Univ.-Prof. Dr. Joseph Marko 09.10.2015 Fachprüfung aus

Univ.-Prof. Dr. Joseph Marko
09.10.2015
Fachprüfung aus Verfassungsrecht und allgemeiner Staatslehre
Lösungsskizze
I.
Was wird ihm Rechtsanwalt Mag. Allwissend raten? Welche
Rechtschutzmöglichkeiten stehen ihm offen?
1. Revision beim VwGH:
Gegen das abweisende Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (im Folgenden
kurz BVwG) kann Ali H Revision beim VwGH gemäß Art 133 Abs. 1 Z 1 B-VG
erheben.
Ali H muss behaupten, durch das Erkenntnis des BVwG in seinen subjektiven
Rechten verletzt zu sein (Art 133 Abs. 6 Z 1 B-VG). Das Erkenntnis des BVwG ist
nach Art 133 B-VG auch tauglicher Revisionsgegenstand.
Die Revisionsfrist beträgt 6 Wochen (§ 26 Abs. 1 Satz 1 VwGG), die Revision ist
beim BVwG einzubringen (§ 25a Abs. 5 VwGG), die Formvorschriften richten sich
nach den §§ 24 iVm. 28 VwGG.
Die Revision ist zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der
grundsätzliche Bedeutung zukommt (Art 133 Abs. 4 B-VG), insbesondere weil
 das Erkenntnis des BVwG von der Rechtsprechung des VwGH abweicht,
 eine solche Rechtsprechung fehlt oder
 die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des VwGH
nicht einheitlich beantwortet wird.
Gemäß § 25a VwGG hat das BVwG im Spruch seines Erkenntnisses
auszusprechen, ob die Revision gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist (ordentliche
Revision). Wird die ordentliche Revision ausgeschlossen, so steht dem
Beschwerdeführer die Möglichkeit offen, eine außerordentliche Revision an den
VwGH zu erheben (§ 30a Abs. 7 VwGG).
Ali H wird im vorliegenden Fall die Verletzung von Grundrechten vorbringen, es
empfiehlt sich daher die Erkenntnisbeschwerde beim VfGH.
2. Erkenntnisbeschwerde beim VfGH:
Gegen das abweisende Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes kann Ali H
Erkenntnisbeschwerde beim VfGH gemäß Art 144 Abs. 1 B-VG iVm §§ 82ff VfGG
erheben.
Ali H müsste vorbringen, durch das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes in
einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht und /oder in einem subjektiven
Recht wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm bei der Erlassung
dieses Erkenntnisses verletzt worden zu sein.
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Ali H muss die Erkenntnisbeschwerde innerhalb von 6 Wochen nach Zustellung des
Erkenntnisses, wenn jedoch das Erkenntnis nur mündlich verkündet wurde, mit dem
Tag der Verkündung, beim VfGH einbringen (§ 82 Abs. 1 VfGG).
Der Inhalt der Erkenntnisbeschwerde richtet sich nach den §§ 15 und 82 VfGG. Die
Formvorschriften ergeben sich aus den §§ 15, 82 Abs. 4 und 5 VfGG. Demnach ist
die Erkenntnisbeschwerde schriftlich beim VfGH einzubringen. Weiters muss die
Erkenntnisbeschwerde gemäß § 17 Abs. 2 VfGG von einem bevollmächtigten
Rechtsanwalt eingebracht werden, es ist eine Eingabegebühr von derzeit 240 Euro
zu entrichten (§ 17a Z 1 VfGG).
Begründetheit der Erkenntnisbeschwerde:
Die Erkenntnisbeschwerde wäre begründet, wenn Ali H durch das Erkenntnis des
BVwG in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt wurde. In
Betracht kommen folgende Grundrechte:





