Marktkommentar
3. Mai 2016
Negativzinsen: Segen und Fluch zugleich
Christophe Bernard, Vontobel-Chefstratege
Seit Beginn der Finanzkrise im Jahr 2008 befinden sich die Zentralbanken im
Ausnahmezustand. Zuerst senkten sie die Zinsen auf null. Danach fluteten sie die
Finanzmärkte mit Liquidität. Und schliesslich führten einige von ihnen kürzlich
Negativzinsen ein. Wahrscheinlich haben diese Massnahmen die Wirtschaft und die
Finanzmärkte gestützt. Gleichzeitig haben sie jedoch für die Anleger enorme
Herausforderungen geschaffen.
Die Währungshüter der Eurozone, Japans, der Schweiz, Schwedens und Dänemarks
verlangen für Bankeinlagen derzeit – in unterschiedlichem Ausmass – negative Zinsen.
Hinzu kommt, dass zahlreiche Staatsanleihen weltweit führender Industrieländer mit
negativen Renditen auf Verfall gehandelt werden (siehe Grafik 1). Diese noch nie da
gewesene Situation führt dazu, dass althergebrachte Annahmen zur Funktionsweise des
Finanzsystems hinterfragt werden. Gemäss der Finanztheorie wollen Menschen etwas
lieber heute als morgen besitzen: Ein Euro ist in der Zukunft weniger wert als zum
jetzigen Zeitpunkt. Wenn die Zinsen negativ sind, sieht das anders aus: Sparer müssen
heute dafür bezahlen, dass sie Geld ausleihen dürfen. Implizit gehen sie davon aus, dass
die Deflation die reale Kaufkraft ihrer Ersparnisse trotz der Negativzinsen steigern wird.
Ein Zyniker würde argumentieren, negative Zinsen seien der Beweis dafür, dass die
Zentralbanken ihr Ziel, die Inflation wieder anzufachen, verfehlt haben.
Grafik 1: Ein bedeutender Anteil von Staatsanleihen wirft negative Renditen ab
In Prozent (Renditen in Abhängigkeit der Restlaufzeit in Monaten beziehungsweise Jahren)
3%
2%
Vontobel Asset Management
1%
0%
-1%
3 M 6 M 1 Y 2 Y 3 Y 5 Y 7 Y 10 Y 15 Y 20Y 30 Y
-2%
Switzerland
Germany
Japan
Quelle: Bloomberg, Vontobel Asset Management
Wie ist es zu Minuszinsen gekommen?
Das Phänomen der globalen Disinflation ist nichts Neues: Seit Jahrzehnten lassen die
Globalisierung und das Internet die Preise sinken. Überdies dämpfen rückläufige
Produktivitätsgewinne und demografische Trends in wichtigen Staaten das weltweite
Wirtschaftswachstum. Und schliesslich wurde im Verlauf verschiedener Krisen ein
Schuldenberg angehäuft: 2000 platzte die Internetblase, 2008 implodierte der Markt für
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amerikanische «Subprime»-Immobilien, und seit 2011 befinden sich die Rohstoffpreise
im Sinkflug. Diese Faktoren belasten das Wachstum. Um eine wirtschaftliche Depression
abzuwenden, haben die Zentralbanken die Zinsen auf null gesenkt und ihre Bilanzen
massiv ausgeweitet, indem sie riesige Mengen von Staatsanleihen aufkauften. Als auch
diese Massnahmen nicht den gewünschten Erfolg erzielten, griffen einige Notenbanken
zum Mittel von Minuszinsen.
Gewinner und Verlierer von Negativzinsen
Noch ist ungewiss, ob die Zentralbanken ihre Ziele auf diese Weise erreichen werden.
