Hausärzte: Supervisoren für Praxisteam und Patienten

Holland
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Hausärzte: Supervisoren
für Praxisteam und Patienten
Wer in den Niederlanden krank ist, konsultiert zuerst seinen
Hausarzt. Dieser behält den Überblick und ­leitet Patienten durchs
System. Besonders qualifizierte Praxismitarbeiter entlasten den
Allgemeinmediziner, aber auch hier behält er immer alles im Blick.
Ein Besuch bei unserem Nachbarn.
Foto: Mauritius Images / Alamy
Hausärzte
weltweit
Folge 3
Der Hausarzt 04/2016
Ich steige aus dem Zug, hinein in die Menschenmasse des Bahnhofs. Es ist Rushhour,
ich bahne mir einen Weg. Die Sprache klingt
vertraut und doch anders. Amsterdam. Auf
dem Bahnhofsvorplatz Amsterdam Centraal
sehe ich etwas, was ich zwar von daheim
kenne, aber nicht in dieser Menge: Fahrräder.
„Wir sind auf dem Fahrrad geboren“, sagt die
Lebensgefährtin meines Gastgebers, der mir
in den nächsten Tagen die niederländische
Allgemeinmedizin zeigen wird. Er, selbst
Arzt in Weiterbildung und ursprünglich aus
Nigeria stammend, hat sich als gastgebender
Arzt für den LOVAH-Austausch angeboten –
ein Austauschprojekt der De Landelijke Organisatie Van Aspirant Huisartsen (LOVAH).
Die LOVAH ist das Pendant der Jungen Allgemeinmedizin Deutschland (JADE), beides
Vereinigungen für junge Allgemeinmediziner. Der LOVAH-Austausch wird über die
Plattform des Vasco da Gama Movements
(VdGM, s. Kasten 2) unter angehenden Hausärzten in Europa bekannt gemacht. Als Teilnehmerin kann ich die hausärztliche Tätigkeit in den Niederlanden kennenlernen und
den jährlichen LOVAH Kongress besuchen.
Am nächsten Morgen fahre ich mit meinem
Gastgeber nach Den Haag, er arbeitet in einer
Hausarztpraxis in einem „Problemviertel“
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Das niederländische P­ rimärversorgungssystem
▪▪ Steuerfinanziert, Kombination aus capitation und fee for service (eine umfangreiche
Basisversicherung mit Option zur privaten Zusatzversicherung).
▪▪ Basisversicherung trägt die Behandlung durch den Hausarzt.
▪▪ „gate keeping“: Hausärzte sind erste Ansprechpartner für Patienten; Überweisung
für Spezialisten und stationäre Behandlung inkl. Rehabilitation (sekundärer/tertiärer
Behandlungssektor) notwendig.
▪▪ Hausärzte behandeln mehr als 90 Prozent der Gesundheitsbeschwerden, mit denen
ein Patient das Gesundheitssystem frequentiert.
▪▪ Etwa vier Prozent der kontaktierenden Patienten werden in den sekundären Behandlungssektor überwiesen.
▪▪ Patienten schreiben sich beim Hausarzt in die Patientenliste ein.
▪▪ 51 Prozent der Hausärzte arbeiten in Gruppenpraxen mit drei bis sieben weiteren
Hausärzten.
▪▪ Im Schnitt sind etwa 2.300 Patienten pro Hausarzt gelistet, Patienten besuchen
durchschnittlich fünf Mal ihren Hausarzt pro Jahr.
▪▪ Mehr als 8.200 Hausärzte für mehr als 16 Millionen Einwohner.
▪▪ Vergütung der Hausärzte erfolgt aus „Kopfpauschale“ für jeden eingeschriebenen
Patienten (Vorhaltung medizinischer Expertise) und Konsultations-bezogener Bezahlung (sowohl für Hausarzt als auch für Nurse).
▪▪ Elektronische Patientenakte.
Quelle: Schäfer W, Kronemann M, Boerma W, van den Beerg M, Westert G, Devillé W, van Ginneken E,
Health in Transition: The Netherlands – Health Systems Review. 2010
koordinieren die Termine und ­nehmen Blut
ab. Bei der Terminvergabe teilen sie selbstständig die Patienten nach Dringlichkeit
der Konsultationsanlässe ein.
