Man soll Denken lernen, nicht Gedachtes Schule, wie sie sein sollte Der Pausengong signalisierte das Ende einer Unterrichtsstunde. Ich stand mit der Karte von Russland bewaffnet vor dem Klassenraum der 8d und wartete darauf, dass die Tür aufging. Fünf Minuten vergingen, und es ertönte wieder der Gong, der den Beginn der nächsten Unterrichtsstunde verkündete, in diesem Falle meiner Stunde Geographie mit der 8d. Nun ist Latein zwar Hauptfach und Geographie nicht, aber ich wollte trotzdem nicht länger warten und öffnete laut vernehmlich die Klassenzimmertür. Kollegin „Latein“ war gerade dabei, die Hausaufgaben an die Tafel zu schreiben. Sie sah mich. „Ich bin gleich fertig!“ Die Schüler schauten etwas erschöpft drein. Ein Mädchen fragte mich, ob sie schnell noch auf die Toilette gehen dürfte. Ich schickte die gesamte Klasse in eine 5 Minuten Pause. „Entschuldige bitte, aber das musste sein,“ sagte meine nette Kollegin. „Sie waren etwas langsam, und ich musste heute meinen Unterrichtsstoff auf jeden Fall durchkriegen. Am Freitag schreiben wir eine Klassenarbeit.“ – Obwohl ich wusste, dass sie ein typisches Lehrerverhalten zeigte, war ich trotzdem sprachlos. Lehrer lernen in der pädagogischen Ausbildung, dass das Implantieren von Wissen in ein Hirn neuro-biologisch nicht möglich ist. Trotzdem geben sie sich nach wie vor alle Mühe, die Inhalte des Lehrplans mittels des Nürnberger Trichters in die Köpfe ihrer Schüler einzupauken. Mein Entschluss stand fest. Ich mache es dieses Mal ganz anders, und ich wusste auch schon wie: Weg von dem neuro-biologischen Quatsch einer Wissensvermittlung hin zum Denken lernen. Beim Recherchieren zu diesem Artikel fand ich ein Zitat, das mit einer kleinen Änderung des Verbes meine Idee auf den Punkt bringt. Es stammt von dem damaligen Rektor der TH Dresden, Prof. Dr. phil., Dr. theol. h. c., Dr.-Ing. E. h.Cornelius Gurlitt, der 1905 den Satz prägte: Man soll Denken lehren, nicht Gedachtes. Im Folgenden möchte ich Ihnen an Hand eines Beispiels zeigen, was in meinem Sinne Denken ist, wie man Kinder dazu bringt, es zu tun und warum es wichtiger ist, als das Auswendiglernen von irgendwelchem Wissen, das andere einmal gedacht haben. Vorweg möchte ich Ihnen aber meine Definition von Denken anbieten: Denken ist der geistige Umgang mit Mustern. Hier ist das Beispiel. Das Thema des letzten Schulhalbjahres war in den 8. Klassen „Eine Welt – Viele Welten“. In der Einführungsstunde habe ich eine ihnen vielleicht bekannte Fotomontage der Erde bei Nacht aus dem Weltraum besehen an die Wand projiziert und die Schüler gefragt, was sie sehen. Sie zählten die Kontinente auf. Dann sagte jemand, er sehe Lichter. Es begann ein kleiner Wettbewerb. Sie wetteiferten im Erkennen von Ländern und Städten. Ich fragte sie nach den dunklen Flächen. Sie identifizierten die Ozeane, die Sahara und das AmazonasGebiet. Was sagen euch Lichter und Dunkelheit noch, habe ich sie gefragt. Der berühmte Domino-Effekt setzte ein. Ich kam mit dem Tafelanschrieb kaum hinterher. Strom, Energie, Verschwendung, Reichtum, Armut, Hafenstädte, Handel … sie zoomten denkend in das Bild hinein, um im nächst Moment wieder in die Totale zu gehen. Sie zerlegten das Nachtbild der Erde in Muster. Wir haben sie über eine Mindmap sortiert. Jeweils zwei Schüler durften sich ein konkretes Thema formulieren, dass sie zu einem bestimmten Tag auf dem Kalender vorbe- reiten und präsentieren sollten, um im Anschluss darüber zu diskutieren. Von der illegalen Migration armer Mexikaner in die USA über Kinderarbeit in Bangladesch bis hin zum Kampf der Kulturen … jede Geographiestunde war spannend. Als die Schüler begriffen, dass es nicht darum ging, es mir recht zu machen, begannen sie mit Mustern zu spielen. Sie abstrahierten, reduzierten, substituierten und assoziierten, ohne dass es ihnen bewusst war. Irgendwann habe ich ihnen dann die Muster des Denkens vorgestellt und sie darüber gelobt, wie gewandt sie mit ihnen umgehen. Sie waren stolz wie die Spanier und benutzen seitdem die Denkbegriffe sinngemäß, wenn sie diskutieren. Sie tun es auch zu Hause, wie mir erstaunte Eltern berichtet haben. Ich bin sicher, dass „meine Kinder“ auch in anderen Fächern angefangen haben zu denken. Man könnte diese Fähigkeit potenzieren, wenn der Prozess des Denkens Fächer- und Jahrgänge-übergreifend orchestriert werden würde. Anstatt eines Lehrplanes sollte jede Schule einen Lernplan haben, dessen Inhalt nicht Wissen, sondern die Kunst des Denkens ist. Ach ja, Sie werden jetzt fragen, wo die Kinder Wissen herbekommen. Nun, das geschieht so gut wie von selbst. Wenn Schüler ein Thema vorbereiten, das sie interessiert, werden sie sich alle nötigen Informationen besorgen, manchmal aus Büchern, meistens aus dem Internet. Denken wird zum Spiel und erzeugt nebenbei auch noch Wissen. Kinder, die durch eine Schule des Denkens gegangen sind, haben es leicht in jeder Folgeausbildung, sind im späteren Berufsleben versierte Aufgaben- und Problemlöser und sind bestens darauf vorbereitet, die Zukunft zu meistern. Ausbildungen, komplexe Aufgaben– und Problemstellungen und das Unbekannte erscheinen uns immer in Form von Mustern. Und wenn wir keines finden, machen wir uns ein eigenes … vorausgesetzt, wir haben Denken gelernt.
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