in dieser kognitiv-psychologischen Einbettung nun unter Manipulation zu verstehen? Manipulation (manus: „Hand“; plere: „halten“; im übertragenen Sinne etwa Hand anlegen, Kunstgriff) kann als Oberbegriff zahlreicher willensbeeinflussender Handlungen gefasst werden. Sie variiert in allen Abstufungen allerdings lediglich graduell, nicht strukturell. Unter Manipulation im weiteren Sinne fallen u.a. Überreden, Motivieren, Drängen, Drohen etc., d.h. jede Form der Einwirkung auf den Willensbildungsprozess eines Dritten, der diesen fördert, mindert oder variiert. Wichtig ist dabei: Diese Formen der Beeinflussung setzen eine Übereinstimmung im subjektiven Weltbild voraus: Motivator und Motivierter sprechen über die weitgehend identische Lebenswelt, da sogar eine Drohung ausschließlich in den Fällen wirkt, in denen der Bedrohte das konfrontierte Übel „versteht“.99 Es genügt nicht allein, dass der Manipulator das Gefühl beim Manipulierten erweckt, nicht „Nein“ sagen zu können oder eine Autorität fürchten zu müssen. 100 Das verstärkt die Wirkung zwar durchaus, ist jedoch nicht der Wesenskern der Manipulation. Diese kognitive Gleichrichtung ist streng von der kognitiven (und kommunikativen!) Entmündigung zu unterscheiden: Manipulation im engeren Sinne ist Instrument der Überlistung: Es ist das bewusste Verheimlichen, Umdeuten oder Indoktrinieren von Umständen, die zur Konstruktion einer nicht kontingenten Wirklichkeit zwei98 Benkel, BIOS 2011, 6 (12 ff.); dazu auch Gerson (Fn. 62), Teil 2 Abschnitt 7. 99 Nur dann macht es z.B. Sinn, bei § 240 StGB eine Drohung abzulehnen, wenn der Bedrohte durch „besonnene Selbstbehauptung“ widerstehen konnte. 100 So vor allem Redmann (Fn. 5), S. 116 ff. im Anschluss an Amelung. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 303 Oliver Harry Gerson _____________________________________________________________________________________ ter Ordnung beim Beeinflussten beitragen: Lebensrealität des Manipulators und erzeugte Lebenswelt des Manipulierten sind weder gleichgerichtet noch identisch, sondern aufgrund der Manipulation verschieden. Untechnisch gesprochen „irrt“ der Täter über den (herrschenden) sozialen Konsens der Lebenswelt.101 aa) Manipulation i.e.S. (nicht-kontingente Wirklichkeiten): Mittelbare Täterschaft Das ist auf das materielle Strafrecht und die Abgrenzungsfrage der Teilnahme (speziell des § 26 StGB) zur Täterschaft übertragbar und stützt gleichzeitig das Kriterium der „Tatherrschaft“. Am Beispiel der „Ohrfeige“ kann dies verdeutlicht werden: Betrachten C und D die Szenerie um A und B, entspinnt sich automatisch ein „Interpretationsvieleck“: Erkennt beispielsweise C, dass es sich um eine Schauspielszene handelt und bemerkt zugleich, dass dies dem D nicht bewusst ist, hat er einen Interpretationsvorsprung (d.h. einen Wissensvorsprung) gegenüber dem D inne. Fordert er – darauf basierend – den D auf, dem B aufgrund des Angriffs durch A zu Hilfe zu eilen und A wegzustoßen, weil B angeblich massiv von A attackiert werde, manipuliert er den D (im engsten Sinne!). Er offenbart ihm Informationen, die bei D eine Konstruktion erwirken, die diesen zu der Überzeugung gelangen lassen, dass B hilfebedürftig ist. Während C richtigerweise die Ungefährlichkeit der Situation erkennt, interpretiert D einen Angriff auf B und leistet vermeintlich Nothilfe, § 32 StGB. Cs Lebensrealität und die des beeinflussten D sind aufgrund der Manipulation des C indes nicht mehr kontingent, wobei der C den Interpretationsvorsprung innehatte. Konnte der eingreifende D unter keinen Umständen erahnen, dass er falsch konstruiert hat, unterlag er einem Erlaubnistatbestandsirrtum, der ihm (unabhängig von dem Streitstand), zum nicht strafbaren Werkzeug des C verkommen lässt. C ist daher als mittelbarer Täter nach § 25 Abs. 1 Var. 2 StGB zur Verantwortung zu ziehen.102 bb) Manipulation i.w.S. (kontingente Wirklichkeiten): Anstiftung Bei der Anstiftung nach § 26 StGB liegt die Lage komplizierter. Sofern auch D erkennt, dass es sich lediglich um einen Filmdreh handelt, wird seine Konstruktion derjenigen des C gleichwertig. Beide, C und D, gehen von einem subjektivkontingenten Interpretationskonstrukt aus: Sogar wenn beide falsch liegen (es handelt sich z.B. tatsächlich um einen echten Angriff durch A), ist ihrer beider Wirklichkeit zweiter Ordnung kongruent, sie befinden sich „im Konsens über die soziale Bedeutung der Szenerie“. Lässt sich der D in dieser Konstellation dennoch überreden, den A anzugreifen, kann 101 Rechtliche Irrtümer in Täterschaft-/Teilnahmekonstellationen bergen diverse Untiefen, vgl. eingehend Bloy, ZStW 117 (2005), 3 (5 ff.). 102 Roxin (Fn. 18), § 25 Rn. 67; Schünemann (Fn. 33), § 25 Rn. 88; Haas (Fn. 31), § 25 Rn. 13; Murmann, JA 2008, 321 (323); Hoyer (Fn. 11), § 25 Rn. 72; Hünerfeld, ZStW 99 (1987), 228 (237). dies nicht an einer Fehldeutung der wahrgenommenen Umstände allein liegen, da der C dem D gegenüber keinen Interpretationsvorsprung innehat. Stattdessen findet eine kommunikative und kognitive Übereinkunft zwischen C und D statt. Es bedarf der Übernahme der Gedanken des C durch D und eines Konsenses über die Tatbegehung. Mithin wird ein zunächst verblüffendes Ergebnis erzeugt: Der „geistige Kontakt“, ist eine kognitive Übereinkunft von C und D, da sie das identische Wahrnehmungskonstrukt teilen müssen (oder das zumindest glauben103), um die Tat begehen zu können. Daher scheint die Initialzündung durch C, die er dem D übermittelt, und die dieser übernimmt, konsekutiv tatsächlich einem „Pakt“ gleichzukommen. Dieser bewirkt gleichwohl nicht, dass sich beide über das Unrecht der Tat einig sind (wie es Puppe annehmen würde), sondern dass beide das identische Wirklichkeitskonstrukt wahrnehmen und der Angestiftete der vorgeschlagenen Tatbegehung in dieser Form zustimmt. Irrt der Anstifter über die Welt, die er dem Täter instruiert hat und begeht dieser daher eine aliud-Tat, die der Anstifter nicht vorhersehen konnte, kommt lediglich versuchte Anstiftung in Betracht, § 30 StGB.104 c) Verantwortungsübernahme als Zurechnung Problematisch ist auch die Behandlung des bereits zur Tat Geneigten (omnimodo facturus). Dieses Problem ist über den Zeitpunkt der zurechenbaren Verantwortungsübernahme zu entscheiden. Fraglich ist vor allem, ob der bereits Tatgeneigte noch angestiftet werden kann. Das ist im Gegensatz zu Puppe zu verneinen.105 Zwar wäre theoretisch konstruierbar, dass der Anstifter auf den fixierten Plan des Täters „aufsattelt“. Der Strafgrund der Anstiftung liegt allerdings nicht in der gemeinsamen Tatüberzeugung (so bei der Mittäterschaft), und nicht allein in der Akzessorietät der Teilnahme, sondern in der Initialzündung durch den Anstifter, der, ohne selbst tatbestandsmäßig zu handeln, das tatbestandsmäßig geschützte Rechtsgut mittelbar angreift106 und den Täter durch Manipu103 Hier liegt das Einfallstor für rechtliche Irrtumskonstellationen, vgl. Bloy, ZStW 117 (2005), 3 (25 ff.); zum Exzess eingehend Weßlau, ZStW 104 (1992), 105. 104 Joecks (Fn. 1), vor § 26 Rn. 63; Hoyer (Fn. 11), vor § 26 Rn. 44. Das Problem wird über die „Wesentlichkeit“ der Abweichung, d.h. im Grunde wie beim Exzess gelöst, vgl. Haas (Fn. 31), § 26 Rn. 36 ff.; Hoyer (Fn. 11), § 25 Rn. 142 f., der genauer in vorsätzlichen und fahrlässigen Exzess trennt. 105 BGHSt 45, 373 (374); ebenso BGH NStZ 1994, 29 (30); Roxin (Fn. 18), § 26 Rn. 65; Hünerfeld, ZStW 99 (1987), 228 (249); Jescheck/Weigend (Fn. 19), § 64 Rn. 2c, S. 689; Puppe geht hingegen davon aus, dass es die Rechtsfigur des omnimodo facturus nicht gebe, da im Moment der Beeinflussung des Tatentschlusses die Ausführungshandlung noch nicht begonnen habe. Pläne und Vorhaben seien jedoch strafrechtlich irrelevant, vgl. Puppe (Fn. 7), § 22 Rn. 6; dies., GA 1984, 101 (117); dies., GA 2013, 514 (520); ähnlich auch Hoyer (Fn. 11), § 26 Rn. 8 f. 106 Schünemann (Fn. 33), vor § 26 Rn. 1. _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 304 Strafgrund, Wesen und Tathandlung der Anstiftung, § 26 StGB – Teil 2 _____________________________________________________________________________________ lation einer nicht-kontingenten Wirklichkeitskonstruktion sozial desintegriert. Chronologisch betrachtet muss der Akt der Beeinflussung daher zeitlich vor der Überzeugung zur Tat liegen.107 Ausschließlich in diesen Fällen übernimmt der Anstifter die Verantwortung für die „geistige Urheberschaft“108 der Tat.109 Zudem hat der Anstifter keine Tatherrschaft inne110, da ein Rest an Selbstständigkeit und Interpretationshoheit beim Täter verbleiben muss, um diesen nicht als „Werkzeug“ einzustufen.111 2. Zwischenfazit: „Bestimmen“ als kommunikativer Manipulationsakt sozialer Desintegration – Pathologischer Diskurs erster Stufe Der offene geistige Kontakt ist damit tatsächlich die taugliche Formel zur Beschreibung der Tathandlung des „Bestimmens“ und fügt sich in die Wesensdeutung der Anstiftung stimmig ein. Entscheidend ist, dass der Anstifter zeitlich vor der Übernahme der Tatidee durch den Täter zurechenbar auf diesen kommunikativ eingewirkt hat. Zeitlich nachgelagerte und intensiv manipulative Einwirkungen fallen damit aus dem Anwendungsbereich der Anstiftung heraus. Diese Deutung kommt der Näherung von J. Schulz nahe, der Anstiftung als „Planherrschaft“ („Entscheidungsherrschaft“112/in besonderen Konstellationen Irrtumsherrschaft113) versteht: „Gehilfe ist, wer sich mit seinem Rat in die vom Täter gesetzte Vorgabe einfügt, Anstifter, wer die Vorgabe schafft oder motiviert“.114 Terminologisch stimmiger ist jedoch Lampe beizupflichten, der diese Phänomene nicht der Herrschaft, sondern der Macht zuordnen möchte.115 Demzufolge kann genauso 107 Ebenso Krey/Esser (Fn. 1), Rn. 987 ff.; a.A. freilich Puppe (Fn. 7), § 22 Rn. 6 f., was jedoch daran liegt, dass sie den omnimodo facturus ablehnt, da Pläne und Vorhaben im Strafrecht irrelevant seien und es daher lediglich auf die Tatausführung ankomme; vgl. auch dies., GA 1984, 101 (117). 108 Krey/Esser (Fn. 1), Rn. 987: „primärer Urheber“; dieser Gedankengang geht auf Feuerbach zurück, der zwischen mandantum und concilium (in der Fortführung Carzops und Pufendors) trennte, vgl. Haas, ZStW 119 (2007), 519 (537 ff.); Lüderssen, Zum Strafgrund der Teilnahme, 1967, S. 61; Trechsel (Fn. 60), S. 5; 46 ff.; zur Scheu der Fachdiskussion vor dem Urheberbegriff auch Lampe, ZStW 119 (2007), 471 (473); Maiwald (Fn. 38), S. 285 ff. 109 Das Verantwortungsprinzip ist wesentliches Merkmal der Tatherrschaftslehre, vgl. Schünemann, in: Hoyer/Müller/ Pawlik/Wolter (Fn. 20), S. 401 (402 ff.); bei Wissensüberlegenheit allerdings ebenso in Form der Irrtumsherrschaft; differenzierend Hoyer (Fn. 11), § 25 Rn. 93 ff.; zur Geschichte des Urhebergedankens bei der Anstiftung Maiwald (Fn. 38), S. 293. 110 Das ist der Teilnahme immanent, vgl. Krey/Esser (Fn. 1), Rn. 813 und Rn. 983. 111 Jescheck/Weigend (Fn. 19), § 61 Rn. 2 f., S. 664. 112 Schild (Fn. 2), § 26 Rn. 5. 113 Hünerfeld, ZStW 99 (1987), 228 (243) m.w.N. 114 J. Schulz, Die Bestrafung des Ratgebers, 1980, S. 145; in diesem Sinne auch Joecks (Fn. 1), § 26 Rn. 20. 115 Lampe, ZStW 119 (2007), 471 (479 ff.). von Planungsmacht und Irrtumsmacht gesprochen werden, was jedoch, anders als bei Lampe, nicht zu einer Abkehr von der Konstruktion der Tatherrschaft ihrem Sinngehalt nach führen soll.116 Die Abgrenzung der Anstiftung von der mittelbaren und der Mittäterschaft ist demnach nicht anhand der Qualität der Unrechtsvereinbarung zu erklären, sondern mithilfe der Intensität der Manipulation. Bleibt der Vordermann autonom117, kann er selbst Tatherrschaft ausüben, um Täter zu sein. Ausschließlich in den Fällen, in denen Manipulator und Manipulierter von einer identischen Wirklichkeit zweiter Ordnung ausgehen, ist Anstiftung überhaupt möglich. Wird der Manipulierte hingegen zu einer anderen (u.U. nicht strafbaren) Wirklichkeit veranlasst, liegt mittelbare Täterschaft vor. Da die Beeinflussung bei der Anstiftung nicht so weit gehen darf, dass ein „falsches“ Wirklichkeitsbild entsteht, wird die Frage nach der Verantwortlichkeit des Anstifters auf den Zeitpunkt der zurechenbaren Kommunikation verlagert.118 Manipuliert der „Hintermann“ den „Vordermann“ so stark, dass kein eigener Raum für eine individuelle Interpretation der Umstände mehr überbleibt, handelt es sich um eine Tatherrschaft kraft überlegenen Wissens, mithin mittelbare Täterschaft. Wurde der andere lediglich „überredet“, übernimmt den Vorschlag jedoch eigenständig, bleibt Raum für die Verankerung der Anstiftung. Die eigenständige Übernahme des Vorschlags ist als Vereinbarung zu verstehen bzw. als Konsens über die Verbrechensbegehung unter Zugrundelegung kongruenter und kontingenter Wirklichkeitskonstruktionen. Mittäterschaft grenzt sich von beidem durch die gemeinsame Begehung der Tat unter Zugrundelegung eines gemeinsamen Tatplanes ab. Demnach trennt den Anstifter vom mittelbaren Täter der Grad der Manipulation, vom Mittäter hingegen der Zeitpunkt der Intervention. IV. Fazit: Anstiftung als doppelt-pathologischer Diskurs Mithin kann keine der dargebotenen Begründungsansätze zu Strafgrund, Wesen und Tathandlung der Anstiftung neben der kommunikativen Deutung vollumfänglich überzeugen. 119 Die Schuldteilnahmetheorie i.e.S. ist nicht mehr mit dem Gesetz vereinbar. Sie durch die Verursachungstheorien verschiedener Ausgestaltung abzulösen kann nicht funktionieren, da diese den erhöhten Strafrahmen der Anstiftung gegenüber der Beihilfe nicht erklären können. Um dem Wesen der Anstiftung daher gerecht zu werden, ist der Umstand der sozialen Desintegration und der Korrumpierung des Täters 116 Zu Lampes eigener (eher verwirrenden Terminologie) von Tatmacht, Herrschaft, Herrschaftsmacht vgl. Lampe, ZStW 119 (2007), 471 (481 ff.). 117 Das Merkmal der Autonomie ist bei Renzikowski herausgearbeitet: Vorliegen von Autonomie beim Vordermann schließt mittelbare Täterschaft beim Hintermann aus; ähnlich auch Schumann in seinem Modell der „Selbstverantwortung“; kritisch zu diesen Konzepten der Autonomie gleichwohl Roxin (Fn. 18), § 25 Rn. 177 und 182 m.w.N. 118 Zum Zurechnungsproblem instruktiv Schild (Fn. 2), § 26 Rn. 17 ff. 119 So auch das Fazit von Amelung (Fn. 20), S. 178. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 305 Oliver Harry Gerson _____________________________________________________________________________________ erneut in die Erwägungen zur Strafbegründung mit einzubeziehen. Der Anstiftung immanent ist ein Element der „Verführung“, der „Manipulation“ und der „Korrumpierung“. Der Täter wird in einen pathologischen Diskurs mit der Gesellschaft gedrängt, da er eine Tat kommunikativ verantworten muss, die geistig vom Anstifter herrührt. Wesen der Anstiftung ist die Korrumpierung des Täters, Strafgrund die dadurch erzeugte soziale Desintegration in Kombination mit der mitbewirkten Rechtsgutverletzung mittels des Täters (dazu bereits oben ZIS 2016, 183 ff.).120 Diese Deutung entfaltet zudem Auswirkungen auf die Tathandlung des „Bestimmens“: Das Erfordernis eines Unrechtspaktes erkennt zwar, dass der Anstifter die Tat als solche wollen muss und dass es einer „Einigung“ darüber bedarf. Da diese Auffassung allerdings kein zeitliches Moment hinzuzieht, gelingt ihr die Abgrenzung zur „Einigung“ der Mittäterschaft nicht. 121 Jede Form der Teilnahme bedarf eines irgendwie gearteten „Unrechtpaktes“. Zudem hinkt die Vertragsnähe: Das reziproke Element kann vorliegen, ist jedoch keine hinreichende Bedingung des intersubjektiven Konsenses zwischen Anstifter und Täter. Der funktional-ursächlichen Theorie ist zuzugestehen, dass sie zu Recht die Schaffung einer Tatbegehung fordert, die zeitlich vor der Ausnutzung durch den Täter liegen muss. Die Initialzündung durch den Anstifter schafft Raum für die kognitive Übereinkunft, den Tatentschluss des Anstifters übernehmen zu wollen. Dieser Ansatz impliziert damit zwar das Zeitmoment, ihm ermangelt indes das kollusive Element, welches das „Bestimmen“ von der bloßen „Zurechnung“ bzw. der Kausalität abgrenzt. Die akzessorische Anknüpfung an das Unrecht des Täters (bzw. an die selbstständige Rechtsgutsverletzung) umgeht zwar die Weite der reinen Verursachung, wird dem Wesen der Anstiftung als „Verführungshandlung“ allerdings nicht vollumfänglich gerecht. Dem Erfordernis des „offenen geistigen Kontaktes“ ist hingegen zuzugestehen, dass er menschliche Interaktion als Grundbedingung jeder Beeinflussung voraussetzt. Zu weit ginge diese Ansicht lediglich dann, wenn pauschal „Manipulation“ verlangt werden würde. Manipulation reicht, wie aufgezeigt, von der Demonstration von Handlungsalternativen bis zur Konstruktion von Wirklichkeiten zweiter Ordnung. Kognitiver Austausch kann damit sowohl Mittäterschaft, als auch mittelbare Täterschaft oder Anstiftung erzeugen. Entscheidend für die Abgrenzung und damit das „Wesen“ der Anstiftung ist daher der einseitig vom Anstifter hervorgerufene Konsens identisch vorgestellter Welten, wobei der Anstifter keinen wesentlichen Interpretationsvorsprung innehaben darf. Dies ist durch das Erfordernis des „offenen geistigen Kontakts, der den Tatentschluss hervorruft“, bestmöglich umschrieben. Die Anstiftung beinhaltet daher einen doppelt-pathologischen Diskurs („Korrumpierung“ = Wesen der Anstiftung): Die Manipulation durch den Anstifter (pathologischer Diskurs erster Ebene = Tathandlung) führt zur sozialen Desintegration (pathologischer Diskurs zweiter Ebene = Straf120 121 grund) des Täters. Es bedarf für ein Bestimmen im Sinne des § 26 StGB daher der zeitlich vorgelagerten, zurechenbarkommunikativen Steuerung des Täters im kognitiven Einklang der beidseitig kongruent vorausgesetzten Wirklichkeitskonstruktion. Ebenso Amelung (Fn. 20), S. 151. A.A. freilich Puppe (Fn. 7), § 22 Rn. 6. _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 306 Der individuelle Schadenseinschlag beim Betrug Von Adriano Teixeira, LL.M., München* I. Einleitung Angesichts der neueren Rechtsprechung des BVerfG (BVerf GE 126, 170; 130, 1) zum Tatbestandsmerkmal des Vermögensnachteils bei der Untreue (§ 266 StGB) und des Vermögensschadens beim Betrug (§ 263 StGB), wonach normative Gesichtspunkte bei der Bewertung von Schäden zwar eine Rolle spielen, die wirtschaftliche Betrachtung jedoch nicht überlagern oder verdrängen dürfen, hat der 5. Senat des BGH in zwei Entscheidungen aus dem Jahr 2014 die Frage gestellt, letztlich aber offengelassen, ob die Grundsätze der objektivindividuellen Schadensberechnung in Teilen einer Korrektur bedürfen.1 Zugleich hat der 5. Senat, wenn auch eher obiter dicta,2 dabei auf die Notwendigkeit einer Einschränkung des Anwendungsbereichs der Figur des individuellen Schadenseinschlags hingewiesen.3 Ziel dieses Beitrags ist die Klärung der Frage, ob die verfassungsrechtlichen Sorgen des 5. Strafsenats des BGH um den individuellen Schadenseinschlag begründet sind. Dies soll in zwei Schritten erfolgen. Erstens wird analysiert, inwieweit die vom BGH entschiedenen Fälle tatsächlich die Rechtsfigur des individuellen Schadenseinschlags im Lichte der Vorgaben des BVerfG betreffen (III.). Zweitens wird in einem allgemeineren Rahmen die Berechtigung und Grenze der Individualisierung des Vermögenschadens angesprochen (V.). Davor aber bietet sich eine kurze Rekapitulation der Entstehung des individuellen Schadenseinschlags an (II.). * Der Verf. dankt Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann für die wertvolle Hilfe sowie Herrn Prof. Dr. Luís Greco, LL.M, für zahlreiche Anregungen und für die Möglichkeit, das Thema beim Rechtsphilosophischen Donnerstag-Seminar an der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg diskutieren zu können, und Herrn Dr. Peter Kasiske für die sprachliche Korrektur des Textes. 1 BGH NStZ 2014, 318 (320); BGH NStZ 2014, 517 (518); dazu vgl. Schlösser, HRRS 2014, 395 (398); Schmidt, NJW 2015, 284 (285); Rostalski, HRRS 2016, 73 (74). Nichtdestotrotz hat der 2. Strafsenat auf dieses Institut ohne Einschränkung in einem Urteil aus demselben Jahr zurückgegriffen, vgl. BGH NJW 2014, 2595 (2598 ff.); hierzu noch unten III. 2. c). Außerdem hat sogar das BVerfG (NJW 2013, 368 ff.) die Figur des individuellen Schadenseinschlags im Rahmen der Untreue, vor allem was die erste Fallgruppe angeht, ausdrücklich gebilligt. Die dabei vorgenommene Fallgruppenbildung diene nicht zuletzt der Konkretisierung des Nachteilsmerkmals und sei daher geeignet, den Anwendungsbereich des Untreuetatbestands im Sinne des Bestimmtheitsgebots zu begrenzen. 2 Wessels/Hillenkamp, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 38. Aufl. 2015, Rn. 550, Fn. 290. 3 So sehen es auch Schlösser, HRRS 2014, 395 (397); Schmidt, NJW 2015, 284 (286); anders aber Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 7. Aufl. 2015, § 13 Rn. 179. II. Kurze Rekapitulation Es ist ein altes Dogma der Betrugsdogmatik, dass der das Erfolgsunrecht des Betrugs ausmachende Vermögensschaden durch einen Vergleich des Vermögens des Opfers (i.d.R.: des Getäuschten) vor und nach der Vermögensverfügung festzustellen ist – sog. Prinzip der Gesamtsaldierung.4 Da allerdings eine Bewertung des Gesamtvermögens – verstanden als die Summe der gesamten geldwerten Güter einer Person nach Abzug der Verbindlichkeiten5 – praktisch schwer durchzuführen und letztlich auch unnötig ist, wird lediglich die Leistung des Getäuschten mit der Gegenleistung des Täters (= des Täuschenden) verglichen.6 Wenn sich daraus bei objektivwirtschaftlicher Betrachtungsweise ein Minus zuungunsten des Getäuschten ergibt, also wenn die erhaltene Gegenleistung weniger wert ist als die eigene Leistung, liegt ein Schaden vor. Seitdem sich der ökonomisch-juristische Vermögens- und Schadensbegriff in der Rechtsprechung und in der Literatur durchgesetzt hat,7 wurde diese objektive und marktorientierte Methode der Schadensberechnung kaum in Zweifel gezogen.8 Dennoch wird seit einer bahnbrechenden Entscheidung des BGH aus dem Jahr 1961 (BGHSt 16, 321) angenommen, dass ein Vermögensschaden auch bei objektiver Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung vorliegen kann, wenn der Erwerber a) die angebotene Leistung nicht oder nicht in vollem Umfange zu dem vertraglich vorausgesetzten Zweck oder in anderer zumutbarer Weise verwenden kann, b) durch die eingegangene Verpflichtung zu vermögensschädigenden Maßnahmen genötigt wird, oder c) infolge der Verpflichtung nicht mehr über die Mittel verfügen kann, die zur ordnungsgemäßen Erfüllung seiner Verbindlichkeiten oder sonst für eine seinen persönlichen Verhältnissen angemessene Wirtschafts- oder Lebensführung unerlässlich sind 9.10 4 Grundlegend RGSt 16, 1 (3); m.w.N Wessels/Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 538. 5 BGH 16, 220 (221); Tiedemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 9, 12. Aufl. 2012, § 263 Rn. 132; Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (a.a.O.), § 266 Rn. 165. 6 RGSt 16, 1 (5). 7 Vgl. statt vieler Cramer, Vermögensbegriff und Vermögensschaden im Strafrecht, 1968, S. 100. 8 M.w.N. Perron, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 263 Rn. 99; vgl. aber Kindhäuser, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 4. Aufl. 2012, Bd. 3, § 263 Rn. 284, wonach ein Schaden anzunehmen sei, „wenn die mit der Verfügung verbundene Einbuße an vermögensrelevanter Verfügungsmacht nicht (in vollem Umfang) durch Erreichung des sie rechtfertigenden und vom Täter anerkannten Zwecks ausgeglichen wird“. 9 BGHSt 16, 321 (322 ff.). In dieser grundlegenden Entscheidung ging es um folgenden Sachverhalt: Der Angeklagte, _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 307 Adriano Teixeira _____________________________________________________________________________________ III. Die Bedenken des BGH bezüglich der Figur des individuellen Schadenseinschlags im Lichte der Vorgaben des BVerfG In seiner Entscheidung aus dem Jahr 2010 hat das BVerfG nicht nur die Verfassungsmäßigkeit des Tatbestands der Untreue (§ 266 StGB) im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG bestätigt, sondern auch konkrete Anforderungen für die Auslegung der Tatbestandsmerkmale der Pflichtwidrigkeit und des Vermögensnachteils postuliert.11 Die durch die Gerichte vorzunehmende Auslegung des Nachteilsmerkmals dürfe dieses Tatbestandsmerkmal nicht mit dem Pflichtwidrigkeitsmerkmal verschleifen, das heißt, es in diesem Merkmal aufgehen lassen. Das bedeutet: Aus dem Vorliegen des Pflichtwidrigkeitsmerkmals darf nicht Verkaufsvertreter für Melkmaschinen, hatte den von ihm aufgesuchten Landwirten vorgespiegelt, er könne ihnen die benötigte Anlage weit unter dem normalen Preis als Musteranlage verschaffen. Tatsächlich entsprach der von ihm geforderte und vereinbarte Preis aber dem gewöhnlichen Listenpreis. Einige Interessenten hatte der Angeklagte unter Druck gesetzt, indem er eine sofortige Entscheidung verlangte, andernfalls „in einer Stunde ein anderer Bauer den Vorteil hätte“. Dadurch gelang es ihm, eine Vielzahl von Bauern zum Erwerb der Melkanlage zu bewegen. Wegen des Kaufs war der Landwirt K in finanzielle Schwierigkeiten und die Gefahr der Insolvenz geraten, weil er zu der damaligen Zeit noch andere Verbindlichkeiten hatte. B, der sich ebenfalls in heiklen finanziellen Verhältnissen befand, musste, „um die daraus entstandene Verpflichtung erfüllen zu können, einen verzinslichen Kredit aufnehmen“; die Bäuerin F brauchte eine Melkmaschine für zehn Kühe, die sie auch auf der Weide verwenden könne“, trotzdem hat sie irrtümlich eine Maschine erworben, die nur für zwei bis drei Kühe ausreichte. Bei diesen drei Täuschungsopfern bejahte der BGH trotz Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung den Eintritt eines Vermögensschadens; vgl. die Darstellung etwa bei Cramer (Fn. 7), S. 103 f.; Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 63. Aufl. 2016, § 263 Rn. 147a. Es ist anzumerken, dass vor dieser Entscheidung eine deutlichere Subjektivierung bei der Schadensbestimmung zu beobachten war; vgl. dazu RGSt 16, 1 (11); OLG Neustadt MDR 1960, 945; Lackner, in: Ebermayer/Baldus (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 6, 10. Aufl. 1988, § 263 Rn. 157. 