Dies geschieht oft telefonisch mit Unterstützung eines ausführlichen Triage-Tools.
Mit dessen Hilfe werden die vom Patienten
geschilderten Symptome nach einem Ampelsystem eingestuft – rot für dringlich,
gelb für subakut und grün für elektive Terminvergaben. Dieses Tool erlaubt so auch
Personal mit moderater medizinischer Vorbildung eine fundierte Triage und wurde
von der niederländischen Gesellschaft für
Allgemeinmedizin (NHG; Nederlands huisarten Genootschap) explizit für die Primärversorgung entwickelt.
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Versorgung unter Supervision
des Hausarztes
Darüber hinaus lerne ich Physician assistants
kennen. Sie sind Praxismitarbeiter mit
einem Bachelorabschluss in Pflegewissenschaften oder anderen Gesundheitsberufen,
die nach einer gewissen klinischen Erfahrung Absolvierung eines 30-monatigen,
strukturierten Trainings den Hausarzt vor
allem in der Therapie von chronisch kranken
Patienten unterstützen. So beraten sie Diabetiker oder Patienten mit arterieller Hypertonie etwa zu ihrem Lebensstil.
Des Weiteren treffe ich Krankenschwestern
(Nurse consultants). Sie haben in der Regel einen Masterabschluss in Pflegewissenschaften, können eigenständig Basisdiagnostik
inklusive Basislabor vornehmen und in
gewissem Umfang Therapieentscheidungen
treffen, die auch die Verschreibung von
Medikamenten umfassen. Sie arbeiten größtenteils selbstständig, formal aber unter
Supervision des Hausarztes. Er prüft die
Konsultationen der Physician assistants
und Nurse consultants formal via elektronischer Patientenakte. Nurse consultants dürfen Hausärzte sogar während des ambulanten Notdienstes ersetzen, solange auch hier
Hausärzte für Rücksprachen zur Verfügung
stehen.
Die Sprechstunde beginnt. Das Sprechzimmer ist einfach eingerichtet – ein Computer,
ein paar Bücher, eine Untersuchungsliege,
Otos- und Stethoskop. In der Hausarztpraxis
zu sonografieren, sei nicht üblich in den Niederlanden, erklärt mein Gastgeber. Es kommen Familien, geriatrische Patienten und
kleine Kinder in die Sprechstunde. In den
Niederlanden versorgen Hausärzte Patienten
„von der Wiege bis zur Bahre“. Bei medizinischen Fragen ist die Hausarztpraxis die erste
Anlaufstelle, wobei Hausärzte wie „Türhüter“
agieren: Für die Konsultation eines Spezialisten ist also eine Überweisung vom Hausarzt nötig. Ähnlich wie in Dänemark oder
Großbritannien schreiben sich die Patienten
in Listen bei der Hausarztpraxis ihres Viertels ein. Mir fällt auf, dass viel Zeit für
Gespräche mit Patienten bleibt, da andere
Der Hausarzt 04/2016
Foto: pico - Fotolia
mit vielen Migranten. Gleich fällt mir auf:
Die Praxis besteht aus einem großen Team vier Fachärzte für Allgemeinmedizin und
drei Ärzte in Weiterbildung. Sie werden entscheidend von einem gut ausgebildeten
Team von Krankenschwestern und/oder
Arztassistenten sowie von Praxissekretärinnen unterstützt. Letztere
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Teammitglieder übliche zeitintensive
Gespräche wie Lebensstilveränderungen
übernehmen. Im Schnitt sind die Patienten alle 15 bis 20 Minuten bestellt. Viele
haben wie in Deutschland komplexe medizinische oder psycho-soziale Probleme.
Deshalb haben sich in einigen Stadtteilen
auch Primärversorgungszentren etabliert –
Hausarztpraxen mit Sozialarbeiter, Psychologe und Zahnarzt.