Klare Verlierer der Negativzinsen sind aber die Sparer, während die Kreditnehmer davon
profitieren. Insbesondere den verschuldeten Regierungen kommt zugute, dass sie für
ihren Schuldendienst deutlich weniger aufwenden müssen. Dies kann von Vorteil sein,
wenn die politischen Entscheidungsträger dieses monetäre Geschenk nutzen, um
strukturelle Reformen umzusetzen und das Trendwachstum anzukurbeln. Leider zeigt
die Erfahrung, dass Regierungen in Versuchung geraten, unpopuläre Reformen auf die
lange Bank zu schieben, um bei den Wahlen nicht abgestraft zu werden. Zu den
offensichtlichsten «Opfern» negativer Zinsen gehören Finanzunternehmen und institute: Während die Nettozinsmarge der Banken schrumpft, geraten die
Geschäftsmodelle der Versicherer unter Druck. Pensionskassen fällt es zunehmend
schwer, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Die extrem niedrigen Zinsen verhelfen
zwar den Vermögenspreisen zu Höhenflügen und stützen die Kreditqualität, was für
etwas Entspannung sorgt. Aufgrund der sinkenden Profitabilität könnten die
Geschäftsbanken jedoch ihre Kreditvergabe zurückfahren – was genau das Gegenteil
dessen wäre, was Minuszinsen eigentlich bezwecken sollen. Deshalb hat die Europäische
Zentralbank (EZB) kürzlich ein System eingeführt, wonach Banken, die bestimmte
Kredit-Benchmarks erfüllen, Zuschüsse von bis zu 40 Basispunkten erhalten.
Was bräuchte es für eine Aufhebung?
Um die Zentralbanken zu einer Kursänderung zu bewegen, müsste die Teuerung auf
gegen 2 Prozent ansteigen und die Wirtschaft ein reales Wachstum in der Nähe ihres
Potenzials vorlegen. Da sich die Rohstoffpreise stabilisiert haben, ist damit zu rechnen,
dass die US-Inflation in den kommenden zwölf bis 18 Monaten die 2-Prozent-Grenze
erreichen oder überschreiten wird (siehe Grafik 2). Zudem gibt es in bestimmten
Sektoren aufgrund der angespannten Lage am Arbeitsmarkt vereinzelt Hinweise für
einen Aufwärtsdruck auf die Löhne. Die Weltwirtschaft wächst indes weiterhin nur
verhalten. Zudem mangelt es an globaler fiskalpolitischer Koordination, um das
Wachstum zu beleben. Schliesslich sind Negativzinsen nur dann zielführend, wenn die
Regierungen mehr für die Infrastruktur ausgeben und die langfristigen
Wachstumsaussichten verbessern. Dies eröffnet Chancen für
Unternehmensinvestitionen. Negative Zinsen ohne wachstumsfördernde Massnahmen
hingegen sind unter Umständen nur ein Zeichen dafür, dass es um die Wirtschaft
schlecht bestellt ist. Letztlich würde dadurch die Angst vor einer Deflation zusätzlich
angeheizt.
Vontobel Asset Management
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Was bedeutet das für Investoren?
Der Portfolioaufbau ist eine echte Herausforderung. Denn viele sogenannte risikofreie
Vermögenswerte weisen eine Rendite von null oder darunter auf. Dies erschwert eine
wirksame Diversifikation ausgewogener Portfolios. Auf ihrer Suche nach Rendite gehen
die Anleger bei einem nachteiligen Szenario möglicherweise übermässige Risiken ein.
Um im aktuellen Umfeld erfolgreich zu sein, muss sorgfältig evaluiert werden, welche
Wertpapiere eine echte Portfoliodiversifikation ermöglichen. Angesichts des schwachen
Anstiegs der Unternehmensgewinne und der geringen Rezessionsgefahr bieten unseres
Erachtens die Kreditmärkte das beste Risiko-Rendite-Profil. Wir bleiben in riskanten
Vermögenswerten «übergewichtet», wobei wir Kreditmärkte bevorzugen. In
japanischen Aktien haben wir unser Engagement auf neutral verringert, womit wir
unsere dreieinhalb Jahre andauernde «Übergewichtung» dieser Titel beendet haben. Die
jüngste Marktstärke und die sinkende Volatilität haben wir zudem genutzt, um uns zu
einem vorteilhaften Preis (teilweise) gegen das Abwärtsrisiko an den Aktienmärkten
abzusichern. Generell kann nicht ausgeschlossen werden, dass Grossbritannien nach
dem Referendum vom 23. Juni aus der Europäischen Union ausscheidet. Dies hätte
unter Umständen nachteilige Auswirkungen auf die Finanzmärkte zur Folge.
Grafik 2: Wir erwarten einen Anstieg der US-Teuerung in den nächsten zwölf Monaten
Jährliche Veränderung in Prozent
4.0%
Prognose
3.0%
2.0%
1.0%
0.0%
-1.0%
Jan 15
Jul 15
Jan 16
Jul 16
Consumer price index (CPI) % yoy
Jan 17
Jul 17
CPI %yoy annual average
Quelle: U.S. Bureau of Labor Statistics, Thomson Reuters Datastream, Vontobel Asset Management
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