10 Die zwei letzten Fallgruppen wurden in BGHSt 43, 293 (299) – „Bugwellen-Fall“, auch auf den Untreuetatbestand angewandt, dazu kritisch Berger, Der Schutz öffentlichen Vermögens durch § 263 StGB, 2000, S. 187; Schünemann (Fn. 5), § 266 Rn. 234; zur Anwendung des individuellen Schadenseinschlags bei der Untreue vgl. auch OLG Hamm NStZ 1986, 119 (120). Kudlich, in: Fischer u.a. (Hrsg.), Dogmatische und praktische Probleme des Schadensbegriffs im Vermögensstrafrecht, 2015, S. 123 (125), betont neuerdings, dass der Anwendungsbereich eines individuellen Schadenseinschlags wegen Unbrauchbarkeit der Leistung bei § 266 StGB sogar noch größer als bei § 263 StGB sein könne; vgl. ferner Schünemann (Fn. 5), § 266 Rn. 234. 11 Siehe dazu etwa Saliger, ZIS 2011, 902. automatisch auf einen Vermögensnachteil geschlossen werden, vielmehr muss dieser selbständig festgestellt werden (sog. „Verschleifungsverbot“12).13 Außerdem ist der Nachteil der Höhe nach zu beziffern und in wirtschaftlich nachvollziehbarer Weise in den Urteilsgründen zu ermitteln. Aufgrund der vorausgesetzten Identität des Nachteilsmerkmals bei § 266 StGB und des Schadensmerkmals bei § 263 StGB14 wurden diese Maßstäbe vom BVerfG im nächsten Jahr in der sog. Al-Qaida-Entscheidung auf den Betrugstatbestand übertragen.15 Obwohl es bei der obengenannten, vom BVerfG kassierten Entscheidung des BGH vornehmlich um ein Problem des sog. Eingehungsbetrugs bzw. der Vermögensgefährdung ging, hat der 5. Strafsenat des BGH eine Gefahr der unzulässigen (Über)Normativierung des Schadensbegriffs auch im Hinblick auf die Rechtsfigur des individuellen Schadenseinschlags erblickt, wobei er sich hierzu allerdings nicht abschließend äußern wollte. Bei der einen Entscheidung ging es um einen Anlagebetrug, wobei der Anleger über das Verlustrisiko seiner Anlage durch den Anlageanbieter getäuscht wurde.16 Die andere Entscheidung betraf dagegen vornehmlich den Untreuetatbestand, mittelbar aber auch den Betrug. Denn darin ging es um den Fall eines Notars, der Kaufangebote einer Bande betrügerisch tätiger Vermittler von Immobilienverkäufen beurkundet hatte. Durch falsche Versprechungen hatten die Angeklagten, die sich einer besonderen Überrumpelungstaktik zur Gewinnung von Kunden bedienten, die Opfer über die Wirtschaftlichkeit des vorgeschlagenen Immobilienkaufs und damit über die Rentabilität der Kapitalanlage getäuscht. Das alles war dem angeklagten Notar bewusst, der es aber unterlassen hatte, die Kaufinteressenten auf die möglichen wirtschaftlichen Folgen eines Wohnungskaufs aufmerksam zu machen. In beiden Fällen hatte die Vorinstanz einen Vermögensschaden in Gestalt eines individuellen Schadenseinschlags begründet. Der Schaden in Höhe der vollen Investition (Kaufpreis) wurde nämlich darin erblickt, dass die Anleger in „etwas völlig anderes“ als das Versprochene investiert hatten, „nämlich in ein aliud, an dem sie kein Interesse hatten“ (erster Fall), bzw. dass die Investition als Kapitalanlage nicht im versprochenen Umfang für die Kaufinteressenten geeignet 12 Erstmals BVerfGE 92, 1 (16); grundlegend Saliger, ZStW 112 (2000), 563 (569); kritisch gegenüber einem extensiven Verständnis des Begriffs der Verschleifung aber Krell, ZStW 126 (2014), 902 (903). 13 BVerfGE 126, 170 (210). 14 Vgl. nur Schünemann (Fn. 5), § 266 Rn. 164; ders., in: Fischer u.a. (Fn. 10), S. 61. 15 BVerfGE 130, 1 (47 ff.): Die vorangegangene Entscheidung des BGH (BGHSt 54, 69 [122]) wurde zum Teil aufgehoben, weil dort das Tatbestandsmerkmal des Vermögensschadens damit begründet wurde, dass der Täter einen Versicherungsvertrag in der Absicht abgeschlossen hatte, den Eintritt des Versicherungsfalls vorzutäuschen, ohne eine Reihe von Umständen zu berücksichtigen, die der endgültigen Realisierung dieser Gefahr entgegenstanden. 16 BGH NStZ 2014, 318 (319). _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 308 Der individuelle Schadenseinschlag beim Betrug _____________________________________________________________________________________ war (zweiter Fall). In letzterem hatte das LG den persönlichen Schadenseinschlag auch mit dem Ausmaß der Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit der Erwerber begründet. Den Käufern seien, da sie höhere Eigenanteile zur Abdeckung der Finanzierungskosten aufwenden mussten, als ihnen zugesagt worden war, „mit der eingegangenen langjährigen Finanzierungsverpflichtung Mittel entzogen“, die sie für „eine angemessene Wirtschafts- und Lebensführung benötigt“ hätten.17 Der BGH hat der Vorinstanz vorgeworfen, die gebotene Prüfungsreihenfolge der Schadensberechnung nicht gewahrt zu haben, als sie direkt auf den subjektiven Wert des Erlangten für den Verletzten abgestellt hatte. Vorrangig sei nämlich zunächst einmal der sich aus dem Vergleich des Vermögens vor und nach der Verfügung ergebende Saldo zu ermitteln. Nur bei Nichtvorliegen eines Negativsaldos, das heißt, bei objektiver Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung,18 könne in einem zweiten Schritt geprüft werden, ob ein Vermögensschaden unter dem Aspekt des individuellen Schadenseinschlags festzustellen ist.19 Der Fehler lag demnach darin, dass der objektive wirtschaftliche Wert der Investition beim Vertragsabschluss (Eingehungsbetrug), nämlich der erworbene Rückzahlungsanspruch, 20 nicht als erstes bzw. überhaupt nicht bestimmt worden war. Außerdem, führte der BGH weiter aus, auch wenn ein (objektiver) Schaden feststellbar wäre, würde dieser nicht dem vollen Kaufpreis der Anlage bzw. der Immobilien entsprechen, denn das Verlustrisiko lasse die Realisierbarkeit des dennoch verbleibenden Geldwerts prinzipiell unberührt.21 Die Kritik des BGH an den jeweiligen Entscheidungen der Landgerichte trifft zu, soweit festgestellt wird, dass die Anwendung der Rechtsfigur des individuellen Schadenseinschlags fehlerhaft bzw. unnötig war.22 In den beschriebenen Sachverhalten hätte sich ein Schaden bereits durch einen Vergleich des Werts der objektiven Leistungspflicht des Getäuschten mit dem objektiven Wert seines Gegenleistungsanspruchs begründen lassen.23 Konkret: Ein Negativsaldo könnte sich bereits durch das Errechnen des Differenzbeitrags feststellen lassen, wenn nämlich der Kaufpreis den Verkehrswert24 der jeweiligen Immobilie bzw. Anlage überstiegen hätte.25 17 BGH NStZ 2014, 517 (518). Welche stets konkret festgestellt werden muss, vgl. Saliger, in: Matt/Renzikowski (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2013, § 263 Rn. 207. 19 Zur h.M. m.w.N. Perron (Fn. 8), § 263 Rn. 121. 20 BGHSt 51, 165 (174 ff.); BGH NJW 2011, 2675 m.w.N; Wessels/Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 539. 21 BGH NStZ 2014, 318 (320); dagegen Rostalski, HRRS 2016, 73 (80). 22 BGH NStZ 2014, 517; zust. Trüg, NStZ 2014, 520; ders., in: Fischer u.a. (Fn. 10), S. 217 (219); Jäger, JA 2014, 877; anders aber Rostalski, HRRS 2016, 73 (77). 23 Vgl. m.W.N. BGH NJW 2011, 2675. 24 Zur Problematisierung des Begriffs Verkehrs- oder Marktwert siehe Winkler, Der Vermögensbegriff beim Betrug und das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot, Zur Ausle18 Getroffen wird von der Kritik des 5. Strafsenats auch die sog. „Aliud-Rechtsprechung“, die überwiegend Fälle fragwürdiger Anlagegeschäfte betrifft. Danach soll ein Schaden in Höhe der gesamten Anlagesumme anzunehmen sein, „wenn der Anleger über Eigenart und Risiko des Geschäfts derart getäuscht worden ist, dass er etwas völlig anderes erwirbt, als er erwerben wollte (‚aliud‘), die empfangene Gegenleistung für ihn mithin in vollem Umfang unbrauchbar ist“.26 Abgesehen davon, dass durch den Verzicht auf die Bestimmung des Verkehrswerts der Anlage das Gebot der genauen Ermittlung und Bezifferung des Vermögensschadens aus dem Untreue-Beschluss des BVerfG missachtet wird, 27 beinhaltet die Begründung des Schadens in dieser AliudRechtsprechung auch eine Verschleifung der Merkmale Täuschung und Schaden.28 Der Hinweis darauf, dass die Anleger nicht das Anlagemodell erhalten hätten, das sie erwerben wollten, oder dass die Anlage nicht die zugesicherten Eigenschaften hätte, taugt allein für die Begründung der Täuschung, aber nicht für die des Schadens. Denn es gilt immerhin der Grundsatz, wonach der Betrugstatbestand das Vermögen und nicht die Dispositionsfreiheit als solche schützt 29: gung des Merkmals „Vermögen“ in § 263 StGB unter dem Aspekt der Rechtssicherheit, 1995, S. 38 ff. 25 So Tiedemann (Fn. 5), § 263 Rn. 178; Trüg, NStZ 2014, 520. 26 BGHSt 51, 10 (15 ff. m.w.N); siehe auch BGH wistra 2010, 407 („Fall-Falk“), krit. Saliger, ZIS 2011, 902 (914); BGHSt 53, 199 (204, Schneeballsystem); dazu Schlösser, HRRS 2014, 395 (399); Schmidt, NZWiSt, 2014, 274; ders., NJW 2015, 284 (286); Trüg (Fn. 22), S. 195 ff.; vgl. aber BGH NJW 2011, 2675 (2676) = JR 2012, 78 (81, mit. Anm. Becker), hier hat der 2. Strafsenat des BGH die Annahme eines Schadens in Höhe der jeweiligen Anlagesumme im Rahmen eines Schneeballsystems für die ersten Anleger mit der Begründung, dass die Gewinnchance sich allein auf die Begehung weiterer Straftaten stütze, verworfen. 27 So ausdrücklich BGHSt 51, 10 (17). 28 In diese Richtung auch Becker, JR 2012, 82 (84) („bedenkliche Angrenzung des Schadensbegriffs“); Gaede, in: Leipold/Tsambikakis/Zöller (Hrsg.), AnwaltKommentar StGB, § 263 Rn. 139; Trüg (Fn. 22), S. 198; dagegen Rostalski, HRRS 2016, 73 (82). 29 Vgl. RGSt 16, 1 (4 ff.); Rudolphi, in: Kohlmann (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Klug zum 70. Geburtstag, Bd. 2, Strafrecht, Prozessrecht, Kriminologie, Strafvollzugsrecht, 1983, S. 315 (320); Fischer, in: Fischer u.a. (Fn. 10), S. 51, merkt an: „Dieses Argument gilt als ehernes Gesetz, wem es entgegengehalten wird, der hat zu schweigen“. Für einen zumindest mittelbaren Schutz der Dispositionsfreiheit aber Hirschberg, Der Vermögensbegriff im Strafrecht, Versuch eines Systems der Vermögensdelikte, 1934, S. 286; Bockelmann, in: Bockelmann u.a. (Hrsg.), Probleme der Strafrechtserneuerung, Festschrift für Eduard Kohlrausch zum 70. Geburtstage dargebracht, 1978, S. 226 (250); Gallas, in: Bockelmann/Gallas (Hrsg.), Festschrift für Eberhard Schmidt zum 70. Geburtstag, 1971, S. 401 (405 f., Fn. 15); Mohrbotter, GA 1967, 231; Hansen, Jura 1990, 510 (512); Geerds, Jura 1994, 309 (320); _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 309 Adriano Teixeira _____________________________________________________________________________________ „Ein Schaden liegt nicht schon deshalb vor, weil die Verfügung ohne die Täuschung nicht vorgenommen worden wäre“.30 Fehlerhaft ist ferner die Anwendung der Figur des individuellen Schadenseinschlags. In den klassischen und anerkannten Fällen wird die subjektive Unbrauchbarkeit gesondert und objektiv (aus der Perspektive eines unbeteiligten Dritten) festgestellt,31 beruht also nicht ausschließlich auf der Unerwünschtheit des erworbenen Gegenstands. In der sog. Aliud-Rechtsprechung hingegen wird zumindest der Formulierung nach gerade nicht so verfahren. Es wird nämlich ausgeführt, da der Erwerber „etwas völlig anderes erwirbt, als er erwerben wollte (‚aliud‘)“, sei „die empfangene Gegenleistung für ihn mithin in vollem Umfang unbrauchbar“. Bei einer solchen Formulierung wird der Eindruck erweckt, der Erhalt eines „aliud“ durch den Getäuschten begründe allein schon die subjektive Unbrauchbarkeit der Gegenleistung. 32 Gemeinsam ist diesen Fällen allerdings, dass der Schaden möglicherweise in der Vereitelung einer Gewinnchance besteht, die gewissermaßen konkretisierbar ist und daher auch einen wirtschaftlichen Wert aufweist. 33 Das bedeutet, dass der Schaden bereits auf der ersten Stufe der Saldierung zu ermitteln ist, und zwar rein objektiv unabhängig vom Wert der erhaltenen Gegenleistung für das konkrete Tatopfer.34 Es geht also streng genommen gar nicht um einen Anwendungsfall des individuellen Schadenseinschlags.35 Dennoch, obwohl der 5. Strafsenat richtig davon ausgegangen ist, dass es bei der kritisierten Aliud-Rechtsprechung bereits an der objektiven Gleichwertigkeit von Leistung und Kindhäuser, in: Prittwitz u.a. (Hrsg.), Festschrift für Klaus Lüderssen zum 70. Geburtstag, 2002, S. 635; Ceffinato, NZWiSt 2015, 90 (94); Rostalski, HRRS 2016, 73 (77). 30 Vgl. nur Fischer (Fn. 9), § 263 Rn. 146; Wessels/ Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 545, jeweils m.w.N. 31 Dazu noch unten V. 2. b). 32 Insofern richtig Heinrich, in: Arzt/Weber/Heinrich/ Hilgendorf, Strafrecht, Besonderer Teil, 3. Aufl. 2015, § 20 Rn. 93: „Das Argument, dem Opfer sei vom Täter ein ‚aliud‘ geliefert worden, muss durch die Argumentation mit der Unbrauchbarkeit dieser Leistung (unter Berücksichtigung der Lage des Opfers) ergänzt werden“. 33 Vgl. Hartmann, Das Problem der Zweckverfehlung beim Betrug, 1988, S. 137, bezüglich der Fälle von Warenterminoptionen; ebenso Trüg (Fn. 22), S. 198, 200; siehe auch Otto, Die strafrechtliche Bekämpfung unseriöser Geschäftstätigkeit, 1990, S. 71. 34 Das ist es eigentlich, was diese Figur ausmacht. Vgl. nur Lackner (Fn. 9), § 263 Rn. 156. 35 Vgl. Hefendehl, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 5, 2. Aufl., 2014, § 263 Rn. 704: „Ein solches Ergebnis folgt bereits aus einer exakten Bewertung der hingegebenen und der erlangten Vermögenspositionen. Denn ein festverzinsliches Wertpapier ist im Zeitpunkt der Vermögensverfügung höher anzusetzen als eine spekulative Anlage, insoweit variiert also bereits die Gegenleistung, ohne dass es der Erwägungen zur Zweckverfehlung bedarf“. Gegenleistung fehlte und damit der Anwendung der Rechtsfigur des individuellen Schadenseinschlags der Boden entzogen war, hat er trotzdem auf ein mögliches Bedürfnis der Korrektur der Grundsätze dieses Instituts angesichts der neueren Rechtsprechung des BVerfG hingewiesen. Dies soll noch unten (V.) behandelt werden. IV. Zwischenfazit Die angesichts der neueren Rechtsprechung des BVerfG zum Vermögensschaden vorgebrachte Kritik des BGH an der sog. Aliud-Rechtsprechung erweist sich als berechtigt, soweit diese unter dem Verdacht des Verschleifungsverbots steht und jedenfalls gegen das Quantifizierungsgebot36 verstößt. Ebenso zutreffend ist die Kritik an der fehlerhaften Anwendung der Grundsätze des individuellen Schadenseinschlags. Diese Kritik vermag aber nicht den Kern der Figur des individuellen Schadenseinschlags zu treffen, weil die Aliud-Fälle eben kein Fall sind, der auf Grundlage des individuellen Schadenseinschlags gelöst werden soll. V. Die Berechtigung und Grenze der Individualisierung des Vermögensschadens Nun gilt es zu prüfen, ob der individuelle Schadenseinschlag als Rechtsfigur eine dogmatische Berechtigung hat und ob er zugleich auch den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen kann. Wie gesehen, wird der individuelle Schadenseinschlag in drei Grundsätze oder (besser) typisierte Fallgruppen unterteilt. Die Schadensbegründung nach der ersten Gruppe, die die Unbrauchbarkeit der Gegenleistung betrifft, unterscheidet sich erheblich von den anderen beiden, die mit der wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit des Opfers zu tun haben. Deshalb sollen die letzteren anschließend gesondert behandelt werden. 1. Bedenkliches: Schutz der wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit bzw. der Liquidität des Getäuschten Die Begründung37 des Schadens bei objektiver Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung, wenn der Getäuschte „durch die eingegangene Verpflichtung zu vermögensschädigenden Maßnahmen genötigt wird, oder infolge der Verpflichtung nicht mehr über die Mittel verfügen kann, die zur ordnungsmäßigen Erfüllung seiner Verbindlichkeit oder sonst für seine persönlichen Verhältnisse angemessene Wirtschaftsoder Lebensführung unerlässlich sind“38, ist mehreren Einwänden ausgesetzt. Dies ist unabhängig davon, dass diese 36 Kritisch zum Quantifizierungsgebot aber Becker, JR 2012, 82 (85). 37 Streng genommen ist eine echte Begründung dieser Schadensmodalität kaum zu finden. In diesem Sinne spricht Satzger, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2. Aufl. 2014, § 263 Rn. 221, von „pauschalen Billigkeitserwägungen“. 38 RGSt 16, 321; BayObLG NJW 1973, 633; weitere Nachweise der Rechtsprechung bei Lackner (Fn. 9), § 263 Rn. 158. _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 310 Der individuelle Schadenseinschlag beim Betrug _____________________________________________________________________________________ Erweiterung des Schadensbegriffs praktisch eher eine geringe Rolle spielt.39 So wird zunächst eingewendet, dass es bei einer Einbuße an wirtschaftlicher Bewegungsfreiheit des Getäuschten an einem dem Betrugstatbestand immanenten Merkmal fehle, nämlich der stoffgleichen Bereicherung des Täters, die dem § 263 StGB seinen Charakter als Vermögensverschiebungsdelikt verleihe.40 Das Ausmaß der finanziellen Einschränkung beim Opfer komme dem Täter nicht zugute, da der Vorteil des Täuschenden lediglich im Preis des verkauften Gegenstands bestehe.41 Dennoch herrscht heute die Tendenz vor, keine großen Anforderungen an das Merkmal der „Stoffgleichheit“ zu stellen. Die alte Identitätstheorie – Vor- und Nachteil müssten einander qualitativ und quantitativ entsprechen – wird nicht mehr vertreten, zumal sie nach Aufgabe der juristisch-inventarisierenden Betrachtungsweise (Binding)42 zugunsten des Prinzips der Gesamtsaldierung als überholt gilt.43 Wenn man nur verlangt, dass der Vorteil aus dem Vermögen des Opfers zufließen muss und nicht aus dem Vermögen eines Dritten, kann man die „Stoffgleichheit“ in den behandelten Fällen ohne weiteres bejahen.44 Ein schlagkräftigeres Argument gegen die Anwendung des individuellen Schadenseinschlags unter dem Aspekt der Beschränkung der wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit des Täters lässt sich aus dem Gedanken der Unmittelbarkeit ableiten.45 46 In der Tat wird der Schaden nicht unmittelbar durch die Vermögensverfügung des Getäuschten bewirkt, denn das, was er weggibt, wird durch die (objektiv und subjektiv betrachtet) gleichwertige Gegenleistung kompensiert. Der Schaden ist vielmehr in den weiteren vermögensschädigenden Maßnahmen zu sehen, zu denen der Betroffene durch die eingegangene Verpflichtung genötigt wird, bzw. in der Einschränkung seiner Liquidität bzw. seiner wirtschaftlichen Potenz. Dieser letztgenannte Aspekt muss aber von vornherein aus dem Schutzzweck des Betrugstatbestands ausgeschieden werden. Denn hierin liegt keine materielle, wirtschaftliche und messbare Vermögenseinbuße. Die Einschränkung der Lebensführung oder die Herabsetzung des wirtschaftlichen Status Quo mag schützenswert sein, allerdings nicht durch den Betrugstatbestand.47 Was die Nötigung zu einer vermögensschädigenden Maßnahme angeht: Vorausgesetzt, der Zeitpunkt der Saldierung ist die Vermögensverfügung,48 dürfen die zukünftigen Vermögensbeeinträchtigungen des Opfers in die Saldierung nur mit einbezogen werden, falls eine unmittelbar aus der Verfügung folgende sogenannte schadensgleiche Vermögensgefährdung festzustellen ist. 49 Darüber, ob die Voraussetzungen hierfür50 im konkreten Fall vorliegen, mag man streiten.51 Fraglich ist allerdings, ob diese weitere vermögensschädigende Maßnahme – z.B. eine Kreditaufnahme – dem Täuschenden überhaupt zugerechnet werden kann. Denn der Getäuschte nimmt sie nicht nur bewusst, sondern auch irrtumsfrei vor. Das heißt, die Vermögensbeeinträchtigung steht zwar in einem Kausalitätsverhältnis zu der vorangegangenen Täuschung, aber wohl nicht in einem Zurechnungsverhältnis. Letztlich haftet der Täter nicht, zumindest nicht aufgrund des Betrugstatbestands, für die durch eine bewusste irrtumsfreie Selbstschädigung verursachte Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation des Getäuschten, auch wenn er (kausal) zu dieser Verschlechterung beiträgt. Somit muss der Schutz der wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit grundsätzlich aus dem Schutzbereich des Betrugstatbestands ausgeklammert bleiben.52 39 47 Satzger (Fn. 37), § 263 Rn. 221; Rengier (Fn. 3); Wessels/ Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 549. 40 Kindhäuser (Fn. 8), § 263 Rn. 260; Kudlich (Fn. 10), S. 121. 41 Schröder, NJW 1962, 721 (722); dagegen Samson, JA 1978, 625 (630). 42 Binding, in: Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen, Bd. 1, 1915, S. 464, 467. 43 Vgl. Lackner (Fn. 9), § 263 Rn. 274; Hoyer, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 6, 50. Lfg., 7. Aufl., Stand: Februar 2004, § 263 Rn. 271; Heinrich (Fn. 32), S. 672. 44 Fahl, JA 1995, 198 (205); Hoyer (Fn. 43), § 263 Rn. 271; Rengier (Fn. 3), S. 297, 298; Ceffinato, NZWiSt 2015, 90 (95). 45 Schröder, NJW 1962, 721 (722); Lampe, in: Dannecker (Hrsg.), Festschrift für Harro Otto zum 70. Geburtstag am 1. April 2007, 2007, S. 623 (643); Fahl, JA 1995, 198 (202); Schünemann (Fn. 5), § 266 Rn. 234; Saliger (Fn. 18), § 263 Rn. 209; ferner Schmoller, ZStW 103 (1991), 92 (99); dagegen Tiedemann (Fn. 5), § 263 Rn. 180. 46 Das Argument, der Täter habe das Opfer um den wirtschaftlichen Sinn seines Vermögensopfers betrogen (Krey/ Hellmann/Heinrich, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 17. Aufl. 2015, Rn. 252), vermag den Einwand der Unmittelbarkeit bzw. der Irrtumsfreiheit nicht zu entkräften. Mohrbotter, Die Stoffgleichheit beim Betrug, 1965, S. 165 ff.; ders., GA 1975, 41 (52). 48 Vgl. nur BGHSt 53, 199 (201 m.w.N.). 49 Für diese Möglichkeit Tiedemann (Fn. 5), § 263 Rn. 180. Gegen den Begriff z.B. Rotsch, ZStW 117 (2005), 577 (583, 585). 50 Vgl. im Einzelnen Hefendehl (Fn. 5), § 263 Rn. 588 ff. 51 Der Unterschied liegt aber darin, dass die typischen Fälle von Vermögensgefährdung leistungsbezogen sind, denn die Nichtendgültigkeit des Schadens bezieht sich entweder auf die Leistung des Opfers oder auf die Gegenleistung des Täters. In diese Richtung Graul, in: Pfeiffer/Kummer/Scheuch (Hrsg.), Festschrift für Hans Erich Brandner zum 70. Geburtstag, 1996, S. 801 (817), die aber der Schadensbegründung beim Melkmaschinen-Fall für die Variante der Illiquidität zustimmt. 52 In Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot i.E. auch Winkler (Fn. 24), S. 79. Der Ansatz Esers, GA 1962, 289, der dem Einwand der Unmittelbarkeit beipflichtet, ihn aber dadurch zu entkräften versucht, dass die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit in den Begriff des Vermögens mit einbezogen wird, kann nicht akzeptiert werden. Damit will Eser auch Vermögensvermehrungen unter den von ihm vertretenen dynamischen Vermögensbegriff subsumieren, was allerdings kaum noch mit dem Gesetzwortlaut in Einklang zu bringen ist. Zur Kritik vgl. nur Tiedemann (Fn. 5), § 263 Rn. 180. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 311 Adriano Teixeira _____________________________________________________________________________________ 2. Unbedenkliches: Schutz der Brauchbarkeit bzw. des Nutzungspotentials des Vermögensobjekts a) Begründung des individuellen Schadenseinschlags Es gibt einen harten Kern des Anwendungsbereichs des individuellen Schadenseinschlags, der weitgehend anerkannt ist.53 Es handelt sich dabei um die Fallgruppen etwa der täuschungsbedingten Bestellung von Zeitschriften, die für den Getäuschten völlig unbrauchbar sind,54 den Verkauf eines Fernkurses und einer Schreibmaschine an noch ungebildete Kinder55, den Verkauf eines mehrbändigen Lexikons an Ungebildete unter der Vorspiegelung, die Bände dienten als Unterrichtsmaterial für die Sonderschule 56; ebenso der Verkauf von zum Unterricht ungeeigneten Büchern. 