Zudem engagieren sich Kommunen stark
in der Versorgung: In einigen sind extra
Fachärzte explizit nur für Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen bei Kindern und
Jugendlichen angestellt (consultatiebureau
arts). Werden Termine versäumt, erfolgen in
einigen Kommunen Hausbesuche zur Untersuchung bei den Eltern. So etwa in Amsterdam, berichtet mir eine niederländische
Kollegin.
Teils gibt es lokale Projekte zur „Gemeindemedizin“, in denen Kommune und Hausärzte sich für Projekte zusammenschließen.
So darf ich nach der Vormittagssprechstunde einen Praxispartner auf eine Sitzung begleiten, um ein solches Projekt vorzubereiten. Es soll das Gesundheitsverhalten von
sozial schwachen Familien verbessern und
die Therapieadhärenz von chronisch kranken Kindern und Jugendlichen stärken.
Nach der Mittagspause geht die Sprechstunde weiter bis zum Abend. In der Regel,
berichtet mein Gastgeber, betragen die
Sprechzeiten täglich acht Stunden – deutlich länger als in Deutschland. Im Gespräch
mit ihm erfahre ich außerdem, dass der
Verdienst in der Weiterbildung deutlich
unter dem in Deutschland liegt.
Drei Jahre Weiterbildung
Durch das Austauschprogramm treffe ich
weitere Teilnehmer aus verschiedenen
europäischen Ländern. Alle sind entweder
junge Fachärzte oder Ärzte in allgemeinmedizinischer Weiterbildung (ÄiW). In einem Workshop stellt jeder Teilnehmer das
Gesundheitssystem aus dem Heimatland
und die Weiterbildung zum Facharzt für
Allgemeinmedizin vor. Natürlich steht die
Der Hausarzt 04/2016
…ich nur dort nach fairen demokratischen Spielregeln für meine Interessen
als Hausarzt kämpfen kann.
Einige wichtige Schritte in die richtige Richtung sind:
▪ Mit der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) entsteht ein
zweites Standbein für unsere Versorgungspraxen ohne Einschränkungen durch spezialärztlich dominierte Verteilungskämpfe in Kassenärztlicher Vereinigung oder Ärztekammer.
▪ Das Institut für hausärztliche Fortbildung (IhF) entwickelt
sich immer weiter zu einem Anbieter von hausärztlicher Fortbildung ohne Beeinflussung durch die Industrie oder andere
Kostenträger nach den Regeln der Evidenzbasierten Medizin.
▪ Mit dem VERAH®-Programm werden kompetente Medizinische Fachangestellte ausgebildet, die Hausärzte bei der Vorsorgung ihrer Patienten immer besser unterstützen.
▪ Über das Forum Weiterbildung werden junge Ärzte schon in
ihrer Ausbildung zum Hausarzt in die Gremienarbeit des
Verbandes eingebunden.
▪ Eigene Transparenzregeln werden für sämtliche Mandatsträger entwickelt.
Dr. med. Walter Dresch
50676 Köln
02203 5756-0 www.hausaerzteverband.de
[email protected]
www.facebook.com/deutscherhausaerzteverband
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Austauschprogramme des Vasco da Gama
Movement
PRECONFERENCE EXCHANGES
▪▪ Europa- und weltweites Austauschprogramm im Vorfeld von nationalen Konferenzen
der gastgebenden Länder, beinhaltet kurze Hospitation in Hausarztpraxis und Einladung zur Kongressteilnahme. Austausch mit Kollegen aus vielen Ländern möglich
▪▪ Bietet einen breiten Überblick über verschiedene Systeme der Primärmedizin
▪▪ Dauer i.d.R. zwei bis drei Tage, Kosten: Eigenbeteiligung von 100-300 Euro für Verpflegung und Kongressgebühr. Anreisekosten, Unterkunft wird häufig kostengünstig oder
kostenfrei organisiert.