57 Die Herausforderung, die sich für die Strafrechtsdogmatik hier stellt, besteht darin, diese unstrittigen Ergebnisse zu begründen, ohne auf eine personale Vermögens- und Schadenslehre58 zurückgreifen zu müssen, die letztlich doch auf eine Verschleifung von Täuschung und Schaden hinausläuft.59 Meistens wird daher den Anwendungsfällen des individuellen Schadeneinschlags ein Ausnahmecharakter zugeschrieben. Die Berücksichtigung der subjektiven Zwecke des konkreten Opfers wird oft als eine Inkonsistenz oder gar als ein Bruch mit der vorherrschenden wirtschaftlichen Betrachtungsweise beim Vermögens- und Schadensbegriff aufgefasst.60 Im Folgenden wird der Versuch unternommen, zu zeigen, dass dies nicht der Fall ist. 53 Jeweils m.w.N. Lackner (Fn. 9), § 263 Rn. 159; Tiedemann (Fn. 5), § 263 Rn. 178; Heinrich (Fn. 32), S. 648; Küper/ Zopfs, Strafrecht, Besonderer Teil, 9. Aufl. 2015, Rn. 632; Wessels/Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 551. 54 BGHSt 23, 300. 55 BGH GA 1963, 208. 56 OLG Köln NJW 1976, 1222. 57 OLG Stuttgart NJW 1980, 1177. 58 Vgl. vor allem Bockelmann (Fn. 29), S. 248; Hardwig, GA 1956, 8 (18 ff.); Gallas (Fn. 29), S. 410, 434; Mohrbotter, GA 1969, 225 (233); Heinitz, JR 1968, 387 (388); Otto, Die Struktur des strafrechtlichen Vermögenschutzes, 1970, S. 37, 66, 69, passim; Bittner, MDR 1972, 1000 (1002); Alwart, JZ 1986, 563 (565); Hansen, Jura 1990, 510 (513); Geerds, Wirtschaftsstrafrecht und Vermögensschutz, 1990, S. 125 ff. 59 Samson, JA 1978, 625 (626); zusammenfassende Kritik bei Hefendehl (Fn. 35), § 263 Rn. 358 ff.; Gaede (Fn. 28), § 263 Rn. 69. 60 Zweifelnd Fischer (Fn. 9), § 263 Rn. 146; verneinend Geerds, Jura 1994, 309 (320); Kindhäuser (Fn. 8), § 263 Rn. 27, demzufolge mit dieser Ausnahmeregelung die wirtschaftliche Betrachtungsweise entweder doch in einen Selbstwiderspruch gerät oder in eine personale Lehre umgewandelt wird: „[…] Bei folgerichtiger Entfaltung ihres Grundgedankens führt die Anerkennung der Lehre vom individuellen Schadenseinschlag nicht zu einer Modifikation, sondern zu einer Preisgabe der Saldotheorie“; ebenso aus der Perspektive des personalen Schadensbegriffs Geerds (Fn. 58), S. 119; Ceffinato, NZWiSt 2015, 90 (91); ferner skeptisch Cramer (Fn. 7), S. 50. Zunächst soll die typische Struktur der genannten Fälle nochmals verdeutlicht werden: Der Getäuschte opfert eine bestimmte Summe Geld 61 und mindert dadurch zunächst sein Vermögen. Nach dem Prinzip der Gesamtsaldierung könnte diese Vermögensminderung allerdings kompensiert werden, indem im Gegenzug ein geldwerter Gegenstand erworben wird. Weil sich der Gegenstand aber für den Getäuschten als unbrauchbar erweist, gelingt diese Kompensation nicht, so dass sich im Ergebnis ein Negativsaldo ergibt. Der zu diskutierende Aspekt des individuellen Schadenseinschlags ist also die Tauglichkeit zur Kompensation.62 Das mag zunächst tautologisch klingen, aber diese Akzentuierung ist m.E. wichtig, um zu verdeutlichen, dass bei diesen Fallkonstellationen nicht nur die Dispositionsfreiheit des Opfers verletzt wird, sondern auch sein Vermögen: Was das Opfer verliert, ist in der Regel Geld, ohne dafür eine wertgleiche Kompensation zu bekommen.63 Die entscheidende Frage ist dann, ob auch ein für den konkreten Getäuschten unbrauchbarer Gegenstand eine taugliche Kompensation für die bezahlte Geldsumme darstellen kann. Das ist nur der Fall, wenn der zufließende Gegenstand in das Vermögen des Täters integrierbar ist. Das Vermögen hier kann nicht isoliert nur als eine zur Welt der Wirtschaft gehörende Tatsache verstanden, sondern es muss auch als Rechtsgut gedacht werden. Als Rechtsgut kann das Vermögen aber nicht lediglich als abstrakte Einheit, losgelöst von der Person seines Trägers, erfasst werden. 64 Wie Amelung formuliert, hat das Strafrecht den Zweck, individuelle Schutzobjekte in ihrer „Einsatzfähigkeit“ zu sichern. 65 In 61 Beim (unechten) Erfüllungsbetrug mit der tatsächlichen Zahlung und beim Eingehungsbetrug mit der Leistungspflicht. 62 Ebenso Hartmann (Fn. 33), S. 147; dazu ausführlich die Monographie von Weidemann, Das Kompensationsproblem beim Betrug, 1972, passim; siehe auch Walter, in: Putzke u.a. (Hrsg.), Strafrecht zwischen System und Telos, Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg zum siebzigsten Geburtstag am 14. Februar 2008, 2008, S. 763. 63 Auch Lackner (Fn. 9), § 263 Rn. 159 gibt dies trotz seiner kritischen Haltung gegenüber dem Individualisierungsgrundsatz zu. 64 Ähnlich Saliger, in: Fischer u.a. (Fn. 10), S. 15 (29). 65 Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, S. 190. In Übertragung dieses Gedankens auf den Vermögensbegriff führt Amelung zutreffend aus: „Ebenso beruht der ‚individuell-objektive‘ Vermögensbegriff auf der Erwägung, daß die Vermögensgegenstände dem Einzelnen bestimmte Verwendungsmöglichkeiten eröffnen, die je nach der sozialen Position des Vermögensinhabers verschieden sind“; ähnlich Achenbach, in: Schünemann u.a. (Hrsg.), Strafrecht als Scientia Universalis, Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag am 15. Mai 2011, 2011, S. 1005 (1018): „[...] das Phänomen der Nutzung, wie es dem Konzept des Vermögens als Inbegriff von Nutzungschancen zugrunde liegt, bedürfte weitergehender Reflexion und Ausarbeitung, etwa unter dem Aspekt der Individualisierung und Personalisierung; diese haben wir als ‚Schadenseinschlag‘ _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 312 Der individuelle Schadenseinschlag beim Betrug _____________________________________________________________________________________ diesem Sinne stellte der BGH in seiner grundlegenden Entscheidung zum individuellen Schadenseinschlag fest, dass ein und dieselbe Leistung für das Vermögen des einen ganz andere günstige oder ungünstige Wirkungen hervorbringen könne als für das Vermögen eines anderen, da die meisten Gegenstände nicht für alle Menschen den gleichen Vermögenswert haben, weil sie nicht für alle gleich brauchbar sind.66 Abgesehen von der Möglichkeit der Veräußerbarkeit (dazu noch unten), hat etwa ein Buch „Übungen in Quantenphysik für Fortgeschrittene“ für einen Analphabeten keinen Wert. Wenn er täuschungs- und irrtumsbedingt dafür etwas bezahlt (oder rechtlich verpflichtet ist zu bezahlen), verliert er schlicht Geld, sein Vermögen ist also gemindert. Dementsprechend besitzt der individuelle Schadenseinschlag normativ oder qualitativ betrachtet keinen Ausnahmecharakter. Allenfalls quantitativ kann ein solcher Ausnahmecharakter diagnostiziert werden. In diesem Punkt gewinnt die von Jakobs längst formulierte Differenzierung zwischen wirtschaftlichen und idealen Geschäften67 oder der Unterschied zwischen Geschäften des „homo oeconomicus“ und des „homo comsumptus“68 an Bedeutung. Dem ersteren kommt es in erster Linie darauf an, Kapital zu akkumulieren und Gewinne zu erzielen. Deshalb reicht hier fast immer eine rein objektive Berechnung aus, um einen Schaden zu belegen. Denn am Ende ist das, was eigentlich zählt, das wirtschaftliche Ergebnis und es sind nicht die Mittel und der Weg dorthin.69 Das ist der Grund dafür, weshalb bei den erwähnten Fällen des Anlagebetrugs der Anwendungsbereich des individuellen Schadenseinschlags nicht eröffnet wird.70 Denn die Schadensberechnung bei Kapitalanlagegeschäften soll grundsätzlich vom Standpunkt des „homo oeconomicus“ aus vorgenommen werden.71 Im Konsumbereich, das heißt, im akzeptiert, müssen aber weiter darüber nachdenken, inwieweit hierin schon Elemente des Vermögensbegriffes als solchem gefunden werden“. 66 BGHSt 16, 220 (222); 321 (325 ff.); zuvor bereits RGSt 16, 1 (6 ff.); ebenso Fahl, JA 1995, 198 (201); Hefendehl (Fn. 35), § 263 Rn. 698. 67 Jakobs, JuS 1977, 228 (230). 68 Samson, JA 1978, 625; Saliger (Fn. 64), S. 25; vgl. auch Hoyer (Fn. 43), § 263 Rn. 216; Satzger (Fn. 37), § 263 Rn. 221. 69 Jakobs, JuS 1977, 230; ebenso Merz, „Bewußte Selbstschädigung“ und die Betrugsstrafbarkeit nach § 263 StGB, zugleich ein Beitrag zur Zweckverfehlungslehre, 1999, S. 67; anders Rostalski, HRRS 2016, 73 (80). 70 Der Rückgriff auf die Figur des individuellen Schadenseinschlags beruht wohl darauf, dass es mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden wäre, den Wert des verkauften Aktienpakets auch mit Hilfe von Sachverständigen zu bestimmen. Vgl. dazu Hefendehl, wistra 2012, 325 (329). 71 Vgl. Zieschang, in: Park (Hrsg.), Kapitalmarkstrafrecht, 3. Aufl. 2013, § 263 Rn. 61: „Dabei ist auf die Sicht eines fiktiven ‚homo oeconomicus‘ abzustellen, der von allen persönlichen Vorlieben und Vorurteilen des Verfügenden abstrahiert und nur den nackten Kapitalwert der beim Verfügenden jeweils vorhandenen Mittel registriert und bilanziert“. Bereich des privaten Haushalts, hingegen erfolgt die Kompensation der Vermögenausgabe meistens mit dem Erwerb des gewollten (oder eines ihm ähnlichen oder äquivalenten) Gegenstands, auch wenn dieser nicht für den gleichen Preis wiederzuverkaufen ist. Hier ist folglich eine völlige Trennung von Vermögen und Dispositionsfreiheit nicht möglich.72 Zugestanden werden muss aber, dass der Umstand, dass die (Möglichkeit der) Berücksichtigung von Zielen und individuellen Präferenzen des Vermögensträgers eine Unbestimmtheit für die Auslegung des Tatbestandsmerkmals mit sich bringt. Daher müssen die richtigen Maßstäbe bzw. einschränkenden Kriterien für die Anwendung des individuellen Schadenseinschlags näher bestimmt werden. 73 b) Einschränkende Kriterien und Grenzen des Anwendungsbereichs des individuellen Schadenseinschlags Bereits im Melkmaschinen-Urteil (BGHSt 16, 321) deutet der BGH die Grenzen der „Grundsätze der Individualisierung“ an. Es komme nicht auf die persönliche Einschätzung des Schadens durch den Getäuschten an. Entscheidend sei vielmehr „ob dieser [der Getäuschte] die Sache nach der Auffassung eines sachlichen Beurteilers nicht oder nicht in vollem Umfang für den von ihm vertraglich vorausgesetzten Zweck oder in anderer zumutbaren Weise (vgl. RGSt 16, 1, 9) verwenden kann“74. Diese Passage enthält verschiedene wichtige Aspekte der nötigen Begrenzung einer Individualisierung des Schadensbegriffs, welche im Folgenden näher betrachtet werden sollen. Der erste Aspekt betrifft die Perspektive der Berücksichtigung von individuellen Faktoren. Diese werden von den subjektiven Ansichten des Getäuschten gelöst und sind Objekt der Beurteilung eines objektiven (sachlichen) Dritten. Dadurch soll vermieden werden, dass durch den Betrugstatbestand die bloße Dispositionsfreiheit geschützt wird. 75 Diese externe Perspektive soll, um es mit der aktuellen verfassungsrechtlichen Begrifflichkeit zu sagen, eine Verschleifung von Täuschung und Schaden verhindern. Diesen Aspekt hat bereits das Reichsgericht betont: „Der Grundsatz der Individualisierung bei Beurteilung der Frage der Vermögenbeschädigung enthält keine Konzession an die subjektive Willkür des Getäuschten, insbesondere nicht an das Belieben desselben, ob er die ihm gelieferte Sache gebrauchen wolle; es handelt sich vielmehr darum, ob er sie gebrauchen kann“. 76 Ein m.E. unterschätztes Kriterium für die „Domestizierung“ der Individualisierung ist das Abstellen auf den vertraglich vorausgesetzten Zweck,77 obwohl der BGH selbst 72 Jakobs, JuS 1977, 230 ff.; zust. Schmoller, ZStW 103 (1991), 92 (96); Pawlik, Das unerlaubte Verhalten beim Betrug, 1999, S. 272, 294; ähnliche Überlegung bei Samson, JA 1978, 625 (626), und Rönnau, in: Fischer u.a. (Fn. 10), S. 339 (344: „Wechselbeziehung zwischen Dispositionsfreiheit und Schaden“). 73 In diesem Sinne Amelung (Fn. 65), S. 191. 74 Vgl. auch BGH wistra 1986, 196. 75 Vgl. Weidemann (Fn. 62), S. 120. 76 RGSt 16, 1 (9); vgl. dazu Hirschberg (Fn. 29), S. 19. 77 Dazu eingehend Winkler (Fn. 24), S. 53. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 313 Adriano Teixeira _____________________________________________________________________________________ diesen Aspekt nicht hervorhebt und keine klaren Konsequenzen daraus zieht.78 Dieses Kriterium bedeutet, dass nur diejenigen individuellen Faktoren, die explizit oder implizit in der Transaktion präsent waren, berücksichtigt werden dürfen. 79 So hat zum Beispiel im Melkmaschinen-Fall der Verkäufer der Bäuerin F eine kleine Maschine, die nur für zwei oder drei Kühe geeignet war, verkauft, obwohl er wusste, dass sie eine größere Maschine (für zehn Kühe) brauchte. Das heißt, die Größe der Maschine war nicht ein beliebiges (Affektions)Interesse der Getäuschten, sondern ein zentrales Element des Geschäfts, welches unmittelbar mit der konkreten Brauchbarkeit des Vertragsobjekts für den wirtschaftlichen Betrieb des Getäuschten zusammenhing. 80 Das Bewusstsein des Täuschenden bezüglich all dieser Umstände ist außerdem ein notwendiger Faktor für die Bejahung seines Vorsatzes.81 Wenn man dementsprechend für die Individualisierung auf den Zweck des Geschäfts, der durch die Parteivereinbarung bestimmt und erkennbar gemacht wird, abstellt, wird der Einwand, wonach jede Individualisierung der Schadensbestimmung das Bestimmtheitsgebot verletze, entschärft. Denn die in der Parteivereinbarung zugrunde gelegten Zwecke eines Geschäfts sind durchaus objektivierbar.82 Man könnte dennoch bedenken, dass die Unbrauchbarkeit einer Gegenleistung auch rein objektiv bestimmt werden kann, und/oder, dass es auf die Zwecksetzung des Getäuschten nicht ankommt. Das könnte außerdem als eine unzulässige Subjektivierung des Schadens angesehen werden. Letztlich also hätte der vorausgesetzte Zweck keine (legitime) Funktion für die Bestimmung des Vermögensschadens. Dies mag wohl für einige Fälle zutreffen, aber doch nicht für alle. Wenn z.B. jemand ein Fahrrad erwerben will und stattdessen ein Mofa verkauft bekommt, obwohl er keinen Führerschein besitzt, so liegt die Unbrauchbarkeit des erworbenen Gegenstands auf der Hand.83 Es kann aber durchaus sein, dass eine Gegenleistung deshalb unbrauchbar ist, weil sie nicht zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Individuums passt. Diese Hypothese liegt wohl der Entscheidung im MelkmaschinenFall zugrunde. Die Bäuerin war zwar objektiv nicht gehindert, die kleine Maschine zu benutzen. Doch passte sie einNach Winkler (Fn. 24), S. 54, sind die Worte „vertraglich vorausgesetzter Zweck“ nicht im Sinne von „im Vertrag vorausgesetzt“, sondern als „bei dem bzw. mit dem Vertrag vorausgesetzt“ zu verstehen. 79 Ähnlich F.-R. Schmidt, Zum Begriff des Vermögensschadens beim Betrugstatbestand, 1970, S. 137; ebenso Mitsch, Strafrecht, Besonderer Teil 2, 3. Aufl. 2015, S. 325; Heghmanns, ZIS 2015, 102 (107). 80 Ebenso Winkler (Fn. 24), S. 55, Fn. 110. 81 Vgl. F.-R. Schmidt (Fn. 79), S. 150; Hefendehl (Fn. 35), § 263 Rn. 697. 82 So richtig Otto (Fn. 33), S. 79; Geerds (Fn. 58), S. 128; ders., Jura 1994, 321; ähnlich F.-R. Schmidt (Fn. 79), S. 149; tendenziell zustimmend Pawlik (Fn. 72), S. 279 f. 83 Hefendehl (Fn. 35), § 263 Rn. 700, merkt zutreffend an, dass dem Getäuschten nicht zuzumuten ist, dass er eine Ausbildung absolvieren muss, um den gekauften Gegenstand gebrauchen zu können. 78 fach nicht zu ihren wirtschaftlichen Zwecken, so dass sie gezwungen war, eine andere Maschine anzuschaffen. 84 Es stellt sich somit heraus, dass bei der Bewertung der Kompensation einer Vermögensausgabe die Verfehlung von individuellen Zwecken doch eine Rolle spielt, soweit diese im Vertrag vorausgesetzt worden sind. Dies bedeutet aber noch nicht die Annahme einer (allgemeinen) Zweckverfehlungslehre. 85 84 Küpper/Bode, JuS 1992, 643. Der Ansatz der Rechtsprechung und des überwiegenden Teils der Literatur, der Zweckverfehlung eine weitergehende Bedeutung, nämlich bei einseitigen Geschäften, beizumessen, kann nicht überzeugen. Die sog. Zweckverfehlungslehre, die vor allem bei der Konstellation des Spenden-, Bettel- und Schenkungsbetrugs sowie des Subventionsbetrugs einschlägig ist, will der Verfolgung eines sozialen relevanten Zwecks einen wirtschaftlichen Wert zuschreiben. Das ist mit dem wirtschaftlichen Schadensbegriff kaum kompatibel, wovon die h.A. auch selbst ausgeht. Wenn man die wirtschaftliche Betrachtungsweise ernst nehmen will, muss akzeptiert werden, dass auch eine sinnvolle Geldausgabe das Vermögen verringert, denn der Verlust eines materiellen Wertes kann nicht durch einen immateriellen kompensiert werden (vgl. Samson, JA 1978, 625 (628); Ellscheid, GA 1971, 161 [168]; Herzberg, MDR 1972, 93; Graul [Fn. 51], S. 806 ff.; Frisch, in: Arthur Kaufmann [Hrsg.], Festschrift für Paul Bockelmann zum 70. Geburtstag am 7. Dezember 1978, 1979, S. 647 [677]; Schünemann, in: Zeidler u.a. [Hrsg.], Festschrift Hans Joachim Faller, 1984, S. 357 [363, Fn. 23]; Walter [Fn. 62], S. 774; Kindhäuser [Fn. 8], § 263 Rn. 291 ff.; ders. [Fn. 29], S. 638; ders., in: Widmaier u.a. [Hrsg.], Festschrift für Hand Dahs, 2005, S. 65 [72]; Hefendehl [Fn. 35], § 263 Rn. 731 f.; Gaede [Fn. 28], § 263 Rn. 144). Das legitime Ziel der herrschenden Meinung, bloße Motivirrtürmer, die nicht-leistungsbezogen sind (wie im Beispielsfall der Täuschung über die Spendierfreudigkeit der Nachbarn – BayOBLG NJW 1952, 798) aus dem Anwendungsbereich des Betrugstatbestands auszuklammern, kann anders erreicht werden. Die gebotene Einschränkung des Tatbestands sollte nicht beim Merkmal des Vermögensschadens ansetzen. Mit beachtlichen Gründen behauptet ein Teil der Lehre, dieses Problem könne bereits bei der Auslegung des Merkmals der Täuschung gelöst werden (Graul [Fn. 51], S. 813; Pawlik [Fn. 72], S. 276; Gaede [Fn. 28], § 263 Rn. 144; ferner Hoppenz, Die dogmatische Struktur des Betrugstatbestands, dargestellt an Hand der Fälle der Erschleichung von Aktien im Rahmen der Privatisierung von Bundesvermögen, 1968, S. 101, der das Problem beim Irrtumsmerkmal verorten will). Da der Getäuschte bei der hier analysierten Konstellation bewusst sein Vermögen vermindert, unterliegt er keinem rechtsgutbezogenen, sondern einem Motivirrtum. Es muss dann darum gehen, zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen ein Motivirrtum betrugsrelevant ist, genauer: wann ein aufgrund eines Motivirrtums verursachter Schaden den Verantwortungsbereich des Opfers überschreitet und dem Täter zuzurechnen ist (Graul [Fn. 51], S. 814, 818). Ein plausibles Kriterium hierfür wird vereinzelt in der Literatur vertreten: Relevant ist nur diejenige Täuschung bzw. derjenige 85 _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 314 Der individuelle Schadenseinschlag beim Betrug _____________________________________________________________________________________ Man kann vielmehr mit Hartmann sagen, dass die Zweckbezogenheit dem Begriff der Verwendbarkeit eines Gegenstands immanent ist, das heißt, die Brauchbarkeit eines Objekts hängt nicht selten eng zusammen mit dem bestimmten Zweck, für den der Verwender den Gegenstand vorgesehen hat.86 Die oben genannten Kriterien der Schadensbestimmung, nämlich die objektive Perspektive eines außenstehenden Dritten und das Abstellen auf den (zumindest stillschweigend) vorausgesetzten Vertragszweck, müssen kumulativ beachtet werden, sind also zu kombinieren, so dass sich die Individualisierung des Vermögensschadens sinnvoll begrenzen lässt. Dementsprechend gilt: Die Verfehlung eines Nutzungszwecks ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für das Vorliegen eines Vermögensschadens. Erstens muss die Zweckverfehlung die Unbrauchbarkeit der Gegenleistung bedingen, das heißt, die Zweckverfehlung als solche begründet keinen Schaden,87 und zweitens muss der Zweck im Vertrag vorausgesetzt sein. Die Zwecksetzung ist zwar subjektiv bestimmt, aber vorbestimmt und objektiviert bei der Geschäftsabwicklung, so dass ein hypothetischer „unbeteiligter Dritter“ sowie der konkrete Täuschende sie ohne weiteres erkennen.88 Der BGH präsentiert noch eine weitere Möglichkeit, die Individualisierung der Schadensberechnung im Zaum zu halten, nämlich die zumutbare Andersverwendbarkeit der erhaltenen Gegenleistung.89 Dieses Kriterium ist allerdings nicht unproblematisch. Wenn man die objektivierbare und erkennbare Zwecksetzung des Getäuschten bei der Bewertung der zu kompensierenden Gegenleistung ernsthaft berücksichtigen will, muss die Grenze der zumutbaren Brauchbarkeit des nicht beanspruchten Gegenstandes im Rahmen Irrtum, die bzw. der sich auf die vereinbarte Leistung des Täuschenden bezieht (Hack, Probleme des Tatbestands Subventionsbetrug, § 264 StGB, unter dem Blickwinkel allgemeiner strafrechtlicher Lehren, 1982, S. 53, 55; Weidemann [Fn. 62], S. 183, 227; im Ergebnis ebenso Hartmann [Fn. 33], S. 120 f.; Hoyer [Fn. 43], § 263 Rn. 224 ff.; m.w.N. Gaede [Fn. 28], § 263 Rn. 145). Das ist m.E. ein klares Kriterium, mit dem sich sowohl die Straflosigkeit im Fall der Täuschung über die Spendierfreudigkeit der Nachbarn als auch die Strafbarkeit der „normalen“ Spendenfälle erklären lässt. 86 Hartmann (Fn. 33), S. 37; ähnlich Berger (Fn. 10), S. 137; Hefendehl (Fn. 35), § 263 Rn. 698; siehe ferner F.-R. Schmidt (Fn. 79), S. 108, der von Gebrauchsinteresse statt individuellem Einschlag spricht. 87 Ebenso Ceffinato, NZWiSt 2015, 90 (96). 88 Ähnlich Hefendehl (Fn. 35), § 263 Rn. 693; Ceffinato, NZWiSt 2015, 90 (93). 89 Vgl. BGH NStZ-RR 2001, 41 (42), wo ein Schaden abgelehnt wurde, weil die erworbenen Objekte (Grundstücke) zwar auf Grund der geographischen Verhältnisse schlecht zu erreichen und darüber hinaus auch nicht in die von der Angeklagten zu errichtende Altersresidenz integriert waren, woraus sich aber nicht ergebe, dass die Immobilien für den vertraglich vorausgesetzten Gebrauch, nämlich zu Wohnzwecken, nicht oder nicht in vollem Umfang brauchbar seien. eben dieser Zwecksetzung liegen. Will zum Beispiel ein Doktorand, der über die strafrechtliche Teilnahmelehre promoviert, die Monographie von Roxin „Täterschaft und Tatherrschaft“ erwerben und erhält stattdessen täuschungsbedingt eine genauso teure Monographie über Bereicherungsrecht im BGB, so ist ihm nicht zuzumuten, diese zu gebrauchen.90 Weiterführender ist hingegen der mit der Andersverwendbarkeit verwandte Gedanke der Wiederveräußerbarkeit der täuschungsbedingt erworbenen Gegenleistung. Auch bei Unbrauchbarkeit der Gegenleistung scheidet danach ein Schaden dann aus, wenn der Gegenstand ohne Verlust wieder verkauft werden kann. Die Beachtung der Wiederveräußerbarkeit bedeutet wieder eine Objektivierung der Schadensbestimmung und das Festhalten an der wirtschaftlichen Betrachtungsweise,91 ohne eine Missachtung des Rechtsgutsträgers darzustellen. Denn Geld ist das Kompensationsmittel par excellence, weil es „ohne weiteres für alle Menschen und jederzeit in vermögensrechtlicher Hinsicht gleich brauchbar“92 ist.93 Allerdings ist die Wiederveräußerbarkeit, das heißt, die reale Möglichkeit, den erworbenen Gegenstand in Geld umzusetzen, stets anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls festzustellen. Um wirklich kompensierend zu wirken, muss ein Verkauf ohne Schwierigkeiten und ohne weitere Kosten für den Getäuschten möglich sein.94 c) Der umstrittene Bereich Obwohl die meisten Stimmen in der Literatur und in der Rechtsprechung sich eher zurückhaltend gegenüber einer auch nur begrenzten Individualisierung der Schadensbestimmung beim Betrugstatbestand verhalten, wird wie oben gesehen ein Schaden trotz objektiver Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung grundsätzlich dann angenommen, 90 Vgl. hierzu F.-R. Schmidt (Fn. 79), S. 152; Otto (Fn. 58), S. 283; Hartmann (Fn. 33), S. 107; Fahl, JA 1995, 198 (201); Pawlik (Fn. 72), S. 293. 91 Vgl. Schmoller, ZStW 103 (1991), 92 (112). 92 RGSt 16, 1 (8). 93 In diesem Sinne zutreffend Schlüchter, MDR 1974, 622: „Geld ist damit mehr wert als eine Ware, für die bei dem Vermögensinhaber kein aktuelles Bedürfnis besteht“; ähnlich Pawlik (Fn. 72), S. 291; siehe ferner Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 111: „Während die bedarfsnahen Befriedigungsmittel wie Konsumartikel oder Werkzeuge allein von ihrem Zweck her gesteuert werden können, wird das Mittelpotential durch Umdenken in Geld systemmäßig regulierbar. […] Das Geld ist ein zweckindifferentes, wertneutrales, aber in sehr empfindlicher Weise systemabhängiges Mittel.“ 94 RGSt 16, 1 (9); Dazu Weidemann (Fn. 62), S. 241; Schmoller, ZStW 103 (1991), 92 (98); Hoyer (Fn. 43), § 263 Rn. 224. Demgegenüber skeptisch Schmidt, NJW 2015, 284 (286): In der Regel handele es sich um eine bloße „nachträgliche Möglichkeit einer (teilweisen) Wiedergutmachung“, im Hinblick vor allem auf die Wiederveräußerung einer im Rahmen eines Schneeballsystems erworbenen Anlage; und Rostalski, HRRS 2016, 73 (79). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 315 Adriano Teixeira _____________________________________________________________________________________ wenn die Gegenleistung sich für den Getäuschten als gänzlich unbrauchbar darstellt. Nichtdestotrotz ist in einigen Fallkonstellationen die Anwendung der Grundsätze des individuellen Schadenseinschlags umstritten. Gemeinsam ist diesen Fällen, dass die durch den Täuschenden erbrachte Gegenleistung für den konkreten Getäuschten nicht völlig unbrauchbar ist. Man kann diese Konstellationen in drei Gruppen aufgliedern. Die erste betrifft die Fälle der sog. Vertrags- bzw. Unterschrifterschleichung, wobei ein Vermögensschaden meistens zu bejahen sein wird. Bei den anderen Konstellationen hingegen wird man den Eintritt eines Schadens anhand der Figur des individuellen Schadenseinschlags nur ausnahmsweise begründen können. Dabei geht es um Fälle des sog. unechten Erfüllungsbetrugs und Fälle von (bloßen) Motivirrtümern. Zur Lösung dieser Fallgruppen nach Maßstab des individuellen Schadenseinschlags sind die oben dargestellten Kriterien zu beachten. Konkret ist dann festzustellen, ob in diesen Fallkonstellationen a) objektive Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung gegeben ist, denn erst dann ist der Anwendungsbereich des individuellen Schadenseinschlags eröffnet (vgl. oben V. 2. a) und b) hinsichtlich des (vorgegebenen und im Vertrag vorausgesetzten) wirtschaftlichen Zwecks des Getäuschten die erhaltene Gegenleistung brauchbar und folglich tauglich zur Kompensation der Vermögensausgabe ist. aa) Vertrags- bzw. Unterschrifterschleichung Die erste und interessanteste Konstellation bildet die sogenannte Vertrags- bzw. Unterschrifterschleichung,95 regelmäßig ein Unterfall des Eingehungsbetrugs. 96 Hier geht die Frage dahin, ob ein Vermögensschaden auch in den Fällen vorliegt, in denen jemand durch Täuschung veranlasst wird, einen Vermögengegenstand zum marktüblichen Preis zu erwerben, obwohl er eigentlich gar nichts erwerben wollte.97 Dem klassischen Fall lag der folgende Sachverhalt zugrunde: Provisionsvertreter veranlassten Personen, die einen Kauf abgelehnt hatten, dazu, einen Vordruck zu unterschreiben, mit dem sie angeblich nur den Besuch der Vertreter bescheinigten oder sonstige unwichtige formelle Erklärungen abgaben. In Wahrheit bestellten sie durch ihre Unterschrift aber eine Waschmaschine.98 Dabei hat der BGH die Auffassung vertreten, dass allein die Tatsache, dass die Unterschrift erschlichen worden ist und der Getäuschte in Wahrheit nichts bestellen wollte, nicht ausreiche, um einen Vermögensscha95 Dazu eingehend Bohnenberger, Betrug durch Vertragserschleichung, 1989, passim; zum Problem des Verfügungsbewusstseins bei diesen Konstellationen siehe Hefendehl (Fn. 35), § 263 Rn. 304. 96 Zur Möglichkeit der Anwendung des individuellen Schadenseinschlags bereits beim Abschluss des Vertrags siehe Tiedemann (Fn. 5), § 263 Rn. 177. 97 Dazu gründlich und bejahend Schmoller, ZStW 103 (1991), 92; Schlüchter, MDR 1974, 617; dagegen Hartmann (Fn. 33), S. 108. 98 BGHSt 22, 88; weitere Nachweise aus der Rechtsprechung bei Hefendehl (Fn. 35), § 263 Rn. 671. den ohne weiteres zu bejahen. Vielmehr müssten die in BGHSt 16, 321 (Melkmaschinen-Fall) genannten Voraussetzungen des individuellen Schadenseinschlags gegeben sein. 99 Jedoch wurde ein Vermögensschaden unter Rückgriff auf die Figur des individuellen Schadenseinschlags in einer aktuellen Entscheidung des BGH zu einer sogenannten InternetAbo-Falle bejaht. Ein Verbraucher, der einmalig einen kostenlosen Routenplaner-Service in Anspruch nehmen wollte, wurde durch Täuschung zu einem dreimonatigen „Abonnement“ verleitet. Laut BGH war es dabei ohne Belang, dass möglicherweise das Abonnement nach objektiven Maßstäben seinen Preis wert war. Denn für den getäuschten Nutzer sei diese Gegenleistung subjektiv sinnlos und daher wertlos gewesen, da im Internet jederzeit zahlreiche kostenlose Routenplaner verfügbar seien. Die Möglichkeit einer Kompensation durch Wiederveräußerung lehnte der BGH mit dem Hinweis ab, einen Markt für die Veräußerung und den Erwerb kostenpflichtiger Routenplanerabonnements gebe es nicht.100 Der Unterschied dieser Fallkonstellation zu den oben besprochenen typischen Anwendungsfällen des individuellen Schadenseinschlags liegt darin, dass bei den letzteren ein objektiv erkennbarer Zweck des Getäuschten verfehlt wird, im Routenplaner-Fall hingegen verfolgt der Betroffene überhaupt keinen Zweck.101 Das soll nicht aber heißen, dass von vornherein ein Schaden mangels Zweckverfehlung auszuschließen ist. Hier geht es nicht mehr um die Frage, ob der Getäuschte in seinem Gebrauchsinteresse enttäuscht wird, sondern darum, ob ihm eine unzumutbare Gebrauchsmöglichkeit aufgedrängt wird. Entscheidend ist also, ob es dem Getäuschten zumutbar ist, die erhaltene Gegenleistung zu verwenden, obwohl er sich darüber vorher keine Gedanken gemacht hat.102 Natürlich darf die Antwort auf diese Frage nicht davon abhängen, ob der Betroffene ex post doch den Gegenstand 99 Zust. Lampe, NJW 1978, 679 (680 f.); Bohnenberger (Fn. 95), S. 44; dagegen Heinitz, JR 1968, 387 (388), aus der Warte der personalen Schadenstheorie; anders OLG Hamm NJW 1965, 702, wo allein wegen der Gefahr ungewollten Erwerbs ein Schaden bejaht wurde. 100 BGH NJW 2014, 2595 (2599) = BGH JZ 2014, 1060 (1063), mit Anm. Rönnau/Wegner; siehe auch BGHSt 47, 1 (betrügerische „Insertionsofferten“: Wertlosigkeit der Veröffentlichung von Todesanzeigen im Internet); BGH wistra 2010, 386 (387, Wertlosigkeit der bloßen Weiterleitung von Zahlungen des Kunden an dessen Gläubiger, wobei die vorgespiegelte Gegenleistung eine Kreditvergabe wäre); vgl. aber BGH wistra 2012, 107 (108, Vermögensschaden abgelehnt: es sei nicht festgestellt worden, dass die Gegenleistung – Zugang zum Internetprovider – wertlos war. Den Urteilsgründen sei auch nicht zu entnehmen, dass der Wert der Leistung nicht dem Preis entsprach oder die Kunden die erbrachte Leistung nach dem vertraglich vorausgesetzten Zweck individuell nicht nutzen konnten). 101 Hartmann (Fn. 33), S. 33. 102 Winkler (Fn. 24), S. 66 ff. _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 316 Der individuelle Schadenseinschlag beim Betrug _____________________________________________________________________________________ verwenden will.103 Vielmehr muss eine Perspektive ex ante eingenommen werden. Das ist nur möglich, wenn untersucht wird, ob im Zeitpunkt des Vertragsschlusses ein aktuelles Bedürfnis für die täuschungsbedingt erworbene Ware besteht.104 Da keine vorherige individuelle Zwecksetzung des Getäuschten vorliegt,105 muss geprüft werden, ob aus Sicht eines objektiven Beobachters der Betroffene der Gegenleistung bedarf und sie ohne weiteres verwenden kann, 106 denn er braucht sich nicht zwingen zu lassen, etwas zu gebrauchen, das für ihn überflüssig ist.107 Wie oben gesehen entfällt ein Schaden allerdings dann, wenn der erworbene Gegenstand wieder weiterverkauft werden kann, so dass die ursprüngliche Vermögensausgabe durch den Ertrag der Weiterveräußerung kompensiert wird. Das setzt aber zunächst voraus, dass überhaupt ein Markt für den Verkauf der Ware vorhanden ist, was beispielsweise im oben genannten Abonnement-Beispiel nicht der Fall war. Außerdem muss es dem Getäuschten möglich sein, ohne 103 Ähnlich Winkler (Fn. 24), S. 70. So Schlüchter, MDR 1974, 617 (621), die dieses Ergebnis von einem wirtschaftlichen bzw. bilanzrechtlichen Standpunkt aus zu untermauern versucht. Die Bedürfnisbefriedigung dürfe bei der wirtschaftlichen Betrachtungsweise nicht außer Acht gelassen werden. Wenn dementsprechend ein Kauf ohne Bedürfnisbefriedigung erfolgt, liege eine Kapitalverminderung vor, denn mit dem Kauf habe der Erwerber weniger Geld, um seine sonstigen Bedürfnisse zu befriedigen. 105 Vgl. Winkler (Fn. 24), S. 71. 106 In einer neuen Entscheidung zum Vermögensnachteil bei der Erpressung (§ 253 StGB) wurde dies vom BGH bejaht – BGH JR 2015, 480: Der Inhaber eines italienischen Restaurants wurde genötigt, 20 Kartons Wein zu einem Preis von 450,- € abzukaufen. Es sei nicht belegt worden, dass der Geschädigte diesen Wein nach dem aufgezwungenen Erwerb auch nicht im Rahmen seines Geschäftsbetriebs verwenden oder anderweit veräußern wollte. Ein Schaden liege deshalb nicht vor. Einen Grenzfall stellt das von Seelmann, JuS 1982, 510, gebildete Beispiel dar: „Richter R möchte die neueste Auflage des ‚Leipziger Kommentar‘ kaufen. Vertreter V gibt wahrheitswidrig vor, dieses Werk im Angebot zu haben, und lässt R den Bestellschein unterschreiben. R überweist den geforderten Beitrag. In Wahrheit hat V ihn den Bestellschein für den StPO Kommentar von Löwe-Rosenberg unterschreiben lassen, wie R einige Tage später bei der Lieferung bemerkt. R, der nicht unvermögend ist, hat für den ‚LöweRosenberg‘ sogar weniger als den marktüblichen Preis gezahlt und kann diesen Kommentar auch durchaus sinnvoll verwenden. Dennoch hätte er ihn bei Kenntnis der Sachlage gegenwärtig nicht bestellt.“ Angesichts der Tatsache, dass der Richter den „Löwe-Rosenberg“ sinnvoll verwenden kann, kann man wohl, wie Seelmann (JuS 1982, 510 [511]), einen Schaden verneinen. Wenn man das Beispiel jedoch dahingehend leicht abwandelt, dass der Richter vor einer Woche bereits einen ganz neuen „Löwe-Rosenberg“ gekauft hatte, so wäre ein Schaden zu bejahen; in diesem Sinne Eisele, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 3. Aufl. 2015, Rn. 620. 107 Ähnlich Heinitz, JR 1968, 387 (388). 104 Schwierigkeiten und Verlust die Ware zu verkaufen. Das wird allerdings selten der Fall sein, denn der Wiederverkaufswert einer Sache fällt in der Regel niedriger aus als der Kaufpreis.108 bb) Unechter Erfüllungsbetrug (vor allem GebrauchtwagenFälle) Ein weiteres Problem, welches teilweise die Figur des individuellen Schadeneinschlags berührt, ist der sog. unechte Erfüllungsbetrug. Bei diesem geht es darum, dass der Getäuschte einen Vertrag deshalb schließt, weil er wegen der Vorspiegelung des Täters ein günstiges Angebot anzunehmen glaubt. Allerdings stellt sich heraus, dass das Produkt nicht die zugesicherten Eigenschaften aufweist, aber trotzdem den bezahlten Preis wert ist. Die wohl h.A. in der Literatur und Rechtsprechung lehnt den Eintritt eines Vermögensschadens ab, weil das Opfer nicht ärmer, sondern nur nicht reicher, wie es erhofft hat, geworden sei. Verletzt werde dann nur die Dispositionsfreiheit des Opfers, nicht sein Vermögen. 109 Der ganze Streit zwischen der Einheitsthese (h.M.), die das ganze Geschäft als einen einheitlichen Vorgang sieht, und der Trennungsthese, die zwischen Eingehungs- und Erfüllungsgeschäft unterscheidet, braucht hier nicht weiter verfolgt zu werden.110 Diese Problematik interessiert uns hier nur insofern, als der Eintritt eines Vermögensschadens anhand der Figur des individuellen Schadenseinschlags begründet wird. Die prominenteste Fallgruppe ist dabei die der Gebrauchtwagen-Fälle, wenn etwa über die Unfallfreiheit oder den Kilometerstand eines Wagens getäuscht wird. 111 Allein das Fehlen der durch den Verkäufer zugesicherten Eigenschaften führt nicht zur konkreten und individuellen Un108 Vgl. Schmoller, ZStW 103 (1991), 92 (109); Winkler (Fn. 24), 74; Hefendehl (Fn. 35), § 263 Rn. 700: „Eine Weiterveräußerungsmöglichkeit hindert einen Schaden nur bei einer vermögenswerten (Markt-)Expektanz im Werte des Kaufpreises. Eine solche wird nur in den wenigsten Fällen vorliegen“. 109 Vgl. m.w.N. BGH NStZ 2012, 629; aus dem Schrifttum vgl. beispielsweise Schönfeld, JZ 1964, 208; Cramer (Fn. 7), S. 184 ff.; Tenckhoff, in: Küper/Puppe/Tenckhoff (Hrsg.), Festschrift für Karl Lackner zum siebzigsten Geburtstag am 18. Februar 1987, 1987, S. 690; Saliger (Fn. 18), § 263 Rn. 245; Hefendehl (Fn. 35), § 263 Rn. 563; Rengier (Fn. 3), S. 268; dazu kritisch etwa Otto (Fn. 33), S. 73; Pawlik (Fn. 72), S. 281 f., 288; Geerds, Jura 1994, 309 (317); Puppe, JZ 1984, 531; dies., ZIS 2010, 216; Schneider, JZ 1996, 914 (916); Bittmann, HRRS 2016, 38 (44). 110 Die Trennungsthese will einen Erfüllungsbetrug konstruieren, durch den der Käufer dazu gebracht werde, seine Minderungsansprüche wegen Fehlens einer zugesicherten Eigenschaft nach §§ 437 Nr. 2, 441 BGB nicht geltend zu machen. Dazu m.w.N. vgl. nur Tiedemann (Fn. 5), § 263 Rn. 201. 111 BayOLG NJW 1987, 2452; Saliger (Fn. 18), § 263 Rn. 210; Perron (Fn. 8), § 263 Rn. 123; Hoyer (Fn. 43), § 263 Rn. 206; eingehend zur Problematik des individuellen Schadenseinschlags bei dieser Konstellation Winkler (Fn. 24), S. 57. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 317 Adriano Teixeira _____________________________________________________________________________________ brauchbarkeit der Gegenleistung (des Autos). Wenn das Auto trotz des Fehlens der zugesicherten Eigenschaften noch den Kaufpreis wert ist – was allerdings in der Praxis eher selten der Fall sein wird –, so kann ein Schaden nur angenommen werden, wenn diese Umstände das Fahrzeug aufgrund der spezifischen (bei der Geschäftsanbahnung besprochenen) Zwecke des Getäuschten für diesen unbrauchbar machen. 112 Denn nur bei diesen Voraussetzungen, nämlich objektive Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung, aber konkrete individualisierte Unbrauchbarkeit des Gegenstands, kann ein Schaden nach den Grundsätzen des individuellen Schadenseinschlags begründet werden. cc) Motivirrtümer Ferner begründen laut den hier festgehaltenen Kriterien bloße Motivirrtümer, die die konkrete Verwendbarkeit der Gegenleistung nicht beeinflussen, bei objektiv ausgeglichenen Geschäften keinen Vermögensschaden.113 Hier werden zwar durch den Getäuschten mittelbare oder Endziele des Geschäfts verfehlt, aber eben nicht dessen unmittelbarer Zweck, welcher durch die Gegenleistung des Täuschenden doch erreicht wird. Das ist beispielsweise der Fall, wenn einer Mutter die Erforderlichkeit von Nährzucker für Kinder114 oder dem Autobesitzer die gesetzliche Pflicht einer (nötigen) Inspektion von Heizöltanks115 vorgespiegelt wird. Dasselbe gilt für die Enttäuschung eines Affektionsinteresses, etwa im Hinblick auf die Herkunft oder die Qualifikation einer Ware (z.B. Bio oder Öko)116, soweit diese nicht wertbildende Faktoren darstellen, die bereits zur objektiven Unausgewogenheit des Geschäfts führen.117 d) Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine begrenzte Individualisierung der Schadensberechnung durch die Figur des individuellen Schadenseinschlags nicht nur unvermeidbar,118 sondern auch kompatibel mit einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise ist, wenn die schon in der Rechtsprechung zu findenden einschränkenden Kriterien konsequent beachtet werden. VI. Gesamtfazit Die vom 5. Strafsenat des BGH aufgeworfene, letztlich aber offengelassene Frage, ob die Rechtsfigur des individuellen Schadenseinschlags im Lichte der verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG einer Korrektur bedarf, ist nicht kategorisch mit Ja oder Nein zu beantworten. Die kritische Haltung des BGH gegenüber der sog. „Aliud-Rechtsprechung“ ist gerechtfertigt, denn sie stellt eine unangemessene und unnötige Erweiterung des Anwendungsbereichs des individuellen Schadenseinschlags dar. Seine Berechtigung hat dieses Institut aber grundsätzlich im Konsumbereich, wo nicht der „homo oeconomicus“ die Hauptfigur ist. Aber die Berücksichtigung von individuellen Faktoren bzw. Zwecksetzungen ist nur dort zulässig, wo sie für die Feststellung der individuellen Verwendbarkeit der erhaltenen objektiv gleichwertigen Gegenleistung notwendig ist. Dagegen stellt der in der früheren BGH-Rechtsprechung bejahte strafrechtliche Schutz der wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit des Getäuschten durch § 263 StGB eine bedenkliche Erweiterung der Individualisierung des Vermögensschadens beim Betrug dar und sollte fallen gelassen werden. 112 Zusammenfassend Hefendehl (Fn. 35), § 263 Rn. 701 ff. Ein ähnlich gelagerter Fall ist der bekannte ZellwollhosenFall (BGHSt 16, 220): Der Angeklagte verkaufte eine Gabardinehose unter der Zusicherung, sie sei aus reiner Wolle gefertigt, tatsächlich bestand die Hose aber aus Zellwolle. Trotzdem war sie ihr Geld wert. 113 Vgl. Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 375. 114 OLG Köln NJW 1968, 1893. 115 OLG Stuttgart NJW 1971, 633. 116 Zum Thema vgl. Arzt, in: Dölling (Hrsg.), Ius Humanum, Grundlagen des Rechts und Strafrecht, Festschrift für ErnstJoachim Lampe zum 70. Geburtstag, 2003, S. 673; Heghmanns, ZIS 2015, 102. Meistens wird man einen Schaden bei objektivem Vergleich von Leistung und Gegenleistung bejahen können, denn Bio-Produkte sind in der Regel teurer (Heghmanns, ZIS 2015, 102 [104]). Die Tatsache, der Verbraucher erhalte kein mangelhaftes, sondern ein durchaus verwendbares Produkt, vermag den Schaden (entgegen Heghmanns, ZIS 2015, 102 [107 ff.], sog. „Schadensausschluss infolge persönlichen Schadensnichteinschlags“; ebenso wohl Arzt [Fn. 118], S. 682) nicht zu beseitigen. 117 Vgl. BGHSt 8, 46 (49) – „Hopfenherkunft”; BGHSt 12, 347 (350, Verkauf verfälschter Auslandsbutter als deutsche Markenbutter); BGH, Urt. v. 20.3.1980 – 2StR 14/80 = NJW 1980, 1760 („Vermögensschaden bei vorgetäuschter Her- kunft eines Badesalzes“); dazu Wessels/Hillenkamp (Fn. 2), Rn. 551. 118 So ausdrücklich Lackner (Fn. 9), § 263 Rn. 163. _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 318 Identitätsfeststellung und Vernehmung festgenommener Personen im Anschluss an grenzüberschreitende Nacheile im Schengen-Raum Von Dr. Michael Soiné, Berlin* Der Beitrag befasst sich mit dem rechtlich wenig beachteten Thema, der Identitätsfeststellung und Vernehmung grenzüberschreitend verfolgter Personen in den Schengen-Staaten. Aus der Perspektive Deutschlands als Festnahmestaat werden völker- und verfassungsrechtliche sowie einfachgesetzliche und rechtshilferechtliche Aspekte erörtert, die bei diesen Zwangsmaßnahmen und der Erkenntnisverwertung in hiesigen und ausländischen Strafverfahren zu beachten sind. I. Einleitung Art. 41 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) regelt die Voraussetzungen und das Verfahren der grenzüberschreitenden Nacheile.1 Ihre Relevanz wird von Vertretern der Strafverfolgungsbehörden und der rechtswissenschaftlichen Literatur gering geschätzt.2 In der Praxis würden die betroffenen Polizeidienststellen die Vorschriften über Nacheile und Festnahme (Art. 41 Abs. 2 lit. b SDÜ) mit ihren Zusatzprotokollen und nationalen Erklärungen (Art. 41 Abs. 9 SDÜ) ignorieren.3 Die grenzüberschreitende Nacheile werde im Einzelfall auf der Basis persönlicher Kennverhältnisse über Staatsgrenzen und Gesetze hinweg gestaltet, womit der * Der Autor ist Lehrbeauftragter an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) und der Ludwig-MaximiliansUniversität München. 1 Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen v. 14.6.1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen; ABl. Nr. L 239 v. 22.9.2000, S. 19-62. Grundsätzlich kann Nacheile zur Strafverfolgung, zum Strafvollzug, zur Strafvollstreckung und der Gefahrenabwehr erfolgen; vgl. Röben, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, 54. Lfg., Stand: September 2014, AEUV Art. 89 Rn. 3; so z.B. auch die Regelungen im Deutsch-Schweizerischer Polizeivertrag v. 27.4.1999; siehe Cremer, ZaöRV 2000, 103 (107). Zu aktuellen Fragen des Doppelverfolgungsverbots, siehe die Beiträge in: Hochmayr (Hrsg.), „Ne bis in idem“ in Europa, Schriften des Frankfurter Instituts für das Recht der Europäischen Union Bd. 6, 2015. 2 Siehe etwa Hertweck, Kriminalistik 1995, 721 (724); Brammertz, in: Nachbaur (Hrsg.): Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Polizei und Justiz in den SchengenStaaten, 1998, S. 73 (84); Kraehn, in: Nachbaur (a.a.O.), S. 95 (100); Oberleitner, Schengen und Europol. Kriminalitätsbekämpfung in einem Europa der inneren Sicherheit, 1998, S. 73; Kühne, Strafprozessrecht, 9. Aufl. 2015, § 3 Rn. 76; Maguer, ZEuS 2003, 447 (457); Hetzer, in: Sieber/ Satzger/v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2014, Kap. 9, § 41 Rn. 61; in diesem Sinne auch v. Bubnoff, ZRP 2000, 60. 3 So deutlich Kühne (Fn. 2), § 3 Rn. 76. Zweck von Art. 41 SDÜ besser als mit den Zusatzprotokollen erreicht werde.4 Praxisrelevante Grundsätze und Bedingungen der Nacheile sind im „Handbuch für grenzüberschreitende Einsätze“5 des Europäischen Rates und seiner englischsprachigen Version, dem „Manual on cross-border operations – national fact sheets“,6 dargestellt. Beide Erläuterungen rekurrieren auf den Wortlaut des Art. 41 SDÜ. Nicht thematisiert wird das nationalstaatlich geregelte Verfahren bei Identitätsfeststellungen und Vernehmungen grenzüberschreitend verfolgter Personen. II. Völkerrechtliche Aspekte bei grenzüberschreitender Nacheile Bei der Nacheile nehmen Polizeibeamte eines Vertragsstaates des SDÜ auf dem Territorium anderer Vertragsstaaten eigene Hoheitsrechte zur Erfüllung ihrer originären Aufgaben wahr.7 Das betroffene Land gestattet bzw. duldet die Ausübung fremder Hoheitsgewalt auf eigenem Staatsgebiet. 8 4 Kühne (Fn. 2), § 3 Rn. 76. Kritisch dazu, siehe Hetzer (Fn. 2), Kap. 9, § 41 Rn. 61. 5 Vermerk des Generalsekretariats für die Gruppe „Polizeiliche Zusammenarbeit“ (Gemischter Ausschuss EU/Island, Norwegen und Schweiz, Liechtenstein), v. 14.12.2009 – 10505/4/09, REV 4, ENFOPOL 157 ENFOCUSTOM 55 CRIMORG 90 COMIX 465. In Nr. 3 des Handbuchs (S. 2024) wird außer Art. 41 SDÜ auf Art. 20 des Übereinkommens Neapel II (Übereinkommen v. 18.12.1997 über gegenseitige Amtshilfe und Zusammenarbeit der Zollverwaltungen [ABl. C 24 v. 23.1.1998 und ABl. C 165 v. 30.5.1998, S. 24]) und bilaterale Abkommen hingewiesen. Letztere bieten meist weiter reichende Nacheilemöglichkeiten als die EU-Vorschriften und/oder können angewandt werden, wenn die Kriterien für eine Nacheile nach EU-Recht nicht erfüllt werden; vgl. z.B. das am 9.7.2015 in Kraft getretene Abkommen zwischen Deutschland und Polen über die Zusammenarbeit der Polizei-, Grenz- und Zollbehörden v. 15.5.2014, BTDrs. 18/3696 v. 7.1.2015; BR-Drs. 32/15 v. 29.1.2015; hierzu näher Bavendamm, Kriminalistik 2016, 38. 6 Vermerk des Generalsekretariats für die Gruppe „Polizeiliche Zusammenarbeit“ (Gemischter Ausschuss EU/Island, Norwegen und Schweiz, Liechtenstein) v. 26.10.2012 – 10505/4/09 REV 4 ADD 1 REV 3. Auf S. 67 und 73 werden die Voraussetzungen der Nacheile und die Befugnis zur Festnahme kurz behandelt. S. 68-72 enthalten eine Aufstellung der für grenzüberschreitende Nacheile zuständigen deutschen Polizeidienststellen. 7 Hecker, EuR 2001, 826 (836); Mokros, in: Lisken/ Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, O. Rn. 197. Zur Nutzung von Sonderrechten durch ausländische Beamte in Deutschland siehe Müller, SVR 2010, 325. 8 Röben (Fn. 1), AEUV Art. 89 Rn. 3. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 319 Michael Soiné _____________________________________________________________________________________ Eine Übertragung (inländischer) Hoheitsrechte auf ausländische Polizeibeamte9 oder deren Beauftragung zur Durchführung (eigener) hoheitlicher Aufgaben10 ist damit nicht verbunden. Dagegen spricht schon die Regelung in Art. 41 Abs. 1 S. 2 SDÜ, wonach der betroffene Staat jederzeit die Beendigung der Nacheile verlangen kann11 und die Beamten z.B. Anordnungen der örtlich zuständigen Behörden befolgen müssen (Art. 41 Abs. 5 lit. a Hs. 2 SDÜ). Bis zur Sachverhaltsklärung haben sie sich bereitzuhalten (Art. 41 Abs. 5 lit. g Hs. 2 SDÜ), auch wenn eine Festnahme nicht erfolgte (Art. 41 Abs. 5 lit. g Hs. 3 SDÜ). Die Befugnisse nacheilender Polizeibeamter im fremden Hoheitsgebiet sind gemäß Art. 41 Abs. 5 lit. f SDÜ auf vorrangig gefahrenabwehrende Maßnahmen beschränkt: Sie dürfen ergriffene Personen vor ihrer Vorführung bei den örtlichen Behörden einer Sicherheitsdurchsuchung unterziehen, den Betroffenen Handschellen anlegen und mitgeführte Gegenstände (vorläufig) sicherstellen. Die Grundsätze der Gebietshoheit und Staatensouveränität als Teil des allgemeinen Völkergewohnheitsrechts verbieten die Rückführung festgehaltener Personen durch nachgeeilte Beamte auf das eigene Territorium ohne Einverständnis des betroffenen Vertragsstaates.12 Unzulässig ist ebenso eine „kalte Überstellung“, d.h. die Übergabe der Personen an die Polizei des Tatortstaates ohne formelles Verfahren. 13 III. Die Nacheile nach dem SDÜ Grenzüberschreitende Nacheile in den Schengen-Staaten setzt voraus, dass Verfolgte auf frischer Tat14 bei Begehung von oder Teilnahme an einer in Art. 41 Abs. 4 SDÜ lit. a oder b bezeichneten Straftaten betroffen wurden. Das Recht zur Nacheile besteht auch bei Flucht aus einer Untersuchungsoder Strafhaft (Art. 41 Abs. 1 Unterabs. 2 SDÜ). 1. „Auslieferungsfähige Straftat“ Deutschland hat in seinen Erklärungen zu Art. 41 Abs. 9 SDÜ den Anwenderstaaten die Nacheile für alle auslieferungsfähigen Straftaten nach Art. 41 Abs. 4 lit. b SDÜ gestat9 Böse, Der Grundsatz der Verfügbarkeit von Informationen in der strafrechtlichen Zusammenarbeit der Europäischen Union, 2007, S. 134; Mokros (Fn. 7), O. Rn. 195, 254. 10 Ähnlich Mokros (Fn. 7), O. Rn. 197. 11 Abgesehen davon können auch die ausländischen Beamten die Maßnahme nach eigenem Ermessen zu jedem Zeitpunkt abbrechen, so Mokros (Fn. 7), O. Rn. 197. 