HIPPOKRATES PROGRAMM
▪▪ Europaweites Programm, ein- bis zweiwöchige Hospitation in einer europäischen
Hausarztpraxis
▪▪ Intensiveres Kennenlernen eines nationales Primärversorgungssystems möglich
▪▪ Koordination über den nationalen Austauschkoordinator des Gastlandes
▪▪ Unterkunft wird teilweise vor Ort kostengünstig oder kostenfrei organisiert, Anreisekosten sind zu tragen
▪▪ ein Austauschbericht ist verpflichtend
TEILNAHMEBEDINGUNGEN
▪▪ Ärzte in Weiterbildung oder junge Hausärzte (bis zu fünf Jahre nach dem Facharzt)
können ins Ausland gehen
▪▪ Interessierte Fachärzte können ausländische Kollegen für eine kurze Hospitation in
ihrer Praxis empfangen (E-Mail an: [email protected])
Weitere Infos und Angebote gibt es über die AG Internationales oder die Regionalgruppenverteiler der JADE und auf www.jungeallgemeinmedizin.de (Rubrik: Internationales).
Quelle www.vdgm.eu
niederländische Allgemeinmedizin in einem
besonderen Fokus (s. Kasten 1). Wir diskutieren auch die unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Facharztweiterbildung – in
den Niederlanden dauert diese beispielsweise drei Jahre. ÄiW werden hier durch Seminare und Koordination des jeweiligen regionalen Instituts für Allgemeinmedizin an
insgesamt acht Universitäten betreut. Im
ersten und dritten Jahr der Weiterbildung
arbeiten die ÄiW in der Hausarztpraxis, dazwischen in der Klinik, wobei diese Zeit zwischen Akutversorgung, Einheiten zur Versorgung chronisch kranker Patienten und
Psychiatrie aufgeteilt ist.
Während der gesamten Weiterbildung kehren die ÄiW wöchentlich für einen Tag an die
Universität für Seminare zurück. Die Seminare umfassen medizinische Probleme sowie
klinische und kommunikative Fähigkeiten.
An den Austausch schließt sich der Jahreskongress der LOVAH an. Daran nehmen rund
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1.000 junge Ärzte in Weiterbildung für Allgemeinmedizin oder junge Hausärzte teil. Der
Kongress beeindruckt mit inhaltlicher Vielfältigkeit: Die Vorträge und Workshops reichen von der Therapie der Adipositas in der
Hausarztpraxis, Interventionen zur Reduktion der Antibiotikaverschreibungsrate bis zur
Expeditionsmedizin. Das fachliche Niveau
der Vorträge ist sehr hoch und die Themen
für die Praxis meist relevant.
In den Sessions können junge Allgemeinmediziner ihre eigenen Forschungsergebnisse
vorstellen. Jährlich verleiht die NHG sogar
einen Preis für die beste Forschungsarbeit eines jungen Hausarztes sowie die beste Frage,
die einen jungen Allgemeinmediziner in seiner Praxis umtreibt. Der LOVAH Kongress ist
aber nicht frei vom Einfluss der pharmazeutischen Industrie.
Fazit
Der Austausch lohnt sich. Die niederländische Allgemeinmedizin über einen LOVAH
Austausch des VdGM kennenzulernen war
inspirierend, insbesondere die Zusammenarbeit zwischen Hausarzt und Praxispersonal zu erleben, das deutlich mehr Kompetenzen als in der deutschen Hausarztpraxis
hat. Der Austausch mit Kollegen aus anderen Ländern fördert die Reflektion über die
Strukturen, Errungenschaften und Verbesserungsmöglichkeiten im eigenen Gesundheitssystem. Interessant sind die Berufszweige des Physician Assistants und Nurse
consultants, um künftig die älter werdende
Bevölkerung gut versorgen zu können. Interessanterweise wurden die Physician Assistants Anfang der 2000er Jahre in den Niederlanden ebenfalls unter dem Gesichtspunkt
eines erhöhten Versorgungsbedarfes neu
eingeführt.
Dr. Solveig Carmienke,
FÄ für Allgemeinmedizin, Halle
Nationale Austauschkoordinatorin
Hippokrates Programm des VdGM,
Sektion für Allgemeinmedizin, Institut f.
Epidemiologie, Medizinische Statistik
und Informatik, Halle
Literatur im Onlineartikel unter www.medizinundmedien.eu
Der Hausarzt 04/2016