12 Mokros (Fn. 7), O Rn. 254; Würz, Das Schengener Durchführungsübereinkommen, Einführung, Erläuterungen, Vorschriften, 1997, S. 92 Rn. 148; Goy, Vorläufige Festnahme und grenzüberschreitende Nacheile, Zur Behandlung von Flagranzfällen in Frankreich und Deutschland, 2002, S. 205. 13 Würz (Fn. 12); Martens, in: Heesen/Hönle/Peilert/Martens (Hrsg.), Bundespolizeigesetz, Verwaltungsvollstreckungsgesetz, Gesetz über den unmittelbaren Zwang, Kommentar, 5. Aufl. 2012, § 2 BPolG Rn. 70. 14 Zur Auslegung dieses Begriffs siehe etwa Bavendamm, Kriminalistik 2016, 38 (40 f.). tet.15 Der Begriff „auslieferungsfähige Straftat“ wird in der Vorschrift nicht erläutert. Die Voraussetzungen korrespondieren jedoch mit den Anforderungen an den Erlass eines Europäischen Haftbefehls. Der Rahmenbeschluss des Rates vom 13.6.200216, Kapitel I Art. 2 Abs. 1, verlangt Handlungen, „die mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht sind, oder im Falle einer Verurteilung zu einer Strafe oder der Anordnung einer Maßregel der Sicherung, deren Maß mindestens vier Monate beträgt.“ 17 2. Befugnisse und Pflichten der Nacheilenden Die zur grenzüberschreitenden Nacheile berechtigten Polizeien sind in Art. 41 Abs. 7 SDÜ aufgeführt. 18 Im fremden Hoheitsgebiet sind sie nur unter engen Voraussetzungen zum Festhalten verfolgter Personen berechtigt. Voraussetzung ist, dass die Vertragsstaaten den Polizeien ein Festhalterecht nach Art. 41 Abs. 9 SDÜ eingeräumt haben, das aber nur unter den Voraussetzungen des Art. 41 Abs. 2 lit. b SDÜ – Nichtvorliegen eines Einstellungsverlangens und der Unmöglichkeit 15 Vgl. z.B. Gleß, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, International Cooperation in Criminal Matters, Kommentar, 5. Aufl. 2012, Art. 41 SDÜ Rn. 4; Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. 2015, Teil II 5.3.2.2.4 Rn. 42; Suhr, in: Callies/ Ruffert (Hrsg.), Vertrag über die Europäische Union, Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Kommentar, 4. Aufl. 2011, AEUV Art. 89 (ex-Art. 32 EUV) Rn. 10; Cremer, ZaöRV 2000, 103 (143); Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt, Strafprozessordnung mit GVG und Nebengesetzen, Kommentar, 58. Aufl. 2015, § 163 StPO Rn. 8a. 16 ABl. Nr. L v. 18.7.2002. 17 Siehe hierzu auch Haas, Die Schengener Abkommen und ihre strafprozessualen Implikationen, 2001, S. 84 m.w.N. In einem Arbeitsdokument des Europäischen Parlaments v. 23.1.2006 über die Verbesserung der polizeilichen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, vor allem an den Binnengrenzen, und zur Änderung des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen (DT/598935DE.doc), S. 6, wird eine Änderung der Voraussetzungen für die Nacheile gemäß Art. 41 SDÜ angeregt. Anstelle der gesetzlichen Wahlmöglichkeit wird die Formulierung vorgeschlagen: „Straftat, für die es eine Gefängnisstrafe oder einen Freiheitsentzug von mindestens zwölf Monaten geben kann“. 18 Für Deutschland sind dies die Beamten der Polizeibehörden des Bundes und der Länder (Art. 41 Abs. 7, 2. Anstrich SDÜ). Damit ist der Kreis der nacheilenden Beamten nicht gesetzlich eingeschränkt, vgl. Isak, in: Nachbaur (Fn. 2), S. 52 (58: „Polizeischiene“). Beschränkt auf den Bereich des unerlaubten Verkehrs mit Betäubungsmitteln und des unerlaubten Handels mit Waffen, sind auch die Beamten des Zollfahndungsdienstes als Hilfsbeamte der StA (sic. „Ermittlungspersonen der StA“) befugt. _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 320 Identitätsfeststellung und Vernehmung festgenommener Personen im Schengen-Raum _____________________________________________________________________________________ des rechtzeitigen Heranziehens örtlicher Behörden – ausgeübt werden darf.19 Ausländische Beamten haben mit Verfolgungsende der örtlich zuständigen Polizei Bericht zu erstatten (Art. 41 Abs. 5 lit. g Hs. 1 SDÜ). Diese Pflicht stellt einen Ausnahmetatbestand zur beamtenrechtlichen Verschwiegenheitspflicht dar20 und erfolgt im Rahmen der „Polizeilichen Rechtshilfe“ nach Art. 39 Abs. 1 SDÜ.21 Zu Inhalt und Form der Berichterstattung macht das SDÜ keine Vorgaben.22 Nach Sinn und Zweck dieser dienstlichen Obliegenheit hat sich die Mitteilung auf die näheren Umstände des der Nacheile zugrundeliegenden Sachverhalts („auslieferungsfähige Straftat“, Tatverdächtige) sowie Straftaten und Ordnungswidrigkeiten nach Grenzübertritt zu erstrecken. 23 Mitzuteilen ist ferner das wahrgenommene Verhalten über Festgenommene vor, während und nach der Tat, soweit es für die Frage der Strafbarkeit und Strafzumessung von Bedeutung ist. Hierzu zählen auch Spontanäußerungen gegenüber nachgeeilten Beamten, also unaufgeforderte bzw. nicht provozierte Angaben Betroffener, ohne im Rahmen von Vernehmungen befragt worden zu sein. 24 Gleiches gilt für Ergebnisse informatorischer Befragungen, bei denen Festgenommene – ohne Belehrung über ihr Schweigerecht – außerhalb von Vernehmungen selbstbelastende Angaben machen.25 Der Bericht wird meist mündlich erstattet und von den örtlich zuständigen Beamten protokolliert. Bei Sprachbarrie19 Nacheilende ausländische Beamte, die den Verfolgten auf deutschem Hoheitsgebiet bei einer neuen Straftat betreffen oder verfolgen, können vom Recht der Flagranzfestnahme nach § 127 Abs. 1 S. 1 StPO und § 19 S. 2 IRG Gebrauch machen, vgl. Goy (Fn. 12), S. 204, 206. 20 Der Schutz öffentlicher Geheimhaltungsinteressen wird in Deutschland durch § 54 Abs. 1 StPO normiert. 21 Die Nacheile gemäß Art. 41 SDÜ ist in Titel III „Polizei und Sicherheit“, Kapitel 1, geregelt. Die Rechtshilfe in Strafsachen ist Gegenstand von Titel III, Kapitel 2. 22 Jede Dienststelle, die eine Nacheile durchgeführt hat, muss – ungeachtet des Ausgangs – einen Vordruck ausfüllen, sobald ein Grenzübertritt erfolgt ist und an ihre zentrale Stelle übermitteln, so Goy (Fn. 12), S. 227. 23 Die Zusammenarbeit bei der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten regelt Art. 50 Abs. 5 SDÜ. 24 BGH NJW 1990, 461; BGH NStZ 2010, 464; Beulke; Strafprozessrecht, 12. Aufl. 2012, Rn. 113; Diemer, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 7. Aufl. 2013, § 163a StPO Rn. 6; Deckers, in: Widmaier/Müller/Schlothauer (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung, 2. Aufl. 2014, § 45 Rn. 104 m.w.N.; Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Aufl. 2014, Rn. 1080. 25 BGH NStZ 1983, 293; OLG Stuttgart MDR 1977, 70; vgl. auch BGH StV 1990, 195, mit kritischer Anm. Fezer; Bender/Nack/Treuer (Fn. 24) Rn. 1078. Jahn, in: Heghmanns/ Scheffler (Hrsg.), Handbuch zum Strafverfahren, 2008, II Rn. 96. Zur Verwertbarkeit von Spontanäußerungen und informatischen Befragungen, siehe Gliederungspunkt XI. 2. b) und c). ren bedarf es mehrsprachiger Polizisten bzw. Verbindungsbeamter, Dolmetscher oder Übersetzer.26 Für schnelle und korrekte Sachverhaltsaufklärungen sind präzise Übersetzungen unabdingbar, da nur so Informationsverluste und Fehlinterpretationen verhindert werden können. 3. Ersuchen um vorläufige Festnahme und Auslieferung Aufforderungen nachgeeilter Beamter zur Identitätsfeststellung und Festnahme Verfolgter haben örtlich zuständige Behörden zu entsprechen. Ihre Ermittlungshandlungen erfolgen als Rechts- bzw. Amtshilfe27 nach deutschem Recht. Bei Ersuchen einer zuständigen Justizbehörde des Ausgangsstaates der Nacheile um vorläufige Festnahme der Betroffenen mit dem Ziel ihrer Auslieferung richtet sich das weitere Verfahren nach § 19 i.V.m. §§ 15, 16 IRG. 28 Ein ausländischer Haftbefehl muss zum Zeitpunkt des Ersuchens noch nicht bestehen.29 Nach vorläufiger Festnahme durch die Polizei (§ 19 IRG) erfolgt die Vorführung vor und die Vernehmung durch den Richter des nächsten Amtsgerichts (§ 22 IRG).30 4. Örtliche und sachliche Zuständigkeit der Behörden des Festnahmestaates Das Amtshandeln ist nach dem SDÜ explizit nur an die örtliche Zuständigkeit der Behörden geknüpft. Hoheitliches Tätigwerden nach der Rechtsordnung des Gebietsstaates setzt jedoch regelmäßig das Vorliegen der örtlichen und sachlichen Zuständigkeit voraus.31 Auch aus dem Kontext der im SDÜ normierten Eingriffsbefugnisse ergibt sich, dass der Begriff „zuständig“ stets auch im Sinne der sachlichen Zuständigkeit zu verstehen ist. Diese liegt vor, wenn konkrete Maßnahmen eines Amtsträgers in dessen originären Aufgabenbereich fallen.32 26 Der Einsatz von Verbindungsbeamten ist in Art. 44 Abs. 2 lit. b SDÜ vorgesehen; siehe auch „Konzept über die gegenseitige Entsendung von Verbindungsbeamten zur Beratung und Unterstützung bei der Durchführung von Sicherungsund Kontrollaufgaben an den Außengrenzen“, ABI. L 239 v. 22.9.2000, S. 412 ff. 27 Im deutschen Recht richtet sich die Unterscheidung zwischen Rechts- und Amtshilfe überwiegend nach der ersuchten Stelle, wobei jede Hilfe zwischen Behörden als Amtshilfe und jede Vornahme einzelner Handlungen durch ein Gericht als Rechtshilfe bezeichnet wird, siehe Goy (Fn. 12), S. 232 m.w.N. 28 Würz (Fn. 12), S. 92 Rn. 148; Goy (Fn. 12), S. 224. 29 Hackner/Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 2. Aufl. 2012, Rn. 57; OLG Karlsruhe NStZ 1989, 235. 30 Hackner/Schierholt (Fn. 29), Rn. 57. 31 So bereits Heinrich, NStZ 1996, 361; ebenso BGH FDStrafR 2015, 369759, in Bezug auf die Rechtmäßigkeit hoheitlichen Handelns im strafrechtlichen Sinne. 32 In der Literatur wird die sachliche Zuständigkeit als Voraussetzung für polizeiliches Tätigwerden höher eingeschätzt als die örtliche Zuständigkeit, so z.B. Rachor, in: Lisken/ _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 321 Michael Soiné _____________________________________________________________________________________ Identitätsfeststellung, Festnahme und Vernehmung Verfolgter obliegen den örtlich und sachlich zuständigen Polizeibehörden.33 Die Zulässigkeit des Festhaltens festgenommener Personen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit zum Zwecke der Vernehmung ergibt sich aus Art. 41 Abs. 6 Unterabs. 1 S. 1 SDÜ.34 Auf die sinngemäße Anwendung einschlägiger Bestimmungen des nationalen Rechts wird in Art. 41 Abs. 6 Unterabs. 1 S. 2 SDÜ verwiesen. Bei in Deutschland endender Verfolgung findet deutsches Strafprozessrecht Anwendung. Die Identitätsfeststellung Festgenommener durch die Polizei richtet sich nach §§ 163b Abs. 1 und 163c StPO, Ermächtigungsgrundlage für die darauf folgende polizeiliche Vernehmung ist § 163a Abs. 4 StPO. IV. Strafverfolgungspflicht und Beschuldigteneigenschaft Der die Strafverfolgungspflicht auslösende Anfangsverdacht (§ 152 Abs. 2 StPO) verlangt zureichende tatsächliche Anhaltspunkte, d.h. konkrete Tatsachen, dass der zu untersuchende Lebenssachverhalt eine Straftat enthält. 35 Die Beschuldigteneigenschaft resultiert aus einem Willensakt der zuständigen Strafverfolgungsbehörde.36 Ein Ermittlungsverfahren muss nicht förmlich eingeleitet sein, 37 es bedarf nur einer behördlichen Maßnahme mit dem erkennbaren Ziel, gegen diese Person strafrechtlich vorzugehen. 38 1. Verdacht der Straftatbegehung im Ausland Bei Nacheilesachverhalten aus dem Ausland werden deutsche Strafverfolgungsorgane wegen des Verdachts tätig, dass Betroffene „auslieferungsfähige Straftaten“ (Art. 41 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 SDÜ) im Tatortstaat begangen haben und deshalb von ausländischen Polizeibeamten grenzüberschreitend verfolgt (und ggf. festgehalten) wurden. Die Mitteilung der tatverdachtsbegründenden Indizien durch nacheilende Beamte gegenüber zuständigen Behörden erfolgt spätestens bei Grenzübertritt (Art. 41 Abs. 1 Unterabs. 3 S. 1 SDÜ) und entspricht einer Strafanzeige (§ 158 Abs. 1 StPO).39 Von Denninger (Fn. 7), C Rn. 29. Auch das IRG unterscheidet zwischen sachlicher (§ 13) und örtlicher (§ 14) Zuständigkeit. 33 Goy (Fn. 12), S. 207, 213, 224, 225, 234 f. 34 Das Festhalten einer Person stellt je nach Dauer eine Freiheitsbeschränkung (Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG) oder eine Freiheitsentziehung (Art. 104 Abs. 2 GG) dar. Abgrenzungskriterium ist die zeitliche Erheblichkeit wie das mehrstündige Sitzen in einem Gefangenentransportbus als Freiheitsentziehung; vgl. VGH München, Urt. v. 27.1.2012 – 10 B 08.2849 = BeckRS 2012, 47353 Rn. 44, unter Bezugnahme auf BVerfGE 94, 166 Rn. 114; siehe auch Jahn (Fn. 25), II Rn. 54. 35 BGH NStZ 1994, 499 m.w.N. 36 BGH NStZ 2015, 291; BGHSt 34, 138 (140); OLG Frankfurt a.M. NStZ 1988, 425. 37 BGH NStZ 2015, 291 (292). 38 BGH NJW 1997, 1591 (1592). 39 Hilfreich sind die gemäß Art. 44 Abs. 1 SDÜ von den Vertragsparteien nach Maßgabe der entsprechenden internationalen Verträge und unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten und der technischen Möglichkeiten – insbe- indizieller Bedeutung ist auch der Bericht der Beamten nach Beendigung der Nacheile (Art. 41 Abs. 5 lit. g Hs. 1 SDÜ). Dieser kann gegenüber der Erstmitteilung nach Grenzübertritt um weitere Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten ergänzt werden.40 Tatverdachtserläuternd ist schließlich eine Aufforderung der nachgeeilten Beamten, die Verfolgten zur Wahrung eines Ersuchens um Festnahme zur Auslieferung vorläufig festzunehmen.41 2. Verdacht der Tatbegehung nach Grenzübertritt Der Tatverdacht auf Straftatbegehung im Ausland verpflichtet die zuständige Polizeibehörde zur Prüfung, ob das Delikt in Deutschland verfolgt werden kann (§§ 5, 6 und 7 StGB). 42 Bei Verdacht der Tatbegehung nach Grenzübertritt,43 etwa aufgrund des Berichts der nachgeeilten Beamten, ist gegen vorläufig Festgenommene ein Ermittlungsverfahren in Deutschland einzuleiten. In diesem Fall wird z.B. die Festnahme (§ 127 Abs. 2 StPO) von Amts wegen angeordnet. 44 Kommen Strafverfolgungsmaßnahmen wegen Fehlens einer Tatbegehung in Deutschland nicht in Betracht, ist bei einem dringend tatverdächtigen Ausländer eine vorläufige Festnahme ohne entsprechendes Ersuchen (§§ 16 Abs. 1 Nr. 2, 19 IRG) zulässig, wenn die Tat zu seiner Auslieferung Anlass geben kann. 3. Die festgenommene Person als Beschuldigter Der Beschuldigtenstatus von Personen, die aus dem Ausland nach Deutschland geflohen sind und dort von nacheilenden Beamten ergriffen wurden, manifestiert sich bei Festnahme durch die zuständigen Behörden. Sie gründet auf dem Verdacht „auslieferungsfähiger Straftaten“ und weiteren Maßsondere in den Grenzregionen – zu schaffenden direkte Telefon-, Funk-, Telex- und andere Verbindungen zum Zwecke der Erleichterung der polizeilichen und zollrechtlichen Zusammenarbeit, insbesondere im Hinblick auf die rechtzeitige Übermittlung von Informationen im Zusammenhang mit der grenzüberschreitenden Observation und Nacheile. 40 Dazu unter Gliederungspunkt IV. 2. 41 Goy (Fn. 12), S. 206. 42 Beispiel bei Isak, in: Nachbaur (Fn. 2), S.52 (59): „Auf einem Autobahnparkplatz bei Freiburg wird ein Pole mit einem in Colmar gestohlenen französischen Pkw angetroffen. Das deutsche Strafrecht gilt grundsätzlich nicht. Es besteht ein Verfahrenshindernis, ein Ermittlungsverfahren darf nicht eingeleitet werden, Zwangsmaßnahmen sind unzulässig. Eine Ausnahme gilt nach § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB, wenn der ausländische Täter im Inland betroffen und nicht ausgeliefert wird, weil kein Antrag gestellt, der Antrag abgelehnt oder die Auslieferung aus tatsächlichen Gründen nicht ausführbar ist, obwohl die Auslieferung an sich zulässig wäre. Solange die Auslieferungsfrage offen ist, besteht ein Verfahrenshindernis.“ 43 Z.B. gemeingefährliche Straftaten im Sinne von §§ 315b, 315c, 316 StGB und Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit gemäß §§ 223, 224, 226 und 227 StGB. 44 Goy (Fn. 12), S. 222 f. _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 322 Identitätsfeststellung und Vernehmung festgenommener Personen im Schengen-Raum _____________________________________________________________________________________ nahmen zur Sicherung des Strafverfahrens im Tatortstaat oder der Strafverfolgung in Deutschland. fe“.51 Sie gelten hingegen nicht, wenn ein Ermittlungsverfahren gegen die Verfolgten im Festnahmestaat eingeleitet wird. V. Informations-, Belehrungs- und Benachrichtigungspflichten Das Ergreifen/Festhalten und die vorläufige Festnahme grenzüberschreitend Verfolgter lösen Informations-, Belehrungs- und Benachrichtigungspflichten aus (§ 127 Abs. 4 i.V.m. §§ 114a bis 114c StPO). Die Festgenommenen sind unverzüglich schriftlich und in einer ihnen verständlichen Sprache über ihre Rechte zu belehren (§ 114b Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 114b Abs. 2 StPO). Dazu gehört das jederzeitige Recht auf Befragung eines Wahlverteidigers (§ 114b Abs. 2 S. 1 Nr. 4 StPO) und in Fällen notwendiger Verteidigung (§ 140 Abs. 1 und Abs. 2 StPO)45 der Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung (§ 114b Abs. 2 S. 1 Nr. 4a StPO).46 Die Benachrichtigung eines Angehörigen oder einer Person ihres Vertrauens setzt voraus, dass dadurch der Zweck der Untersuchung nicht gefährdet wird (§ 114b Abs. 2 S. 1 Nr. 6 StPO). Die Festgenommenen haben keinen Anspruch auf Anwesenheit eines Verteidigers bei ihrer polizeilichen Beschuldigtenvernehmung;47 es fehlt der Verweis in § 163a Abs. 4 S. 2 StPO auf § 168c Abs. 1 StPO wie bei der staatsanwaltschaftlichen Vernehmung.48 Ausländische Staatsangehörige sind bei Verhaftung über ihr Recht zur Unterrichtung der konsularischen Vertretung ihres Heimatstaates zu belehren, der sie auch Mitteilungen zukommen lassen können (§ 114b Abs. 2 S. 4 StPO).49 VII. Identitätsfeststellung festgenommener Personen Die Identitätsfeststellung festgenommener Personen durch Beamte des Polizeidienstes52 richtet sich nach §§ 163b Abs. 1, 163c Abs. 1, Abs. 2 StPO und erfolgt primär zur Tatverdachtsklärung.53 Die Identität der Betroffenen kann auch auf Aufforderung nachgeeilter Beamten festgestellt werden, wenn ein Strafverfahren im Tatortstaat beabsichtigt ist.54 Zulässige Maßnahmen sind die Aufforderung, sich mittels Personaldokumenten auszuweisen (§ 163b Abs. 1 S. 1 StPO),55 das Festhalten (§ 163b Abs. 1 S. 2 StPO) und Durchsuchen ihrer Person einschließlich mitgeführter Sachen (§ 163b Abs. 1 S. 3, 1. und 2. Alt. StPO) sowie ihre erkennungsdienstliche Behandlung (§ 163b Abs. 1 S. 3 Alt. 3 StPO). Der Nachweis der Identität erfolgt in der Regel anhand von Personalien, wie Name, Vorname, Geburtsdatum und -ort sowie aktueller Anschrift.56 Das Festhalten der Betroffenen verpflichtet gemäß § 163c Abs. 1 S. 3 StPO zu den Informations-, Belehrungs- und Benachrichtigungspflichten nach §§ 114a bis 114c StPO.57 VI. Weiteres Verfahren nach Festnahme Personen, die nicht die Staatsangehörigkeit der Vertragspartei haben, in deren Hoheitsgebiet sie aufgegriffen wurden, sind spätestens nach sechs Stunden freizulassen, Art. 41 Abs. 6 S. 3 SDÜ (die Stunden zwischen Mitternacht und neun Uhr zählen nicht mit), es sei denn, die örtlich zuständigen Behörden erhalten vor Ablauf dieser Frist ein Ersuchen um vorläufige Festnahme zum Zwecke der Auslieferung.50 In diesem Fall gelten die Vorschriften der „Internationalen Rechtshil- VIII. Vernehmung festgenommener Personen Die Vernehmung festgenommener Personen erfolgt erst bei Vorliegen des Berichts der nachgeeilten Beamten, der eine umfassendere Sachverhaltsbewertung ermöglichen kann. Vorgelagerte Vor- oder Kontaktgespräche sind verfahrensrechtlich zulässig; sie dürfen sich aber nicht auf den Gegenstand der Vernehmung beziehen.58 1. Zweck und allgemeine Voraussetzungen der Beschuldigtenvernehmung Bei der Vernehmung verlangt die Vernehmungsperson in amtlicher Funktion von den Betroffenen Auskunft. 59 Vernehmungen dienen der Wahrheitsermittlung und sollen Beschuldigten rechtliches Gehör verschaffen (Art. 103 Abs. 1 45 Dem Beschuldigten wird z.B. ein Verbrechen zur Last gelegt, § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO. 46 Schmitt (Fn. 15), § 114b StPO Rn. 5a. 47 BGH NJW 2007, 204; siehe aber EGMR NJW 2009, 3709 (Salduz vs. Türkei), wonach die Verweigerung des Rechts auf Zugang zu einem Verteidiger mit Beginn der ersten polizeilichen Vernehmung gegen Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. c EMRK verstößt. 48 Schmitt (Fn. 15), § 163 StPO Rn. 16; Artkämper/Schilling, Vernehmungen,Taktik, Psychologie, Recht, 3. Aufl. 2014, S. 167. Siehe auch Jahn (Fn. 25), II Rn. 139 f. 49 Vgl. auch Art. 36 Abs. 1 lit. b) des Wiener Konsularrechtsübereinkommens (WÜK) v. 24.4.1963, BGBl. II 1969, 1585. Unter Nr. 135 Abs. 3 RiVASt ist eine Recherche bezüglich der einzelnen Länder unter folgender Internetadresse möglich: www.bmjv.bund.de. 50 Auf die Form des Ersuchens soll es nicht ankommen, so Gleß (Fn. 15), Art. 41 SDÜ Rn. 14; Goy (Fn. 12), S. 344. 51 Mokros (Fn. 7), O. Rn. 256. Sie müssen nicht Ermittlungspersonen der StA (§ 152 GVG) sein. Die Anordnung einer Identitätsfeststellung durch die in § 163b Abs. 1 S. 1 StPO an erster Stelle genannte StA ist eher die Ausnahme. 53 BVerfGE 92, 191. 54 Goy (Fn. 12), S. 206. 55 So die Auffassung in der Literatur, vgl. etwa Schmitt (Fn. 15), § 163b StPO Rn. 6; Patzak, in Graf (Hrsg.), Strafprozeßordnung, Kommentar, 2. Aufl. 2012, § 163b StPO Rn. 7. 56 Kurth, NJW 1979, 1377 (1379); Jahn (Fn. 25), II Rn. 50. 57 Dazu unter Gliederungspunkt V. 58 Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Spezialkommentar, 9. Aufl. 2015, Rn. 580. 59 BGHSt (GrS) 42, 139 (145); 55, 314; BGH NStZ 1995, 410. 52 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 323 Michael Soiné _____________________________________________________________________________________ GG).60 Sie bezwecken auch die Feststellung, ob die Beschuldigten freizulassen oder dem Richter vorzuführen sind.61 Vernehmungen setzen die Vernehmungsfähigkeit der Beschuldigten voraus, also das Vermögen, die prozessuale Situation zu erfassen, die eigenen Interessen zu erkennen und wahrzunehmen.62 2. Beschuldigtenvernehmung durch Beamte des Polizeidienstes Vor Beginn der ersten Vernehmung durch die Polizei (§ 163a Abs. 4, Abs. 5 StPO) ist zu klären, ob der Beschuldigte die Verhandlungssprache spricht; anderenfalls ist ein Dolmetscher oder Übersetzer für das gesamte Strafverfahren unentgeltlich beizuordnen (Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK, § 163a Abs. 5 StPO i.V.m. § 187 Abs. 1 GVG, Nr. 181 Abs. 1 RiStBV). Über die Beschuldigtenvernehmung ist ein Protokoll zu fertigen (§ 168b Abs. 2 i.V.m. §§ 168, 168a StPO). Sie kann zudem auf Bild-Tonträger aufgezeichnet werden (§ 163a Abs. 1 S. 2, Abs. 4 i.V.m. § 58a Abs. 1 S. 1 StPO). Eine Videoaufzeichnung ersetzt das schriftliche Vernehmungsprotokoll nicht.63 a) Vernehmung zur Person Die Vernehmung zur Person (§ 136 Abs. 1 S. 2 StPO) steht am Beginn jeder Vernehmung und dient der Identitätsklärung.64 Sie umfasst die Feststellung der korrekten Schreibweise des Familien- und Geburtsnamens, des Geburtstages und Geburtsortes sowie der Staatsangehörigkeit (Nr. 13 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 RiStBV). Bei Ausländern sind zudem Passnummer und Namen der Eltern (einschließlich deren Geburtsnamen) festzustellen (Nr. 13 Abs. 1 S. 2 RiStBV). b) Vernehmung zur Sache Die Vernehmung zur Sache (§ 163a Abs. 4 S. 1 bis 3 StPO) besteht aus der Eröffnung des Tatvorwurfs, der Belehrung über die Aussagefreiheit, dem Hinweis auf das Recht zur Verteidigerkonsultation, dem Beweisantragsrecht, dem Recht zur Bestellung eines Pflichtverteidigers, der Möglichkeit der schriftlichen Äußerung zur Sache, der Möglichkeit des TOA, der Mitteilung der Verdachtsgründe und der Ermittlung der persönlichen Verhältnisse. Bei Vernehmungen dürfen verbo- 60 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 28. Aufl. 2014, § 25 Rn. 4; BGH NStZ 1989, 282. 61 Goy (Fn. 12), S. 300, 308. 62 Der Begriff deckt sich nicht mit dem der Geschäftsfähigkeit, der Prozessfähigkeit oder der Schuldfähigkeit; vgl. Deckers (Fn. 24), § 45 Rn. 102 m.w.N. 63 Maier, in: Knauer/Kudlich/Schneider (Hrsg.): Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung, Bd 1, 2014, § 58a StPO Rn. 11. 64 Die Pflicht zur Angabe der Personalien wird aus § 136 Abs. 1 S. 2 StPO hergeleitet; siehe Roxin/Schünemann (Fn. 60), § 25 Rn. 6. Zur Befugnis von Polizeibeamten, im Ermittlungsverfahren die Personalien des Beschuldigten aufzunehmen, vgl. BGHSt 25, 13. tene Vernehmungsmethoden (§ 136a StPO) nicht angewendet werden. IX. Nachgeeilte Beamte bei Identitätsfeststellungen und Vernehmungssituationen im Festnahmestaat Im Folgenden wird untersucht, ob mit Beendigung der Nacheile ausländische Beamte zu eigenmächtigen Identitätsfeststellungen und Vernehmungen verfolgter Personen in Deutschland befugt sind. Ferner ist zu prüfen, ob sie von den zuständigen Behörden zu solchen Maßnahmen hinzugezogen werden können bzw. zu diesen Zwecken an gemeinsamen Ermittlungsgruppen im Inland teilnehmen dürfen. 1. Eigenmächtige Identitätsfeststellung und Vernehmung durch nachgeeilte Beamte Grundsätzlich können aus dem Ausland nachgeeilte Beamte in Deutschland nur die jedermann zustehenden Verteidigungs- und Festnahmerechte ausüben. Die eigenmächtige Vornahme von Verfahrenshandlungen in einem ausländischen Staat stellt ohne völkerrechtliche Vereinbarung oder einzelfallbezogene Zustimmung eine Verletzung fremder Hoheitsrechte dar.65 Die Grundsätze der Gebietshoheit und Staatensouveränität, die Teil des allgemeinen Völkergewohnheitsrechts sind, gebieten das Einholen der Zustimmung des Gaststaates, wenn eigene Beamte in dessen Hoheitsgebiet Amtshandlungen vornehmen sollen. 66 Eigenmächtige Ermittlungen mit Eingriffscharakter wie Identitätsfeststellungen und Beschuldigtenvernehmungen durch nacheilende Beamte sind damit auf dem Territorium fremder Schengen-Staaten unzulässig. 2. Hinzuziehung nachgeeilter Beamter Die Beteiligung ausländischer Beamter an Identitätsfeststellungen und Beschuldigtenvernehmungen ist in Deutschland strafprozessual nicht verboten. Ihre Hinzuziehung kann z.B. bei Sprachbarrieren zweckdienlich sein, wenn die Beschuldigten freiwillig auf Dolmetscher oder Übersetzer verzichten.67 Identitätsfeststellungen und Beschuldigtenvernehmungen sind auch bei Teilnahme ausländischer Ermittler rein inländische Untersuchungshandlungen, bei der die Schutzvorschriften des deutschen Strafprozessrechts (z.B. §§ 136, 136a, § 163c Abs. 1 S. 3 i.V.m. §§ 114a bis 114c StPO) zu beachten sind.68 Unerheblich ist, ob die Maßnahmen für ein deutsches Strafverfahren erfolgen oder es sich um Rechtshilfehandlungen für ein ausländisches Strafverfahren handelt. OLG Koblenz, Beschl. v. 30.10.2014 – 1 OWi 3 SsBs 63/14 = BeckRS 2015, 01025 Rn. 5 m.w.N. 66 OVG Münster NVwZ-RR 2014, 939. 67 Im Hinblick auf Vernehmungen, vgl. Brammertz, Grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit am Beispiel der Euregio Maas-Rhein, 1999, S. 30; Goy (Fn. 12), S. 308. 68 In Bezug auf Vernehmungen, vgl. BGH NStZ 2007, 344 Rn. 3. 65 _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 324 Identitätsfeststellung und Vernehmung festgenommener Personen im Schengen-Raum _____________________________________________________________________________________ Werden nachgeeilten ausländischen Beamten Anwesenheitsrechte eingeräumt, sind drei Konstellationen zu unterscheiden: (1) Keine Einbeziehung in Ermittlungshandlungen (jedoch Sprachmittlerfunktion zulässig), (2) Einräumen einer Einflussnahme außerhalb von Ermitt lungsmaßnahmen (z.B. vor und nach der Vernehmung oder bei Unterbrechungen) oder (3) Aktive Mitwirkung an Ermittlungen (z.B. an der Vernehmung einschließlich Erstellung des Vernehmungsprotokolls).69 Art. 41 SDÜ lässt offen, unter welchen rechtlichen Voraussetzungen nachgeeilte Beamte an Identitätsfeststellungen oder Vernehmungen teilnehmen dürfen. 70 Art. 4 des Europäischen Rechtshilfeübereinkommens (EuRhÜbk) 71 kann als Rechtsgrundlage herangezogen werden, 72 sofern Ersuchen gemäß Art. 3 Abs. 1 EuRhÜbk gestellt und vom ersuchten Staat bewilligt wurden.73 So können Ersuchen der zuständigen ausländischen Behörde bewilligt werden, bei Vernehmungen durch Beamte ihrer Polizeien unmittelbar Fragen an die Beschuldigten richten und das Vernehmungsprotokoll schreiben zu dürfen.74 3. Gemeinsame Ermittlungsgruppen Nach dem Rahmenbeschluss des Rates vom 13.6.2002 über gemeinsame Ermittlungsgruppen (2002/465/JI)75 und Art. 13 des Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen (EU-RhÜbK)76 sind gemeinsame Ermittlungsgruppen zuläs- 69 Joubert/Bevers, Schengen Investigated, A Comparative Interpretation of the Schengen Provisions on International Police Cooperation in the Light of the European Convention on Human Rights, 1996, S. 410; Goy (Fn. 12), S. 214, 309. Die Zuziehung ausländischer Beamter bei Ermittlungen in Deutschland stellt keinen Eingriff in die Grundrechte des Betroffenen dar; OLG Karlsruhe NJW 1992, 642 (Anwesenheit amerikanischer Ermittler bei einer Durchsuchung). 70 Goy (Fn. 12), S. 214. 71 Europäisches Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen v. 20.4.1959, BGBl. II 1964, S. 1386; BGBl. II 1976, S. 1799; BGBl. I 1982, S. 2071. 72 BGH NStZ 2007, 344 Rn. 3. 73 Nach Art. 4 Abs. 1 EuRhÜbk unterrichtet der ersuchte Staat den ersuchenden Staat auf dessen ausdrückliches Verlangen von Zeit und Ort der Erledigung des Rechtshilfeersuchens. Art. 4 S. 2 EuRhÜbk bestimmt, dass die beteiligten Behörden und interessierten Personen bei der Erledigung vertreten sein können, wenn der ersuchte Staat zustimmt. 74 BGH NStZ 2007, 344 Rn. 3. In diesem Sinne bereits Joubert/Bevers (Fn. 69), S. 410; Goy (Fn. 12), S. 214. 75 ABl. Nr. L 162 v. 20.6.2002, S. 1, Art. 1. 76 Übereinkommen v. 29.5.2000 – gemäß Art. 34 des Vertrags über die Europäische Union vom Rat erstellt – über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedern der sig, z.B. bei umfangreichen Strafverfahren mit Bezügen zu mehreren Mitgliedstaaten. In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird ihr Einsatz als Vernehmungsteams zur Vereinfachung von Beschuldigtenvernehmungen durch örtlich zuständige und nachgeeilte Beamte diskutiert. 77 Diese Teams erleichterten die Übermittlung von Erkenntnissen aus Vernehmungen an ausländische Behörden und deren Verwertung in dortigen Strafverfahren ohne Rechtshilfeersuchen.78 Das SDÜ kennt diese Form grenzüberschreitender polizeilicher Zusammenarbeit hingegen nicht. Die Vertragsstaaten beschränken polizeiliche Rechtshilfe auf das gegenseitige Entsenden von Verbindungsbeamten, die den Informationsaustausch zur präventiven und repressiven Verbrechensbekämpfung und bei der polizeilichen und justiziellen Rechtshilfe in Strafsachen unterstützen (Art. 47 Abs. 1, Abs. 2 lit. a und b SDÜ). Zur selbstständigen Durchführung polizeilicher Maßnahmen sind Verbindungsbeamte (auch „im Team“ mit Beamten des Gastlandes) nicht befugt (Art. 47 Abs. 3 S. 2 SDÜ). Nach § 93 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG)79 sind gemeinsame Ermittlungsgruppen unter engen Voraussetzungen zulässig; insbesondere ist neben bewilligten Ersuchen eine Errichtungsvereinbarung notwendig. Maßnahmen der Gruppenmitglieder unterliegen dem Recht am Handlungsort. Beteiligte Beamte dürfen entsandten teilnehmenden Personen dienstliche Erkenntnisse bei Erforderlichkeit unmittelbar mitteilen (§ 93 Abs. 3 IRG). Die Nutzung erlangter Informationen für andere Zwecke als die Durchführung von Ermittlungsmaßnahmen stellt eine Zweckänderung dar und bedarf der Bewilligung eines Ersuchens (§ 93 Abs. 4 IRG). Damit kommen gemeinsame Ermittlungsgruppen zur polizeilichen Bearbeitung von Ad-hocSachverhalten wie grenzüberschreitende Nacheile, Identitätsfeststellung und Vernehmung verfolgter Personen nur bei vorheriger Vereinbarung in Betracht. 80 X. Richterliche Vernehmungen im Festnahmestaat Zu unterscheiden ist bei richterlichen Vernehmungen zwischen der Vernehmung festgenommener Personen ohne Vorliegen eines Festnahme- oder Auslieferungsersuchens und der Vernehmung auf Ersuchen einer zuständigen ausländischen Stelle. Darüber hinaus kommt die Vernehmung nachgeeilter Beamter als Zeugen in Betracht. Europäischen Union, BGBl. 2005 II 650; ABl. Nr. C 197 v. 12.7.2000, 1; BGBl. I 2005, S. 2189. 77 Vor allem Goy (Fn. 12), passim. 78 Goy (Fn. 12), S. 309, 346. 79 Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen i.d.F. der Bekanntmachung v. 27.6.1994 (BGBl. I 1994, S. 1537), das durch Art. 1 des Gesetzes v. 17.7.2015 (BGBl. I 2015, S. 1349) geändert worden ist. 80 Grenzüberschreitende Nacheile betrifft in der Regel nicht planbare Fluchtsituationen, Krüßmann, in Böse (Hrsg.): Europäisches Strafrecht mit polizeilicher Zusammenarbeit (EnzEuR Bd. 9), 2013, § 18 Rn. 32. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 325 Michael Soiné _____________________________________________________________________________________ 1. Richterliche Vernehmung des Festgenommenen ohne Festnahme- und Auslieferungsersuchen Ohne Ersuchen einer ausländischen Stelle sind festgenommene Personen (§ 127 Abs. 1, Abs. 2 StPO) unverzüglich, spätestens am darauffolgenden Tag, dem zuständigen Amtsrichter des Festnahmeortes vorzuführen (§ 128 Abs. 1 S. 1 StPO). Bis zum Ablauf des auf die Festnahme folgenden Tages (§ 115 Abs. 2 StPO) ist der Betroffene richterlich zu vernehmen. Die Vernehmung verschafft Festgenommenen rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) 81 und muss in einer ihnen verständlichen Sprache durchgeführt werden. Beschuldigte haben Anspruch auf unentgeltliche Beiordnung eines Dolmetschers oder Übersetzers für das gesamte Strafverfahren (Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK).82 Die StA und etwaige Verteidiger haben Anwesenheitsrecht (§ 168c Abs. 1, Abs. 4, Abs. 5 StPO).83 Handelt es sich um die erste Vernehmung der Beschuldigten in der Sache, richtet sich das weitere Vorgehen nach dem Verfahren bei der ersten richterlichen Vernehmung (§ 136 StPO).84 Ferner sind Beschuldigte u.a. auf belastende Umstände und ihr Schweigerecht hinzuweisen (§ 128 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 115 Abs. 3 StPO). Der dringende Tatverdacht und die Haftgründe sind ihnen zu erläutern. 85 Ihnen ist Gelegenheit zur Entkräftung der Verdachts- und Haftgründe und zum Vortrag entlastender Tatsachen zu geben (§ 128 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 115 Abs. 3 S. 2 StPO). Der Richter entscheidet auch über Beweisanträge Beschuldigter zu ihrer Entlastung (§ 166 StPO). Über die richterliche Beschuldigtenvernehmung ist ein Protokoll zu fertigen (§§ 168, 168a StPO). auf das jederzeitige Recht eines Beistands (§ 40 IRG) hin (§ 22 Abs. 2 S. 2 Alt. 1 IRG). Dieses Recht besteht ab der ersten auf ein Auslieferungsverfahren abzielenden behördlichen Maßnahme; in Deutschland schon mit der Flagranzfestnahme im Vorgriff auf einen vorläufigen AuslieferungsUntersuchungshaftbefehl.89 Der Richter hat die Verfolgten auf ihre Aussagefreiheit (§ 22 Abs. 2 S. 2 Alt. 2 IRG) und das Recht zu Einwendungen (§ 22 Abs. 2 S. 3 IRG) hinzuweisen. Die richterliche Vernehmung hat sich bei dringendem Tatverdacht auch auf den Gegenstand der Beschuldigung zu erstrecken (§ 22 Abs. 2 S. 4 i.V.m. § 21 Abs. 2 S. 4 IRG), wobei eine Prüfung des Schuldverdachts im Auslieferungsverfahren grundsätzlich unterbleibt.90 Der Richter hat von sich aus gemachte Angaben der Verfolgten in das Vernehmungsprotokoll aufzunehmen. Insbesondere die vollständige und wörtliche Protokollierung, im Einzelfall unter Verwendung der fremdsprachigen Begriffe, ermöglicht eine umfassende nachträgliche Bewertung der Aussage. 91 Der Richter ist zur Benachrichtigung der konsularischen Vertretung des Heimatstaates der beschuldigten Personen verpflichtet (Art. 36 Abs. 1 lit. b S. 3 WÜK). Beziehen sich Ersuchen oder Tatsachen aus denen sich ergibt, dass die Verfolgten einer Tat, die zu ihrer Auslieferung Anlass geben kann, dringend verdächtig sind (§ 17 Abs. 2 Nr. 4 IRG), nicht auf die Festgenommenen, hat der Richter deren Freilassung anzuordnen (§ 22 Abs. S. 1 IRG). Anderenfalls ergeht eine richterliche Festhalteanordnung bis zur Entscheidung des OLG (§ 22 Abs. 3 S. 2 IRG). 2. Richterliche Vernehmung des Festgenommenen aufgrund Festnahme- und Auslieferungsersuchen Bei Vorliegen eines ausländischen Ersuchens sind vorläufig Festgenommene gemäß § 19 IRG unverzüglich, spätestens am darauffolgenden Tag, dem Richter des nächsten Amtsgerichts vorzuführen (§ 22 Abs. 1 IRG) und über ihre persönlichen Verhältnisse, insbesondere über ihre Staatsangehörigkeit, zu vernehmen (§ 22 Abs. 2 S. 1 IRG). Nach der Rechtsprechung sollen Zweifel hinsichtlich der Staatsangehörigkeit einen vorläufigen Auslieferungshaftbefehl nicht hindern.86 Bei deutscher Staatsangehörigkeit ist deren Auslieferung grundsätzlich87 unzulässig.88 Der Richter weist die Verfolgten 3. Vernehmung nachgeeilter Beamter als Zeugen Die Vernehmung nachgeeilter Beamter als Zeugen sieht das SDÜ nicht vor; sie ist keine „Hilfeleistung“ zwischen Polizeibehörden im Sinne von Art. 39 Abs. 1 S. 1 SDÜ. Vor einer richterlichen Zeugenvernehmung haben ausländische Beamte eine Abwägung zwischen dem Geheimhaltungsinteresse und einem Strafverfolgungsinteresse vorzunehmen,92 die bei grenzüberschreitender Verfolgung tatverdächtiger Personen wegen „auslieferungsfähiger Straftaten“ in der Regel zugunsten der Strafverfolgung ausfällt. Die gerichtliche Zeugenvernehmung nachgeeilter Beamter über geheimhaltungsbedürftige Tatsachen erfordert eine Aussagegenehmigung ihrer Dienstvorgesetzten. 93 Deren Erteilung setzt ein bewilligtes Rechtshilfeersuchen der zuständigen inländischen Justizbehörde voraus.94 Ihre Vernehmung im Festnahmestaat ohne Bewilligung der Behörden ihres Herkunftsstaates ist nicht zulässig. 81 BVerfG NStZ 1994, 551. Dem trägt § 187 Abs. 1 GVG Rechnung; vgl. OLG Celle NStZ 2011, 718. 83 BGHSt (GrS) 42, 139 (145); 55, 314; BGH NStZ 1995, 410. 84 Schmitt (Fn. 15), § 115 StPO Rn. 8; Meinen, in: Heghmanns/ Scheffler (Fn. 25), IV Rn. 159. 85 Schmitt (Fn. 15), § 115 StPO Rn. 8 m.w.N. 86 BGHSt 20, 152 (156 f.). 87 Vgl. § 80 Abs. 1 IRG, der die Auslieferung deutscher Staatsangehöriger an Mitgliedstaaten der EU regelt. 88 Schomburg/Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner (Fn. 15), Vor § 21, 22 IRG Rn. 26. Der zuständige Richter beim AG habe die betroffenen deutschen Staatsangehörigen nach Einschaltung der StA beim OLG freizulassen; Schomburg/Hackner (a.a.O.), § 21 IRG Rn. 5. 82 89 Schomburg/Hackner (Fn. 88), § 40 IRG Rn. 8. Schomburg/Hackner (Fn. 88), § 21 IRG Rn. 8. 91 Schomburg/Hackner (Fn. 88), § 21 IRG Rn. 8. 92 Für Deutschland, vgl. § 67 BBG, § 37 Abs. 2 Nr. 2 BeamtStG sowie entsprechende landesgesetzliche Bestimmungen. 93 Schmitt (Fn. 15), § 54 StPO Rn. 15; Jahn (Fn. 25), II Rn. 170; Nr. 66 Abs. 1 S. 2 RiStBV. 94 Goy (Fn. 12), S. 235, 244; Hertweck, Kriminalistik 1995, 721 (723). 90 _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 326 Identitätsfeststellung und Vernehmung festgenommener Personen im Schengen-Raum _____________________________________________________________________________________ XI. Beweisverwertung Zu erörtern sind schließlich Fragen der Beweisverwertung bei Vernehmungen und vernehmungsähnlichen Situationen in grenzüberschreitenden Nacheilesachverhalten. 1. Verstoß gegen Belehrungs- und Hinweispflichten sowie verbotene Vernehmungsmethoden Verwertbar sind nach deutschem Recht Angaben der Beschuldigten trotz fehlender Belehrung über das Recht Beweiserhebungen zu beantragen (§ 136 Abs. 1 S. 3 StPO), das Recht der schriftlichen Äußerung zur Sache (§ 136 Abs. 1 S. 4 StPO) und die Möglichkeit eines TOA (§ 136 Abs. 1 S. 4 StPO).95 Nur bei schwerwiegenderen Verstößen gegen Belehrungs- und Hinweispflichten sowie Anwendung verbotener Vernehmungsmethoden nimmt die Rechtsprechung ein Verfahrenshindernis an.96 a) Pflicht zur Benachrichtigung der konsularischen Vertretung Die Verletzung der Benachrichtigungspflicht (Art. 36 Abs. 1 lit. b S. 3 WÜK) steht einer unterbliebenen Belehrung über die Aussagefreiheit oder Verteidigerkonsultation zwar nicht gleich,97 kann aber nach Maßgabe des Einzelfalls – unter Abwägung der Interessen der Beschuldigten mit dem Strafverfolgungsinteresse des Staates – ein Verwertungsverbot begründen, wenn den Beschuldigten durch die fehlende Belehrung Nachteile entstanden sind.98 b) Eröffnung des Tatvorwurfs Die Beeinflussung des Aussageverhaltens von Beschuldigten durch verspätete Belehrung über den Tatvorwurf (§ 136 Abs. 1 S. 1 StPO) kann zu einem Verwertungsverbot ihrer Angaben führen.99 c) Belehrung über die Aussagefreiheit Der unterbliebene Hinweis auf das Schweigerecht (§ 136 Abs. 1 S. 2 StPO) begründet grundsätzlich ein Verwertungsverbot.100 Das Verbot besteht jedoch nicht, wenn feststeht, dass die Beschuldigten ihr Recht zu schweigen ohne Belehrung gekannt haben.101 Lässt sich nicht klären, ob die Belehrung erfolgt ist, und haben die Beschuldigten ihre Aussagefreiheit nicht gekannt, so ist die Aussage ebenfalls nicht verwertbar.102 d) Hinweis auf das Recht zur Verteidigerkonsultation Die Verweigerung des Zugangsrechts zu einem Verteidiger verstößt gegen das faire Verfahren (Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. c EMRK).103 Das bewusste Verhindern einer Verteidigerkonsultation durch Vernehmungsbeamte führt zu einem Verwertungsverbot gewonnener Erkenntnisse. 104 Unverwertbar sind ferner Angaben, die Beschuldigte bei nicht erfolgter105 oder nur unzureichender106 Belehrung über dieses Recht (§ 136 Abs. 1 S. 2 StPO) machen. Gleiches gilt, wenn ihnen nach Belehrung trotz entsprechender Bitte die Rücksprache mit ihrem Verteidiger verweigert wird und sie zur Sache vernommen wurden.107 Einem Verwertungsverbot unterliegen spontane Einlassungen von Beschuldigten, die trotz ihrer Bitte einen Verteidiger sprechen zu wollen, zum Anlass für sachaufklärende Nachfragen genommen wurden.108 e) Unzulässige Mittel und Methoden bei Vernehmungen Ergebnisse einer Vernehmung dürfen nicht verwertet werden, wenn Beschuldigte in der Wahrnehmung der Aussagefreiheit beeinflusst oder beeinträchtigt wurden (Willens- und Entschlussfreiheit gemäß § 136a Abs. 1 StPO, Erinnerungsvermögen oder Einsichtsfähigkeit nach § 136a Abs. 2 StPO). Das Verwertungsverbot gilt ungeachtet ihrer Einwilligung (§ 136a Abs. 3 S. 1 StPO) bzw. Zustimmung zur Verwertung ihrer Angaben (§ 136a Abs. 3 S. 2 StPO). 2. Bei der Nacheile erlangte Informationen Zur Verwertbarkeit von Beweismitteln, die durch unrechtmäßige Nacheile erlangt wurden, liegt noch keine Judikatur vor.109 In diesem Fall ist von der Rechtswidrigkeit einer Verwertung als Verletzung der Souveränität des Gebietsstaates auszugehen.110 Ungeachtet dessen setzt die Verwertbarkeit von Erkenntnissen aus der Nacheile stets die Zustimmung oder Genehmigung des Festnahmestaates voraus. 111 a) Erkenntnismitteilung nachgeeilter Beamter gegenüber Behörden des eigenen Staates Im Festnahmestaat durch nacheilende ausländische Polizeibeamte gewonnene Erkenntnisse dürfen nicht per se als „eigene“ und ohne dessen Zustimmung in ausländischen Strafverfahren verwertet werden.112 Sie unterfallen nicht dem in Art. 46 SDÜ und Art. 7 EU-RhÜbk geregelten „Informati103 95 Schmitt (Fn. 15), § 136 StPO Rn. 21. BGHSt 42, 191 (192); 45, 321 (334); 46, 159 (173); zur Verwertung ausländischer Vernehmungen trotz Foltervorwürfen vgl. BGH NStZ 2008, 643; BGH NJW 2011, 1523. 97 BGHSt 52, 110. 98 BVerfG NJW 2014, 532; BVerfG NJW 2011, 207; BGH StV 2011, 603. 99 BGH NStZ 2012, 581. 100 BGHSt 38, 214. 101 BGHSt 38, 214 (224); vgl. auch BGH NStZ 2012, 581. 102 BGH NStZ-RR 2007, 80. 96 EGMR EuGRZ 1996, 587 (592); EGMR NJW 2009, 3709 (Salduz vs. Türkei). 104 BGHSt 38, 372 (373 ff.). 105 BGHSt 47, 172; OLG Hamm NStZ-RR 2006, 47; noch offen gelassen von BGH NStZ 1997, 609. 106 AG Neumünster StV 2001, 498. 107 BGHSt 38, 372. 108 BGH NJW 2013, 2769. 109 Röben (Fn. 1), AEUV Art. 89 Rn. 16. 110 So Böse, ZStW 114 (2002), 148 (177) m.w.N., im Hinblick auf eine nicht bewilligte grenzüberschreitende Observation. 111 Böse, ZStW 114 (2002), 148 (177). 112 Goy (Fn. 12), S. 245. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 327 Michael Soiné _____________________________________________________________________________________ onsaustausch ohne Ersuchen“. Bei Identitätsfeststellungen und Beschuldigtenvernehmungen im Festnahmestaat nach grenzüberschreitender Verfolgung kommen diese Überlegungen ohnehin nicht zum Tragen;113 die Maßnahmen werden von den örtlich zuständigen Behörden durchgeführt, unabhängig davon, ob den ausländischen Beamten ein Teilnahmerecht eingeräumt wurde. Mitteilungen nachgeeilter Beamter im Rahmen ihrer Berichtspflicht (Art. 41 Abs. 5 lit. g Hs. 1 SDÜ) können bei Zustimmung der zuständigen Justizbehörde des Festnahmestaates als Beweismittel in ausländischen Strafverfahren benutzt werden (Art. 39 Abs. 2 SDÜ). Bei Übermittlungen sind datenschutzrechtliche Vorgaben zu beachten (Art. 126 ff. SDÜ). b) Informatorische Befragung festgenommener Personen Informatorische („formlose“) Befragungen sind nur bei der – meist zu Beginn stehenden – Klärung zulässig, wer als Tatverdächtiger in Betracht kommt. Eine Nacheile erfolgt jedoch nur bei bestehendem Tatverdacht wegen einer „auslieferungsfähigen Straftat“ (Art. 41 Abs. 4 SDÜ), was den Beschuldigtenstatus bereits indiziert. Informatorische Befragungen festgenommener Personen zur Sache durch nachgeeilte oder örtlich zuständige Beamte erfolgen außerhalb von Vernehmungen und sind damit nicht gerichtsverwertbar. Beschuldigte können bei förmlicher Vernehmung mit ihren Angaben aus der informatorischen Befragung nach Belehrung über ihre Nichtverwertbarkeit konfrontiert werden. Ihre darauf Bezug nehmenden Äußerungen sind in Strafverfahren verwertbar.114 Voraussetzung für deren Übermittlung und Verwertung ist die Zustimmung der zuständigen Justizbehörde des Festnahmestaates (Art. 39 Abs. 2 SDÜ) und die Einhaltung datenschutzrechtlicher Bestimmungen (Art. 126 ff. SDÜ). c) Spontanäußerung festgenommener Personen Spontanäußerungen von Beschuldigten sind unaufgeforderte Angaben gegenüber Polizeibeamten außerhalb von Vernehmungen; sie sind in Strafverfahren verwertbar. Dies gilt auch für Mitteilungen gegenüber nachgeeilten Beamten, da sie im fremden Hoheitsgebiet stets als Amtsträger erkennbar sein müssen (Art. 41 Abs. 5 lit. g SDÜ). Mitteilungen nachgeeilter Beamter über Spontanäußerungen gegenüber örtlich zuständigen Beamten können mit Zustimmung der zuständigen Justizbehörde des ersuchten Staates als Beweismittel in Strafverfahren des Tatortstaates verwertet werden (Art. 39 Abs. 2 SDÜ). Spontanäußerungen Festgenommener gegenüber nachgeeilten Beamten können auch durch Vernehmung der Bediensteten in Strafverfahren eingeführt werden. Diese erfolgt entweder im Festnahmestaat oder nach Rückkehr der Beamten in ihrem Heimatstaat und setzt jeweils ein bewilligtes Rechtshilfeersuchen voraus.115 113 Goy (Fn. 12), S. 246. BGH NStZ 1983, 86. 115 Art. 10 Abs. 5 des Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedern der Europäischen 114 Im Anschluss an die Vernehmung nachgeeilter Beamter im Festnahmestaat können die Beschuldigten zeitnah mit diesen Angaben konfrontiert werden. Bei Vernehmung der Beamten in ihrem Heimatstaat liegt ein zeitlicher Abstand zwischen ihren Wahrnehmungen bei der Nacheile und der Zeugenaussage. Den Polizisten empfiehlt sich die Anfertigung eines dienstlichen Vermerkes unmittelbar nach Verfolgungsende. Spontanäußerungen Festgenommener gegenüber örtlich zuständigen Polizisten vor ihrer Beschuldigtenvernehmung können durch Vernehmung der Beamten in Strafverfahren des Festnahmestaates eingeführt werden. Aussagen der Beamten können bei Zustimmung der zuständigen Justizbehörde des Festnahmestaates und Einhaltung datenschutzrechtlicher Vorschriften (Art. 126 ff. SDÜ) als Beweismittel in Strafverfahren des Tatortstaates benutzt werden (Art. 39 Abs. 2 SDÜ). 3. Vernehmungsprotokolle Im Festnahmestaat gefertigte Vernehmungsprotokolle können an den Tatortstaat übermittelt werden. Erfolgt die Übermittlung im Wege der justiziellen Rechtshilfe, sind sie in dortigen Strafverfahren verwertbar.116 Durch Polizeien außerhalb des förmlichen Rechtshilfeverkehrs übermittelte Protokolle dürfen hingegen nur zu Informationszwecken verwendet werden; als Beweismittel sind sie in ausländischen Strafverfahren nicht ohne Zustimmung der zuständigen inländischen Justizbehörde verwertbar.117 XI. Fazit Identitätsfeststellung und Vernehmung grenzüberschreitend verfolgter und festgenommener Personen richten sich nach den Gesetzen des Staates, in dem die Nacheile endete. Abseitig der jedermann zustehenden Verteidigungs- und Festnahmerechte sind nachgeeilte Beamte im Festnahmestaat zu eigenmächtigen Ermittlungen mit Eingriffscharakter nicht befugt. Von der zuständigen Polizei können diese jedoch bei Identitätsfeststellungen und Vernehmungen hinzugezogen werden. Gemeinsame Ermittlungsgruppen – z.B. als Vernehmungsteams – setzen eine Vereinbarung der beteiligten Staaten voraus. Verstöße gegen Belehrungs- und Hinweispflichten bei Vernehmungen können der Verwertbarkeit in Union (EU-RhÜbk) v. 29.5.2000 und Art. 9, Zweites Zusatzprotokoll v. 8.11.2001 zum Europäischen Übereinkommen v. 20.4.1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen (2. ZPEuRhÜbk), eröffnen die Möglichkeit einer Videovernehmung der Polizeibeamten als Zeugen. Sie erfolgt unmittelbar durch die zuständige Stelle des ersuchenden Staates und unter deren Leitung, wobei im ersuchten Staat nicht zwingend ein Richter tätig werden muss. 116 Goy (Fn. 12), S. 245, 345. Im Inland für ein ausländisches Strafverfahren durchgeführte Vernehmungen dürfen auch in einem inländischen, dem Beschuldigten bekannten Strafverfahren verwertet werden, BGH NStZ 2007, 344 (345). 117 BGHSt 34, 334 (343 ff.) hinsichtlich Zeugenvernehmungen. _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 328 Identitätsfeststellung und Vernehmung festgenommener Personen im Schengen-Raum _____________________________________________________________________________________ Strafverfahren des Festnahme- und Tatortstaates entgegenstehen. Die Verwertung von Informationen und Vernehmungsprotokollen in Strafverfahren des Tatortstaates bedarf der Zustimmung der zuständigen Justizbehörde des Festnahmestaates. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 329 Eidam, Der Organisationsgedanke im Strafrecht Stam _____________________________________________________________________________________ B uc hre ze ns io n Lutz Eidam, Der Organisationsgedanke im Strafrecht, Mohr Siebeck Verlag, Tübingen, 2015, 449 S., € 104,-. Der Titel von Lutz Eidams Tübinger Habilitationsschrift hat wie der Untersuchungsgegenstand selbst etwas Schillerndes: Erklärtes Ziel ist es, Einflüsse eines kollektiven Begehungszusammenhangs auf die strafrechtliche Verantwortung des Einzelnen zu untersuchen (S. 4 f.). Daraus ergibt sich, dass das Werk nicht eine Generalthese enthält. Der Verf. untersucht vielmehr kritisch verschiedenste organisationsbezogene Tatbestände und Zurechnungsprobleme, wobei er für eine nicht generalisierende und zugleich individualbezogene Berücksichtigung des Organisationsgedankens plädiert. Damit bereitet er ein breites Fundament für eine weitergehende Diskussion der sich aus dem „Organisationsgedanken“ ergebenden Probleme. Obwohl Eidam sich vordergründig auf Wirkungen zuungunsten des Täters beschränkt, dürfte sich insbesondere seine „Entlastungsthese“ (dazu unten) erheblich zugunsten des Täters auswirken. Der Text gliedert sich in drei Abschnitte, in deren ersten Eidam die untersuchten Organisationsformen in rechtmäßige (z.B. Wirtschaftsunternehmen – S. 8 f.) und rechtlich zu missbilligende („Unrechtssysteme“), letztere je nach der Stärke ihres Zusammenschlusses in zufällige (z.B. Nebentäterschaft), einfache (z.B. Mittäterschaft) und verfasste (z.B. kriminelle Vereinigungen) Unrechtssysteme (S. 9-12) unterteilt. Seinen zweiten Abschnitt (S. 26-279) widmet er der kritischen Rekonstruktion des Organisationsgedankens im Strafrecht als Denkfigur zuungunsten des Täters, wobei er zwischen Strafbegründungen, Strafschärfungen und Zurechnungsfragen aufgrund des Organisationsgedankens unterscheidet und die jeweiligen Organisationsformen einer der genannten Kategorien zuordnet. Im dritten Abschnitt stellt Eidam Ansätze zur Lösung der identifizierten Probleme bei der Aufteilung von Verantwortung zwischen mehreren Beteiligten, der Zurechnung von individuellen Handlungen zu Kollektiven (und umgekehrt) und organisationsbedingten Strafschärfungen vor. Zunächst werden im Folgenden die Darstellungen des zweiten Abschnitts nachgezeichnet, in dem Eidam die verschiedenen mit dem Organisationsgedanken zusammenhängenden Probleme aus unterschiedlichen Blickwinkeln ausleuchtet. Den organisationsbedingten Strafbarkeitsvorverlagerungen (§ 4) der §§ 30 Abs. 2 Var. 3, 129 ff., 89b, 127 StGB steht er überzeugend kritisch gegenüber und legt das Begründungsmuster für diese Normen frei: In bestimmten Bereichen begründet nach Auffassung des Gesetzgebers bereits das bloße Bestehen einer Organisation abstrakte Gefahren, denen er durch die Strafandrohung begegnen zu müssen meint. Zur Kategorie der personellen Ausdehnung von Strafbarkeit rechnet Eidam die „Aufruhrdelikte“ (§ 121 StGB; § 27 WStG), die Beteiligung an einer Schlägerei (§ 231 StGB) sowie Land- und schweren Hausfriedensbruch (§§ 125, 124 StGB). Auch wenn man hier im Detail Kritik üben kann (Sind § 121 StGB und § 27 WStG tatsächlich deckungsgleich, obwohl § 121 StGB Leib und Leben, § 27 WStG hingegen lediglich die militärische Disziplin schützt? Warum handelt es sich bei der Schlägerei nach § 231 StGB um ein einfaches und kein zufälliges Unrechtssystem? Findet dort tatsächlich eine Strafausdehnung statt, obwohl der Täter für seine eigene Beteiligung bestraft wird?), ist Eidam in seiner zentralen These zuzustimmen, dass abermals „argumentative Rechtfertigung [für die Ausdehnung, Anm. d. Rez.] die […] Erwägung der Gefährlichkeit bestimmter menschlicher Organisationsformen“ ist (S. 73). Sodann wendet sich der Verf. im Rahmen der Strafschärfungen aufgrund von Organisationsstrukturen (§ 5) schwerpunktmäßig dem Bandenbegriff und hier § 244 Abs. 1 Nr. 2 StGB als sog. Konvergenzdelikt zu. Als Rechtfertigung für die Strafschärfung sieht er bei den einfachen Bandendelikten (ohne Mitwirkungserfordernis) die Organisationsgefahr, bei den Konvergenzdelikten hingegen zusätzlich die Ausführungsgefahr an. Überzeugend kritisiert er deshalb die Rechtsprechung, die „das Erfordernis einer Mitwirkung faktisch mit einer bandenmäßigen Begehung [an sich, Anm. d. Rez.] gleichsetzt“, wegen eines Verstoßes gegen das „Verschleifungsverbot“ aus Art. 103 Abs. 2 GG (S. 116). In diesem Zusammenhang hätte es sich angeboten, auch den Bezug zum eng verwandten Feld der organisierten Kriminalität (wie auch immer man diese näher bestimmen mag) herzustellen, zumal der Gesetzgeber gerade in diesem Bereich massive Strafschärfungen und weitgehende Eingriffsbefugnisse vorsieht. Die folgenden Ausführungen (§ 6) widmen sich dem Organisationsgedanken als Leitlinie für die Zurechnung/ Zuschreibung von strafrechtlichem Unrecht und zwar als Zurechnung zulasten des Individuums einerseits und des Kollektivs andererseits. Beim Problem der Kausalität von Gremienentscheidungen, insbesondere in Fällen überbedingter Erfolge, entwickelt Eidam, dass man Probleme (anders als die Rspr.) nicht „vergröbernd“ durch eine mittäterschaftliche Zurechnung der Handlungen der einzelnen Gremienmitglieder, sondern mit der herrschenden Lehre durch das Abstellen auf den „Erfolg in seiner ganz konkreten Gestalt“ lösen sollte (S. 135). Im Kapitel zu Täterschaft und Teilnahme geht es zunächst um die Mittäterschaft (insb. mit Blick auf den Versuch), und Eidam wendet sich abermals „mit einem mahnend erhobenen Finger gegen Zurechnungsvereinfachungen und -abschleifungen“ (S. 156). Das Konzept einer Gesamttat (also die Fiktion einer Gesamttat, an der sich alle Mittäter beteiligen) verwirft er wie die herrschende „Gesamtlösung“ im Bereich der Versuchsstrafbarkeit, womit Eidams Verständnis der Mittäterschaft im Sinne der sog. strengen Tatherrschaftslehre deutlich wird. Als Ergebnis der folgenden instruktiven Ausführungen zur mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft (S. 157-176) zeigt sich, „dass besondere Organisationsstrukturen, die man im Falle der Organisationsherrschaft wohl zweifelsohne den verfassten Unrechtssystemen zuschlagen muss, bei der Figur der mittelbaren Täterschaft kraft organisierter Machtapparate noch einige ungelöste Fragen mit sich bringen“ (S. 176). Dem geht die (bereits geäußerte) Kritik an einer vergröbernden Betrachtungsweise voraus, „die […] so verlockend wirkt, weil Beweisschwierigkeiten […] aus dem _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 330 Eidam, Der Organisationsgedanke im Strafrecht Stam _____________________________________________________________________________________ Weg geräumt werden können“ (S. 167). Der Vorschlag, de lege ferenda, die Organisationsherrschaft als eigene Täterschaftsform gesetzlich zu regeln und von der mittelbaren Täterschaft abzukoppeln (S. 172), überzeugt. Anschließend befasst sich Eidam mit dem Problem der „Kettenteilnahme“. Die Kettenanstiftung sieht er als Anstiftung zur Haupttat (und nicht zur Anstiftung) an und argumentiert, „[m]an würde das Bild der Kettenanstiftung unzulässig simplifizieren, wenn man lediglich auf zwei nacheinander in der Kette folgende haupttatferne Glieder schaut und zwischen ihnen die notwendigen Strafbarkeitsvoraussetzungen einer Anstiftung konstruiert“ (S. 181). Man müsse vielmehr „auch die am Ende der Kette begangene Haupttat mit in den Blick nehmen“. Dass das mit der überzeugenden herrschenden Lehre, die für die Anstiftung einen offenen geistigen Kontakt fordert, nicht in Einklang zu bringen ist, sieht Eidam selbst und postuliert: „Für jedes Glied der Anstiftungskette muss man also eine qualifizierte Verbindung zur Haupttat herstellen, wenn man hier eine Anstifterstrafbarkeit bejahen will“ (S. 183). Das geltende Recht sieht er hierfür jedoch als ungeeignet an und hält (etwas resigniert) fest, dass nur derjenige sicher Anstifter sei, „von dessen Willen der Haupttäter seinen Entschluss abhängig macht“, was „für die Herausforderungen des modernen Wirtschaftsstrafrechts allerdings eine indiskutable Lösung“ sei (S. 184). Die Kettenbeihilfe hält er (aufgrund niedrigerer subjektiver Anforderungen) dagegen für weniger problematisch und für ein „geeignetes Instrumentarium zur Aufarbeitung strafrechtlich relevanter Organisationsstrukturen“ (S. 187). Im Anschluss widmet sich Eidam dem Durchgriff auf die Hintermänner von Organisationsstrukturen mittels der Unterlassensstrafbarkeit. Den Gedanken einer allgemeinen Organisationsherrschaft des Geschäftsherrn lehnt er ab, weil Betriebsinhaber und Leitungspersonen nicht „in eine Reihe mit Eltern, Lehrern, Strafvollzugsbeamten und militärischen Aufsichts- und Autoritätspersonen“ gestellt werden könnten, insbesondere weil moderne Unternehmensstrukturen heute weniger autokratisch seien (S. 205). Mit letzterem hat Eidam sicher Recht, während man an ersterem (zumal seit dem Abschied vom „besonderen Gewaltverhältnis“, auf das Eidam gleichwohl abstellt) zweifeln kann. Überzeugend ist es hingegen, bei den erstgenannten Personen an die neben dem Herrschaftsmerkmal bestehende besondere Pflichtenstellung anzuknüpfen (S. 205). Solange eine solche für den Geschäftsherrn nicht besteht, ist Eidam zuzustimmen, dass „eine auf personeller Herrschaft begründete Garantenstellung von Betriebsinhabern im Ergebnis nicht haltbar ist“ (S. 207). Überzeugend (anders) beurteilt Eidam die Verantwortung des Geschäftsherrn infolge Herrschaft über Gefahrenquellen, die er so organisieren muss, dass „die Gefahr einer Rechtsgutverletzung weitestgehend beseitigt wird“ (denn aus der Herrschaft über den gefährlichen Gegenstand folgt eine Stellung als Überwachergarant), womit er „die neue Modevokabel Compliance ins Spiel“ bringt (S. 209 ff.). Nun befasst sich Eidam mit der Unrechtszurechnung an das Kollektiv, wobei er zwischen holistischen (nicht auf einzelne Individuen, sondern den Verband an sich abstellenden) und reduktionistischen (an die jeweils handelnden Indi- viduen anknüpfenden) Ansätzen unterscheidet und letztere in Zurechnungs- und aggregative Modelle unterteilt (S. 245250). Hauptsächlich beschäftigen ihn die schon länger geforderte Einführung eines Verbandsstrafrechts und die Frage, inwiefern ein Verband überhaupt schuldhaft handeln bzw. ihm Schuld zugeschrieben werden kann. Letzteres verneint er, weil ein „auf normativer Ansprechbarkeit beruhender Schuldbegriff“ nicht auf Verbände anwendbar sei (S. 258). Dass es für die Verhängung einer Verbandsstrafe eines Schuldmoments bedürfe, begründet er mit der seines Erachtens ansonsten bestehenden Gefahr einer Ausstrahlung auf das Individualstrafrecht (was man anzweifeln kann). Aufgrund „logisch-systematischer Brüche zwischen den Sanktionen des Kriminal- und Ordnungswidrigkeitenrechts“ gelangt er sodann zu dem Schluss, dass eine „Sanktionierung“ ausschließlich im Wege der Gewinnabschöpfung (d.h. auch nicht im Wege der Verhängung eines Bußgelds) stattfinden solle (S. 275 f.), was wegen des Fehlens einer Abschreckungswirkung aber abzulehnen ist. Im dritten Abschnitt (S. 283-402) stellt der Verf. schließlich seinen Versuch einer Theorie des Organisationsgedankens im Strafrecht vor. Hochinteressant ist die von ihm vorgestellte (auf dem Konzept der kollektiven Intentionalität fußende) „Entlastungsthese“ (§ 8 – S. 297-304), nach der bei einer Handlung, die nur aufgrund einer Einbindung in ein Kollektiv erklärbar ist (plastisches Beispiel: das gemeinsame Tragen eines Klaviers), die Verantwortung jedes Einzelnen geringer ausfallen kann. In diesem Fall „liegt […] die Annahme nahe, dass von dort, wo die gesamte Unrechtszuschreibung stattfindet – der individuellen Ebene – Teile der Verantwortung dorthin, wo überhaupt keine Unrechtszuschreibung stattfindet – der kollektiven Ebene –, abfließen kann“ (S. 298). Dabei warnt er jedoch vor einer „Vernebelung individueller Verantwortung durch die Hervorhebung kollektiver Verantwortung“ (S. 306). Vor dem Hintergrund dieser Gedanken wird die kritische Haltung des Autors gegenüber einem Verbandsstrafrecht nachvollziehbar, weil es dort „überhaupt nicht um einen Zusammenhang zwischen individueller und kollektiver Verantwortung geht, sondern um die radikale und einseitige Etablierung von Strafbarkeit in der kollektiven Dimension“ (S. 306). Ihm geht es dagegen um ein „aufgeklärtes Austarieren von Verantwortungsspähren“ (S. 306), weil es „dort, wo kollektive Handlungen offensichtlich vorliegen, […] nicht bei der allein individuellen Perspektive bleiben“ kann und darf (S. 307). Nun gewinnt auch die im zweiten Abschnitt vorgenommene Zuordnung bestimmter Delikte zu einzelnen Unrechtssystemen an Bedeutung, weil Eidams Gedanke „erst eingreifen kann, wenn mindestens die Schwelle eines einfachen Unrechtssystems erreicht wird“ (S. 309), was einleuchtet. Denn eine kollektive Handlung liegt nicht vor, wenn mehrere bloß zufällig das Gleiche tun. Eine „offene Stelle“ für die Wirkungen der Entlastungsthese sieht der Autor auf Ebene der Strafzumessung (im weitesten Sinne). An dieser Stelle hätte man sich aufgrund der hohen Plausibilität der These weitere Ausführungen zu ihren konkreten Wirkungen gewünscht, insbesondere in welchen Konstellationen und wie genau sich der kollektive Begehungszusammenhang auf die Strafzumessung auswirken _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 331 Eidam, Der Organisationsgedanke im Strafrecht Stam _____________________________________________________________________________________ kann (etwa: nur strafmildernd oder auch strafschärfend?; nur bei Makroverbrechen oder auch bei kleineren Organisationszusammenhängen?). Ohne Erörterung dieser Fragen lässt Eidam den Leser etwas ratlos zurück. Ebenfalls sehr bedenkenswert sind die Ausführungen zu einem aggregativen Zurechnungsansatz (§ 9 – S. 336-349): Könne man bei einer kollektiven Tat nicht „auf einzelne Taten der jeweils Betroffenen [abstellen], die im Gesamtkontext kollektiver Ereignisse aus dem kollektiven Geschehen heraustrennbar sind und nach herkömmlichen Zurechnungsmethoden alleine einer oder mehreren Personen zurechenbar sind“ (S. 341), liege es nah, den jeweiligen Beteiligten nicht als Täter, sondern nur als Teilnehmer an der kollektiven Tat anzusehen (S. 336-342, insb. S. 339). Das sei mit Blick auf den Gedanken der kollektiven Intentionalität gerechtfertigt: Nicht jeder Träger für sich, sondern nur die Gruppe als Ganzes trage das Klavier, und jeder Einzelne nehme am Tragen lediglich teil. Das führe dazu, dass es zu Taten kommen könne, bei denen es keinen Täter, sondern nur Teilnehmer gebe. Eine Eingrenzung solle dieses Konzept dadurch erfahren, dass „die kollektive Haupttat […] auf individueller Ebene zu ermitteln und gleichsam zusammenzusetzen“ sei, „man das individuelle Tun deshalb so genau wie möglich“ ermitteln und am Ende zur kollektiven Handlung vereinigen müsse (S. 343). Ob diese Idee einer „Haupttat ohne […] Täter“ (S. 341) mit den geltenden §§ 25 ff. StGB vereinbar ist, bedarf jedoch der weiteren Diskussion. Zum Schluss (§ 10) wendet sich Eidam zur allgemeinen Überprüfung der zur Verschärfung des individuellen Ansatzes bei Organisationsbezügen angeführten Begründungszusammenhänge, kurz: der Frage nach der Legitimität von Strafschärfungen aufgrund von Organisationsbezügen. Ausgangspunkt ist dabei die Feststellung, dass das Grundgesetz an verschiedenen Stellen Rechte gewährleistet, sich (im weitesten Sinne) zu vereinigen, sodass es zur (zumal strafrechtlichen) Beschränkung dessen einer Legitimation bedarf (S. 351-356). Die „Straftaten zur Absicherung administrativer Organisationsverbote“, die dem Staatsschutzstrafrecht zuzuordnen sind, sieht der Verf. insofern nicht als legitim an, weil diese mit der „politischen Hygiene“ kein legitimes Rechtsgut schützten (S. 361). Anders sei dies nur, wenn von den Organisationen Gefahren für „elementare Bestandsbedingungen des Staates“ ausgingen (S. 359), was „in einer politisch stabilen Zeit wie der heutigen“ (S. 361) aber nicht der Fall sei (was man in Zeiten internationaler Finanz-, Umwelt- und Flüchtlingskrisen sowie terroristischer Bedrohungen jedoch ernsthaft in Zweifel ziehen kann). Anhand der §§ 129 ff. StGB und § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB zeigt der Autor, dass es sich bei der organisationsbedingten „Gefährlichkeit“, die diese Tatbestände rechtfertigen soll, regelmäßig um abstrakte Gefahren handelt. Je weiter eine Angriffshandlung von einer Rechtsgutsverletzung entfernt sei (wobei die abstrakte weiter als die konkrete Gefahr entfernt sei), desto zurückhaltender müsse das Strafrecht eingesetzt werden, wobei auch die jeweils geschützten Rechtsgüter zu berücksichtigen seien („Angriffsparadigma“ – S. 372-374). So dürfe die Bildung einer Organisation, die auf die Begehung von Straftaten gegen Leib und Leben gerichtet sei, wohl pönalisiert werden, eine solche zur Begehung von Ehrdelikten hingegen nicht (S. 374). Dass nach geltendem Recht die Bildung einer Organisation teilweise schwerer bestraft werde als die Begehung der beabsichtigten Taten (so bei den §§ 129 ff. StGB), das beschriebene Stufenverhältnis dort also nicht bestehe, widerlege – so Eidam nachvollziehbar – nicht das Angriffsparadigma, sondern zeige vielmehr gerade dessen „kritisches Potenzial“: Fehler seien eher in den entsprechenden Regelungen als im Angriffsparadigma zu suchen (S. 375). Die im Bereich der abstrakten Gefährdungsdelikte ohnehin bestehende Gefahr der Bestrafung „Unschuldiger“ (z.B. die Bestrafung des Brandstifters nach § 306a StGB, der sich vergewissert hat, dass keine Gefahr für Menschen besteht) werde durch die Gefahr der Erfassung nur am Rande einer Organisation Stehender noch gesteigert (S. 377-382). Gegenüber der von ihm instruktiv referierten Theorie der Massenpsychologie (S. 383-389), nach der der Einzelne (metaphorisch gesprochen) in einer Masse aufgehen könne, die dann wiederum ein eigenes (enthemmtes) Wesen bilde, zeigt sich Eidam aufgrund ihrer generalisierenden Tendenz skeptisch und warnt davor, „den Systemzusammenhang einseitig hervorzuheben und so die individuelle Ebene zu verschleiern“ (S. 393), eine Warnung, die sich durch die gesamte Arbeit zieht. Da aber „nicht in letzter Konsequenz auszuschließen [sei], dass es unter Berücksichtigung aller individueller Gegebenheiten bei einem Kollektiv von Menschen zu dynamisch wirkenden Gruppenkräften kommen kann […], die […] eine gesteigerte Gefährlichkeit nach sich ziehen können“, seien dem Gesetzgeber „gewisse Wertungs- und Einschätzungsspielräume“ eröffnet (S. 393). Voraussetzung hierfür seien jedoch „Plausibilität und Konzeptstimmigkeit“ – solange diese nicht widerlegt seien, dürfe der Gesetzgeber sich hierauf stützen. Das sei, worin ihm zuzustimmen ist, „erst einmal nicht viel, gleichwohl aber immerhin doch ein Schutz vor gewissen Grenzüberschreitungen“ (S. 395). Aus den Überlegungen der Massenpsychologie schließt er (trotz seiner Skepsis dieser gegenüber, was jedoch kein Widerspruch ist), dass es sich bei zufälligen Unrechtssystemen nicht um eine psychologische Masse handeln könne, sodass Strafschärfungen nicht an diese anknüpfen dürften (S. 396 f.). Dass eine Gefahr umso eher bestehen kann, je höher die Zahl der Gruppenmitglieder ist und dies der Eindämmung der Strafbarkeit im Falle einfacher Unrechtssysteme (etwa der Bandenstrafbarkeit) dienen könne (S. 396-399), überzeugt. Eine den Täter benachteiligende Wirkung verfasster Unrechtssysteme ist mit Eidam deshalb erst dann zuzulassen, wenn diese ein „[b]esonderes Risikopotential aufgrund stabiler Organisation und organisierten Einsatzes […] im Gleichklang mit organisationsspezifischem Wir-Gefühl und einem der Rechtsordnung klar widersprechendem […] Zweck“ aufweisen (S. 399). „All das ist ein Anfang. Viel mehr ist von allgemeiner Warte wohl auch nicht zu leisten, sondern kann […] nur in einer detaillierten Auseinandersetzung mit Detailproblemen zu Tage gefördert werden“ (S. 402). Damit beendet Eidam seine Überlegungen – und darin ist ihm zuzustimmen: Das Werk leistet kein umfassendes Konzept zum Umgang mit organisationsbezogenen Delikten. Dies ist jedoch weder das _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 332 Eidam, Der Organisationsgedanke im Strafrecht Stam _____________________________________________________________________________________ Ziel der Arbeit, noch erscheint es überhaupt möglich – zu unterschiedlich sind die Regelungszusammenhänge und die dahinter stehenden Probleme. Eidam zeigt jedoch mit beeindruckendem Tiefgang die vielfältigen Probleme und Lösungsansätze auf, die sich aus organisationsbezogenen Handlungen ergeben, und tritt mit Nachdruck für einen Individualbezug und gegen jede Verallgemeinerung ein. Damit hat Eidam eine beeindruckende Grundlage für die Diskussion einer Vielzahl spannender Probleme gelegt, und es bleibt abzuwarten, ob die bedenkenswerten Ansätze, insbesondere seine „Entlastungsthese“ aber auch der „aggregative Zurechnungsansatz“ und das „Angriffsparadigma“, in der Diskussion den wünschenswerten breiteren Raum einnehmen werden. Akademischer Mitarbeiter Dr. Fabian Stam, Potsdam _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 333 Dershowitz, Taking the Stand, My life in the law Thielmann _____________________________________________________________________________________ B uc hre ze ns io n Alan Dershowitz, Taking the Stand, My life in the law, Crown Publishers, New York 2013, 518 S., $ 28,- (€ 19, 95). I. Zu Beginn des Buches „Taking the Stand“ berichtet der Autor von seiner Wandlung vom noch nicht einmal mittelmäßigen Schüler über einen herausragenden Studenten zum jüngsten Harvard-Professor aller Zeiten. Er kommt dabei auf die Professoren und Richter zu sprechen, die ihn besonders in seiner positiven Entwicklung beeinflusst haben, nachdem sein kritischer Geist von den Lehrern im heimatlichen Brooklyn nicht erkannt bzw. sogar bewusst unterdrückt worden war. Der Rezensent erinnerte sich daraufhin nur zu gut an denjenigen Lehrmeister, der ihn in seiner beruflichen Entwicklung am stärksten beeinflusst hat. Trotz einiger Professoren, die ihm selbst aus seiner Studienzeit an der Universität zu Bielefeld in guter Erinnerung geblieben sind (allen voran Otto Backes und Peter-Alexis Albrecht), ging der größte Einfluss in diesem Bereich von einem Mann aus, der zwar auch Hochschullehrer war, dem er jedoch nicht einmal in seinem Leben persönlich begegnet ist – nämlich Alan Dershowitz. Ausgangspunkt dieser Entwicklung war das Buch „Reversal of fortune“, das infolge der Verfilmung im Jahre 1990, die in Deutschland unter der annähernd wörtlichen Übersetzung „Die Affäre der Sunny von B.“ in die Kinos kam,1 ins Deutsche übersetzt wurde. Dass er zu dieser Zeit in Deutschland noch keine besondere Popularität besaß,2 zeigte sich eindrucksvoll daran, dass das Werk einerseits auf dem Umschlag als „Roman“ angepriesen wurde und andererseits der Autor peinlicherweise als „Alan N. Dershowitz“ anstatt „Alan M. Dershowitz“ bezeichnet wurde.3 Als Jurastudent und langjähriger Kinofan las der Rezensent den Bericht des Strafverteidigers Dershowitz über den Fall Claus von Bülow, dem der zweifache Versuch vorgeworfen wurde, seine schwerreiche Ehefrau mithilfe Insulinspritzen ins Jenseits zu befördern. Und damit begannen sein Interesse an der Strafverteidigung und der Spaß an der Lektüre (und später sogar dem Verfassen) juristischer Texte, auch wenn diese bei Dershowitz zugegebenermaßen als populär-wissenschaftlich bezeichnet werden müssen.4 Aber dieser Professor verstand 1 Dershowitz hatte das große Glück, dass dieser Film eine ähnlich hohe Qualität besaß wie seine Vorlage. Reversal of fortune, 1990 von Barbet Schroeder mit Jeremy Irons in der Hauptrolle wurde von Dershowitz‘ Sohn Elon co-produziert. 2 Die Rezension zu diesem Buch von Salditt (in StV 1988, 75) beweist, dass zumindest die juristische Fachöffentlichkeit schon von Dershowitz Kenntnis genommen hatte. 3 In den folgenden Jahren wurden weitere Bücher im deutschsprachigen Raum ohne Namensfehler veröffentlicht, so neben seinem Bestseller Chuzpe, 2000, auch Die Entstehung von Recht und Gesetz aus Mord und Totschlag, 2002, und Plädoyer für Israel, 2005, sowie die beiden Romane Ein Spiel mit dem Teufel, 1997, und Anwalt der Gerechtigkeit, 2001. 4 Vgl. die Rezensionen des Verf. über die Dershowitz-Bücher Letters to a young lawyer, 2001 (NJW 2004, 586; JuSMagazin 2004, 25), Is there a right to remain silent?, 2008 es, seine Leser zu fesseln, indem er juristische Probleme so anschaulich beschrieb, dass nicht nur juristische Überflieger über den Horizont hinwegschauen konnten. Und dass er diese Fähigkeit auch mit 75 Jahren nicht eingebüßt hat, beweist die Autobiografie „Taking the Stand“ eindrucksvoll. II. Alan Dershowitz lässt sich nun also in eigener Sache ein, er betritt den Zeugenstand, um so wahrheitsgemäß wie möglich sein Leben, nein, eigentlich hauptsächlich seine Arbeit, Revue passieren zu lassen. Die Möglichkeit der vollständigen Wahrheit wird durch die Schweigeverpflichtung des Rechtsanwalts ein wenig ausgebremst, aber der Autor ist sowieso viel mehr an den rechtlichen Fragen interessiert als an dem Ausplaudern von Geheimnissen oder irgendwelchem Klatsch über prominente Mandanten. Auch wenn es davon aufgrund des Bekanntheitsgrades und des Erfolgs des Professors im Laufe der Jahre genügend gab und er in seinen Memoiren natürlich auch auf einige dieser Fälle zu sprechen kommt, sind dies eher kurze Abschnitte, die dann wieder von längeren Passagen über die rechtlichen Probleme dieser (oder anderer, „No Name“-Mandanten betreffenden) Fälle abgelöst werden. Wer also in erster Linie an Insider-Informationen über O. J. Simpson, Mike Tyson, Bill Clinton, Mia Farrow, John Landis oder anderen Prominenten interessiert ist, der liegt mit diesem Buch falsch. Dershowitz interessiert sich nicht dafür, wer prominent ist und wer nicht, ihn interessieren nur die hinter den einzelnen Fällen liegenden Rechtsfragen. So ist es auch nicht wirklich überraschend, wenn er am Ende des Kapitels über Verfahren mit prominenten Akteuren eine Liste mit Regeln aufstellt, wie man sich als Anwalt in viel beachteten Fällen betragen sollte, und in denen es an einer Stelle heißt: „Wenn Du in Deiner Karriere niemals einen Fall mit einer Berühmtheit gehabt hast, hast Du überhaupt nichts verpasst.“ Der Professor beschäftigt sich vorliegend mit seiner juristischen Karriere, seinen juristischen Interessengebieten sowie seinen wichtigsten Fällen als Strafverteidiger und Bürgerrechtsanwalt. Man erfährt zwar auch einiges Privates über den Professor – die Gehirntumorerkrankung seines ältesten Sohnes, die überstandene Notlandung mit einem Flugzeug – aber im Grunde bekommt man das, was der Titel verspricht: Alan Dershowitz macht Angaben in eigener Sache, berichtet über sein Leben als Jurist in der Theorie und in der Praxis. Und dabei merkt man sehr schnell, dass es dieser Mann liebt, anderen Menschen juristische Dinge zu erklären, sie mitzunehmen auf der Reise in Richtung einer möglichst gerechten Entscheidung. Waren es in seinen Seminaren in Harvard die zukünftigen Top-Juristen Amerikas, so ist es bei seinen Büchern bis heute die interessierte Öffentlichkeit. Dershowitz begann mit 25 Jahren, in Harvard zu unterrichten, und wurde mit 28 Jahren der bis heute jüngste Professor, den die Harvard Law School jemals hatte. Er änderte den professoralen Stil seiner Kollegen und war von Beginn an darauf aus, mit seinen Studenten – manche von ihnen älter als ihr Professor – ins Gespräch zu kommen. Er machte absichtlich Fehler, um zu vermitteln, dass eine falsche Anmerkung nichts Schlim(GA 2010, 300) und America on Trial, Inside the legal battles that transformed our nation, 2004 (ZIS 2010, 547). _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 334 Dershowitz, Taking the Stand, My life in the law Thielmann _____________________________________________________________________________________ mes war. Er versuchte, den Stoff mit Humor zu vermitteln und wurde so eine der beliebtesten Lehrkräfte der Universität. Aber Dershowitz reichte es schon sehr schnell nicht mehr, nur als Wissenschaftler die Entscheidungen der Gerichte zu kommentieren und kritisieren, er wollte selbst handeln, so dass er schon in den 70er Jahren seine ersten eigenen Fälle als Strafverteidiger bearbeitete. Auch das vorliegende Buch beweist, dass Alan Dershowitz ein Rechtsanwalt ist, wie man ihn sich als Mandant nur wünschen kann, mit vollem Einsatz und überragendem Wissen. Der Professor wählte seine Fälle sehr gezielt nach persönlichen Interessen aus und konzentrierte sich zunächst auf Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung, die fast hundert Seiten des besprochenen Buches ausmachen. Von besonderer Bedeutung in Bezug auf die liberale Grundeinstellung von Dershowitz kann hier das Beispiel eines amerikanischen Holocaustleugners 5 sein, der wegen seiner nationalsozialistischen Ansichten keine Anwaltszulassung bekommen sollte und deswegen von ihm vertreten werden wollte. Auch wenn es dazu letztlich nicht kam, trat Dershowitz zusammen mit diesem Mann in einer Talkshow auf und verteidigte dessen Recht, nicht wegen seiner Meinung ausgeschlossen zu werden, auch wenn er diese persönlich verabscheute. Dershowitz hat als glühender Verfechter des Rechts auf freie Meinungsäußerung aber auch nie davor zurückgeschreckt, seine Ansichten in Bezug auf andere Personen deutlich zu artikulieren. Dabei war auch der jeweils oberste Bundesrichter niemals vor seinen beißenden Äußerungen sicher. Während er an anderer Stelle äußerte, er könne sich William Rehnquist6 als „einen deutschen Richter der 1930er und 1940er Jahre vorstellen“7, heißt es nun in Bezug auf dessen Vorgänger William Burger8, dass „niemals jemand behauptet hat, dass Intelligenz ein Kriterium dafür sei, Oberster Bundesrichter zu werden.“9 III. Liest man das Kapitel der Memoiren über die „Gesellenzeit“ des Autors, so ist es kein Wunder, dass es ihn schlussendlich an die Seite der Angeklagten zog, obwohl er zu dieser Zeit Richtern zuarbeitete. So schildert er beispielsweise seine Zeit beim hoch angesehenen Richter David Bazelon (Court of Appeals for the District of Columbia) als einen maßgeblichen Einfluss. Bazelon setzte sich vor allem für Angeklagte ein, die sich finanziell keinen guten Anwalt leisten konnten, und für Angeklagte mit geistiger Behinderung. Der Richter erklärte seinem Mitarbeiter, er sei „deren Anwalt der letzten Instanz. Durchsuchen Sie die Akte. Sagen Sie es mir, wenn Sie irgendwelche Ungerechtigkeiten finden.“ Eine solche Grundeinstellung eines Revisionsrichters ist heutzutage beim Bundesgerichtshof oder bei Oberlandesgerichten für einen Außenstehenden – aus Verteidigersicht: leider – kaum vorstellbar. Hier scheint die Grundeinstellung größtenteils dahin zu gehen, nichts dergleichen finden zu wollen. Und so kam es, dass Dershowitz als wissenschaftlicher Mitarbeiter den Job machte, den eigentlich die Verteidi5 § 130 StGB! Oberster Richter der USA von 1986 bis 2005. 7 Siehe Dershowitz, America on Trial, 2004, S. 41. 8 Oberster Richter der USA von 1969 bis 1986. 9 Dershowitz, Taking the Stand, 2013, S. 129. ger hätten machen müssen, und dabei viel aus der Praxis mitnahm, etwa dass ein Gericht, das zur Aufrechterhaltung einer Verurteilung entschlossen ist, auch das beste rechtliche Argument nicht überzeugen wird, aber auch, dass ohne harte Arbeit viele der überzeugendsten Revisionsgründe niemals entdeckt werden. So entschied sich Alan Dershowitz für harte Arbeit für verurteilte Angeklagte. Besonders hatten es ihm als entschiedener Gegner der Todesstrafe dabei die Kriminalfälle angetan, in denen dem Verurteilten der Tod drohte. Er ist am Ende seiner Laufbahn dankbar und stolz darauf, dass er niemals erleben musste, wie ein Mandant hingerichtet worden ist. Dies ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil er in den allermeisten Fällen als Revisionsspezialist erst nach der Verurteilung in der ersten Instanz hinzugezogen wurde. Man mag argumentieren, dass die öffentliche Aufmerksamkeit, die ein Fall durch die Übernahme des Mandats durch Dershowitz regelmäßig bekam, einen Einfluss auf diese Statistik hatte. Gleichzeitig ist aber natürlich auch nicht auszuschließen, dass gerade seine Beteiligung bei den Richtern und Staatsanwälten eine besondere Motivation darstellte, den Fall zu „gewinnen“ – so wie dies z.B. im Vergewaltigungsverfahren gegen Mike Tyson der Fall gewesen ist, wo der Autor noch zwanzig Jahre später empört niederlegt: „In meinem halben Jahrhundert der Rechtsausübung auf der ganzen Welt ist mir niemals ein durch und durch korrupteres Rechtssystem begegnet als 1992 in Indiana.“10 Doch abgesehen von diesem spektakulären Misserfolg hatte der Strafverteidiger mit seiner Arbeit zumeist den Erfolg auf seiner Seite – und wenn es „nur“ darum ging, einen schuldigen Menschen vor dem Tod zu bewahren. Dass ein beruflicher Erfolg in der Strafverteidigung auch eine Schattenseite haben kann, hat Dershowitz aber gleichermaßen erlebt. Auch in seinen Memoiren schildert er daher seinen ersten großen Fall zu Beginn der 1970er Jahre, als es ihm gelang, mit taktischem Geschick beim Gericht ein Beweisverwertungsverbot durchzusetzen, das zum Freispruch seines Mandanten führte, der eines Bombenanschlages schuldig war, bei der eine junge Frau ihr Leben ließ.11 „Taking the Stand“ verdeutlicht, wie der Professor an seine Mandate heranging. Sobald er eine Verteidigung in der Rechtsmittelinstanz übernommen hatte, stellte er ein sog. „Mission: Impossible“-Team zusammen, das aus Ermittlern, Jura-Studenten und Experten in anderen Fachrichtungen (Medizin, Forensik) bestand und noch einmal bei Null begann. Jeder Stein wurde aufgehoben und umgedreht, jede angeblich feststehende Tatsache in Frage gestellt, besonders die wissenschaftlichen Erkenntnisse. Durch eine Doppelstrategie von Revisionsbegründung und gleichzeitigem Haftantrag versuchte er sodann, neu gefundenes Beweismaterial im Wege der Beschwerde nach dem vom Tatrichter abgelehnten Haftantrag den Rechtsmittelrichtern zur Kenntnis zu geben. Auf diese Art und Weise versuchte er die Richter ebenso von der neuen Tatsachengrundlage in Kenntnis zu setzen wie durch den Gang in die Öffentlichkeit durch Interviews in 6 10 Dershowitz (Fn. 9), S. 337. Ausführlich hat er diesen Fall in seinem Buch The Best Defense, 1982, geschildert. 11 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 335 Dershowitz, Taking the Stand, My life in the law Thielmann _____________________________________________________________________________________ Talkshows. Insofern erläutert Dershowitz, dass sein Erfolg als Strafverteidiger weniger auf brillante rechtliche Argumentation, sondern vielfach darauf beruhte, die für den Einzelfall entscheidenden Wissenschaftler akquiriert zu haben. Nicht nur v. Bülow verdankt Sachverständigengutachten seine Freiheit12, auch der Fall O. J. Simpson wäre mit großer Wahrscheinlichkeit anders ausgegangen, wenn die Verteidigung nicht wissenschaftlich hätte nachweisen können, dass von Seiten der Anklagebehörde an den Beweismitteln manipuliert worden sein muss.13 Auch weitere (hierzulande unbekannte) Fälle, die von Dershowitz über Gutachten gewonnen wurden, werden in „Taking the Stand“ angesprochen. Er plädiert daher mit großem Eifer dafür, dass der Fortschritt der Wissenschaft auch in die Gerichtssäle Eingang findet. Man merkt ihm förmlich seine Empörung an, wenn er über die Weigerung des Obersten Gerichtshofes schreibt, neue Beweismittel zuzulassen, die die Unschuld von verurteilten Angeklagten beweisen: „Manche Oberste Richter und Instanzrichter glauben sogar, dass es nicht verfassungswidrig sei, wenn ein unschuldiger Mensch hingerichtet wird oder im Gefängnis verbleibt, wenn seine Verurteilung ‚ansonsten‘ verfassungsgemäß war.“ Um dann klarzustellen: „Wenn ein Angeklagter tatsächlich unschuldig ist, gibt es kein ‚ansonsten‘.14 Dieser wiederholte Verweis auf die Arbeit mit Wissenschaftlern anderer Disziplinen zeugt von einer gewissen Bescheidenheit auf Seiten des Professors mit dem besonders ausgeprägten Selbstbewusstsein. Außerdem macht es dem Leser deutlich, wie wichtig der Zugang zu exzellenten Sachverständigen ist, wenn es darum geht, im Strafverfahren die Theorie der Anklagebehörde zu widerlegen. Dershowitz hatte nicht nur vielfach Mandanten, die in der Lage waren, die entsprechenden Untersuchungen zu bezahlen, sondern sich auch schon früh in seiner Karriere einen Namen erarbeitet, um auch in Fällen mittelloser Angeklagter an die Koryphäen der jeweiligen Fachbereiche heranzukommen. Leider ist dieser Weg auch hierzulande den meisten Strafverteidigern verwehrt, auch wenn man alles daran setzen sollte, in geeigneten Fällen eben diesen Weg einzuschlagen. IV. „Taking the Stand“ ist keine gewöhnliche Autobiografie, denn es wird nicht allzu viel über die Privatperson Alan Dershowitz preisgegeben. Man kann befürchten, dass dies auch daran liegen könnte, dass der Professor neben seiner Arbeit nicht viele weitere Interessen hat (vielleicht abgesehen von der Familie und Freunden, die aber hier kaum auftauchen). Der Workoholic Dershowitz berichtet einmal, dass seine zweite Frau Carolyn ihn zu Beginn ihrer Beziehung dazu gebracht hat, einen Tag in der Woche nicht zu arbeiten, sondern Freizeit zu genießen. Wir können daraus schließen, dass er vorher sieben Tage in der Woche gearbeitet hat und seitdem „nur“ sechs Tage in der Woche. Anders ist es aber auch kaum vorstellbar, die Arbeit als Universitätsprofessor, Strafverteidiger und Autor unzähliger Artikel und Bücher zu bewältigen. Er hat ein ebenso rastloses wie erfülltes Leben 12 Dershowitz, Reversal of Fortune, 1985. Vgl. Dershowitz, Reasonable Doubt, 1996. 14 Dershowitz (Fn. 9), S. 269. 13 geführt, in dem er krankheitseinsichtig unter einer verschärften Form von FOMS litt.15 Die Frage, wie er dieses Pensum über so viele Jahre durchhalten konnte, lässt sich wahrscheinlich nur mit dem Hinweis darauf beantworten, dass dieser Mann liebt, was er tut. Er ist mit ganzem Herzen Lehrmeister gewesen und mit ganzem Herzen Strafverteidiger. Dass dies nicht dazu geführt hat, dass zwei Herzen in seiner Brust schlagen, liegt daran, dass Dershowitz nur solche Fälle angenommen hat, deren Thematik er in seinen Lehrveranstaltungen aufbereiten konnte. Seine wissenschaftliche Arbeit als Professor habe seine Tätigkeit als Strafverteidiger befruchtet und umgekehrt. Und die hinzukommende Arbeit als Sachbuchautor und Schriftsteller fußt zu einem großen Teil auf diesem Fundament. „Taking the Stand“ ist in den USA seine 32. Veröffentlichung und seitdem sind zwei weitere Werke hinzugekommen. Alan Dershowitz hat in seinem Leben bereits so viele Bücher geschrieben, dass es einfach unvermeidlich ist, dass er sich in dieser Autobiografie immer wieder auf diese Arbeiten bezieht. Insofern ist „Taking the Stand“ für „Dershowitz-Beginner“ ein idealer Einstieg, denn es werden viele interessante Themen nur angerissen, die er in anderen Büchern ausführlich besprochen hat. 16 V. Alan Dershowitz ist Jurist von ganzem Herzen und Jude mit Leib und Seele, auch wenn er seit vielen Jahrzehnten kein orthodoxer Anhänger dieses Glaubens ist. Sein Gesamtwerk lässt sich insofern unterteilen in diese besonderen Bereiche, die allerdings oftmals nicht voneinander zu trennen sind.17 Anfangs in erster Linie der Rechtsgelehrte, der in Fachzeitschriften und Fachbüchern veröffentlichte, entwickelte er sich zunächst zu dem berühmten Strafverteidiger, der durch seine Bücher ein Millionenpublikum erreichte. Im Jahre 1991 veröffentlichte er dann „Chutzpah“, eine Abhandlung darüber, was es in der amerikanischen Gegenwart bedeutet, ein Jude zu sein. Das Buch nahm lange Zeit auf der Bestsellerliste der New York Times eine Spitzenposition ein.18 Spätestens seit dieser Zeit hat sich Dershowitz in der Öffentlichkeit auch als Unterstützer Israels zu Wort gemeldet; je stärker die Kritik am jüdischen Staat ausfiel, umso lauter wurde seine Stimme. Er wurde zu einem der engagiertesten Verfechter der Interessen des Staates Israels und schrieb darüber etliche Bücher.19 Dies hat sogar zum Angebot Abkürzung von „fear of missing something“. Besonders zu empfehlen sind The Best Defense, 1982, über seine Anfangsjahre als Strafverteidiger sowie Sexual McCarthyism, 1998, und Supreme Injustice, 2001, über die amerikanischen Verfassungskrisen infolge des Amtsenthebungsverfahrens gegen Präsident Bill Clinton bzw. des Wahldesasters Gore/Bush. Wen allerdings die „Derhowitz-Essenz“ interessiert, dem sei Letters to a young lawyer, 2003, ans Herz gelegt. 17 So heißt sein neuestes Werk Abraham: The World‘s First (But Certainly Not Last) Jewish Lawyer, 2015. 18 In Deutschland wurde das Buch unter dem Titel „Chuzpe“ im Jahre 2000 veröffentlicht und nicht ganz zu Recht als Autobiographie vermarktet. 19 U.a. „The Case for Israel“, 2003; „The Case for Peace: How the Arab-Israeli Conflict Can Be Resolved“, 2005; „The 15 16 _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 336 Dershowitz, Taking the Stand, My life in the law Thielmann _____________________________________________________________________________________ Israels geführt, dass er als Botschafter Israels bei den Vereinten Nationen tätig werden sollte, was Dershowitz ablehnte. Gerade auf diesem Gebiet hat er sich viele Feinde geschaffen, interessanterweise nicht nur in palästinensischen Kreisen, sondern auch bei extremistischen Juden. Dershowitz gab in der Vergangenheit zu, er sei ein Spalter, kein Versöhner 20, und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass seine Art im israelisch-palästinensischen Konflikt besonders viel Ablehnung und sogar offene Feindschaft zur Folge hatte. Dies blieb für ihn nicht ohne Folgen. Er erkannte, dass sein Image sich dadurch geändert habe, obwohl er selbst nicht anderes getan habe als zuvor und vor allem seine Ansichten oder Handlungen sich nicht geändert hätten. Aber er sei wahrscheinlich zu alt, um noch etwas zu ändern, selbst wenn er es wollte, was er nicht tue. Und somit kommt der alte Löwe zu der gelassenen Erkenntnis: „So be it.“21 Die vielfach erbitterten Kämpfe um den israelisch-palästinensischen Konflikt finden sich in „Taking the Stand“ allerdings nur am Rande, im Mittelpunkt steht – wie schon der Untertitel verheißt – „My Life in the Law“. Aber natürlich ist auch auf diesem Gebiet immer wieder seine jüdische Herkunft ein Thema, etwa wenn er ein Mitglied der Jewish Defense League verteidigt oder unterdrückten Russen jüdischen Glaubens zur Ausreise verhilft. VI. Alan Dershowitz ist – nicht zuletzt durch seinen Einsatz für Israel – sehr kritisch gegenüber den Vereinten Nationen eingestellt, die aus seiner Sicht nicht mehr den Anspruch verkörpern wie zur Zeit ihrer Entstehung. 1948 habe die maßgeblich von den demokratischen Staaten gegründete UN mit der Deklaration der Menschenrechte in vorderster Front dafür gestanden, dass ein Massenmord wie im 2. Weltkrieg und der Holocaust nie wieder vorkommen dürften. Doch die Bilanz seither sei mehr als ernüchternd, erklärt der Autor. Einerseits würden Genozide wie in Kambodscha, Ruanda und Dafur von der UN wortlos hingenommen, andererseits würden Staaten wie Saudi-Arabien, Kuba, Venezuela, Simbabwe, Iran, Syrien, Weißrussland und andere Gewaltherrschaften Israel über Menschenrechte belehren. Wenn sich eine Organisation wahrhaftig universell und neutral für Menschenrechte einsetzen wolle, müsse sie beim Einsatz ihrer Ressourcen Prioritäten setzen. Dershowitz hat dafür seinen plakativen Slogan „the worst first“ ins Leben gerufen und fordert zunächst die Verfolgung von offenkundigen Menschenrechtsverletzungen gegen hilflose Opfer.22 Das Versagen dabei, Prioritäten zu setzen, hält der Professor für ein sicheres Zeichen für Voreingenommenheit und mangelnde Neutralität: „Die heutige UN und die meisten ‚Menschenrechts‘-NGOs fallen durch diesen Test.“23 Als Verteidiger in dem ersten deutschen Strafprozess nach dem Völkerstrafgesetzbuch gegen zwei Exil-Ruander, die – ohne jemals selbst Straftaten begangen zu haben – als politische Führer stets die Angehörigen ihrer Gruppe dazu aufforderten, sich an die internationalen Gesetze zu halten und gut mit der einheimischen Bevölkerung im Kongo zusammenzuleben, und trotzdem zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden sind, ist für den Rezensenten diese kritische Sicht auf die UN und auf Menschenrechtsorganisationen besonders interessant, weil sich das Oberlandesgericht Stuttgart bei der Verurteilung dieser Männer fast ausschließlich auf Zeugen vom Hörensagen berief, die diesen Organisationen angehören und schon deshalb als über jeden Zweifel erhaben angesehen wurden. 24 Kritische Distanz würde auch deutschen Gerichten in dieser Hinsicht gut zu Gesicht stehen, zumal der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag – wie auch von Dershowitz lobend anerkannt – in dieser Hinsicht die rechtsstaatlichen Anforderungen hoch hält.25 VII. Es ist schade, dass es unter den deutschen Strafverteidigern niemanden gibt, der im öffentlichen Ansehen und Auftreten einem Alan Dershowitz nahekommt, der dem Nichtjuristen auf ebenso unterhaltsame wie fundierte Art und Weise erklärt, wie die Verfassung und die Gesetze eines Rechtsstaats funktionieren. Dershowitz hat sich nie darum gedrückt, heikle Fragen zu stellen und zu beantworten. Und wie dies bei heiklen Fragen so üblich ist, gibt es keine einfachen Antworten darauf, sondern stattdessen nur mehr oder weniger geglückte Versuche, die eine weitere Diskussion anstoßen. Das beste Beispiel dafür war Dershowitz‘ Reaktion auf den 11. September 2001 und den „ticking clock“-Fall, als er anregte, die Voraussetzungen für einen „Folter-Beschluss“ zu statuieren, weil man davon ausgehen müsse, dass in bestimmten Fällen auch in den Vereinigten Staaten zu Mitteln der Folter gegriffen würde. Die Wellen der Kritik, die deswegen über ihm zusammenschlugen, waren absehbar und vielfach auch gut begründet, aber zumindest war das heikle Thema auf der Tagesordnung. „Taking the Stand“ ist gleichsam eine Reise durch die amerikanische Rechtsgeschichte der letzten fünfzig Jahre wie eine Reise durch das Leben von Alan Dershowitz. Er sieht sich selbst als eine Art Zelig, der Kunstfigur von Woody Allen, die an fast allen wichtigen Ereignissen seiner Zeit irgendwie beteiligt war.26 Und er geht auf alle Ereignisse ein, vor allem auf diejenigen, die er noch nicht in einem seiner vielen Bücher ausführlich beleuchtet hat. Ebenso beleuchtet er den Wandel, den die juristische Welt in diesem halben Jahrhundert durchgemacht hat, vielfach, aber nicht immer, in die richtige Richtung. Zum Abschluss wagt er dann einen Ausblick auf die nächsten 50 Jahre, bevor er – typisch Der- Case against Israel‘s Enemies: Exposing Jimmy Carter and Others Who Stand in the Way of Peace“, 2008; „The Case for Moral Clarity: Israel, Hamas and Gaza“, 2009; und „Terror Tunnels: The Case for Israel‘s Just War against Hamas“, 2014. 20 Dershowitz, Letters to a young lawyer, 2003, S. 22. 21 Dershowitz (Fn. 9), S. 461. 22 Dershowitz (Fn. 9), S. 442. 23 Dershowitz (Fn. 9), S. 442. 24 Neben UN-Zeugen war es hauptsächlich eine Zeugin von „Human Rights Watch“. 25 Während in Deutschland der Präsident und der Vizepräsident der FDLR zu Freiheitsstrafen von 13 bzw. acht Jahren verurteilt wurden, ließ der ICC die Anklage gegen den Generalsekretär der Vereinigung bei vergleichbarer Beweislage gar nicht erst zum Hauptverfahren zu. 26 Dershowitz (Fn. 9), S. 445; der Film „Zelig“ von und mit Woody Allen stammt aus dem Jahr 1983. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 337 Dershowitz, Taking the Stand, My life in the law Thielmann _____________________________________________________________________________________ showitz – das letzte Wort behalten will und schon einmal im Voraus einen Leserbrief zu seinen Nachrufen in den Zeitungen verfasst hat. Darin stellt er klar, dass er eben nicht – wie in den Nachrufen behauptet – ein Verteidiger von Prominenten gewesen sei, da mit dieser Behauptung sein Grundsatz zu wenig gewürdigt werde, mindestens die Hälfte seiner Zeit im Beruf ohne Bezahlung zugunsten von Mandanten oder Anliegen verbracht zu haben. Er betont auch noch einmal, dass sein Einsatz für Israel niemals unkritisch gewesen ist und er Israel nicht trotz, sondern wegen seiner liberalen Grundeinstellung unterstützt habe. VIII. Auf der Rückseite des Buchumschlags sind Lob und Kritik an der Person und der Arbeit von Alan Dershowitz abwechselnd zu lesen, um zu verdeutlichen, wie umstritten er in den Vereinigten Staaten ist, und natürlich, um auf diese Art und Weise potentielle Leser neugierig zu machen. Als erstes wird dort Jimmy Carter mit den Worten zitiert „I don‘t read Dershowitz“. Auch wenn der inzwischen emeritierte Harvard-Professor selbst das Recht des ehemaligen USPräsidenten, seine Werke nicht lesen zu müssen, sicherlich mit aller Kraft verteidigen würde, so kann der Rezensent mit gutem Gewissen sagen, dass Carter bei seiner selbst gewählten Abstinenz auch im Falle dieser Autobiographie einiges entgeht, denn wie so viele andere Dershowitz-Werke ist auch „Taking the Stand – My Life in the Law“ jede Lesestunde wert. Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht Jochen Thielmann, Wuppertal _____________________________________________________________________________________ ZIS 5/2016 338
© Copyright 2024 ExpyDoc