das Recht auf Leben (Art 2 EMRK, 13. ZP-EMRK),
das Verbot der Folter und das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender
Strafe oder Behandlung (Art 3 EMRK),
das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK),
Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander und
Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach Art 47 Abs. 2
GRC.
Recht auf Leben (Art 2 EMRK, 13. ZP-EMRK):
Art 2 EMRK bestimmt, dass das Recht jedes Menschen auf das Leben gesetzlich
geschützt ist; dh auch, dass das Recht auf Leben nicht nur jede Art von Tötung durch
staatliche Organe ausschließt, sondern die Staaten auch verpflichtet sind, das
menschliche Leben vor Eingriffen durch Private zu schützen.
Grundrechtsträger sind alle Menschen zwischen Geburt und Tod.
Jede absichtliche, aber auch unabsichtliche Tötung durch Exekutivorgane stellt einen
Eingriff in das Recht auf Leben dar. Die Abschiebung bzw. Auslieferung eines
Fremden in ein Land, wo dieser eine Tötung (zB durch Todesstrafe) zu erwarten hat,
ist ebenso verboten und würde einen Eingriff in dieses Grundrecht bedeuten. Eine
bestimmte Lebensqualität oder Lebensbedingungen sind durch Art 2 EMRK nicht
geschützt.
Aus dem Sachverhalt geht jedoch nicht hervor, dass dem Beschwerdeführer im Falle
einer Rückkehr in den Iran tatsächlich der Tod droht. Der Beschwerdeführer wurde
laut Sachverhalt lediglich einmal von den iranischen Behörden wegen einer nicht
angemeldeten Demonstration verhaftet und laut seinen Aussagen gefoltert. Der
Beschwerdeführer gibt auch selber an, dass er vor dieser unangemeldeten
Demonstration öfters an verschiedenen Kundgebungen, etc. teilgenommen hat; es
geht aus dem Sachverhalt nicht hervor, ob er schon einmal in der Vergangenheit
verhaftet und gefoltert wurde. Aus dem Sachverhalt geht lediglich hervor, dass die
meisten Protestaktionen „ohne gröbere Zwischenfälle“ verliefen. Daraus kann nicht
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geschlossen werden, dass der Beschwerdeführer bereits in der Vergangenheit Ziel
staatlicher Repressalien wurde.
Seine Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Aseri stellt für den Beschwerdeführer auch
keine Gefahr für Leib und Leben dar, zumal aus dem Länderberichten hervorgeht,
dass diese Minderheit im Iran keiner staatlichen Repression ausgesetzt ist.
Art 2 Abs. 2 EMRK ist im vorliegenden Fall irrelevant, zumal keine der drei
Tatbestände erfüllt ist.
Das Erkenntnis des BVwG verletzt den Beschwerdeführer nicht im Recht auf Leben.
Verbot der Folter und das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe
oder Behandlung (Art 3 EMRK):
Art 3 EMRK bestimmt, dass niemand der Folter oder unmenschlicher oder
erniedrigender
Strafe
oder
Behandlung
unterworfen
werden
darf.
Aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen Fremde verletzen Art 3 EMRK, wenn
stichhaltige Gründe dafür bestehen, dass der Fremde im Zielstaat gefoltert oder
unmenschlich behandelt werden wird.
Das Erkenntnis des BVwG verletzt Art 3 EMRK dann, wenn es in Anwendung eines
gegen Art 3 EMRK verstoßenden Gesetzes ergangen ist, wenn es auf einer diesem
widersprechenden Auslegung des Gesetzes beruht oder wenn bei seiner Erlassung
grobe Verfahrensfehler unterlaufen sind. Aus dem Sachverhalt geht diesbezüglich
nichts hervor.
Hier kann auf die Ausführungen zu Art 2 EMRK verwiesen werden, wonach laut
Sachverhalt nicht hervorgeht, dass dem Beschwerdeführer Folter, unmenschliche
bzw. erniedrigende Strafe oder Behandlung im Heimatland droht. Der
Beschwerdeführer wurde laut Sachverhalt auch nicht explizit wegen seiner
Zugehörigkeit zur Minderheit der Aseri von den staatlichen Behörden verfolgt,
sondern weil er an einer unangemeldeten Demonstration teilgenommen hat. Er
wurde auch wieder freigelassen, Angaben im Sachverhalt, wonach der
Beschwerdeführer danach ein weiteres Mal oder in der Vergangenheit Repressalien
ausgesetzt wurde, fehlen. Aus dem Sachverhalt geht auch hervor, dass der
Beschwerdeführer in der Vergangenheit öfters für die Rechte der Aseri im Iran
demonstriert hat und deswegen nie einer staatlichen Verfolgung ausgesetzt wurde.
Aus der Staatendokumentation betreffend der allgemeinen politischen und
menschenrechtlichen Lage im Iran geht aus dem Sachverhalt lediglich hervor, dass
die Anhängerschaft der Aseri rund 22% der Bevölkerung beträgt und dass keine
kulturellen und politischen Aktivitäten vom iranischen Regime beschränkt werden.
Festgestellt wurde auch, dass die Volksgruppe der Aseri „in Staat und Wirtschaft in
der Regel gut integriert“ ist.
Hinsichtlich der Länderberichte kann davon ausgegangen werden, dass sich seit
dem Jahr 2011 keinerlei Änderungen hinsichtlich der Stellung der Volksgruppe der
„Aseri“ ergeben haben, weshalb die Bezugnahme auf diese Berichte
unproblematisch ist. Gegenteiliges ist aus dem Sachverhalt nicht zu entnehmen.
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Das Erkenntnis des BVwG verstößt nicht gegen das Verbot der Folter und das
Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung.
Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK):
Gemäß Art 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines „Privat- und
Familienlebens“. Eingriffe in dieses Grundrecht sind nach Rsp des VfGH dann
verfassungswidrig,



wenn sie ohne jede Rechtsgrundlage, dh gesetzlos ergangen sind,
wenn sie auf einer im Verhältnis zu Art 8 EMRK verfassungswidrigen
Rechtsvorschrift beruhen oder
wenn eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in
denkunmöglicher Weise angewendet wurde.
Im vorliegenden Fall erging die Rückkehrentscheidung nicht gesetzlos, sondern
aufgrund des § 52 FPG. Im Sachverhalt gibt es keinerlei Hinweise auf eine etwaige
rechtswidrige Grundlage.
Ali H könnte jedoch vorbringen, dass Art 8 EMRK durch die Rückkehrentscheidung
des BVwG in denkunmöglicher Weise angewendet wurde. Denkunmögliche
Gesetzesanwendung liegt auch vor, wenn dem Gesetz ein verfassungswidriger Inhalt
unterstellt wird.
Die Rückkehrentscheidung des BVwG ist ein Eingriff in Art 8 EMRK, daher muss
eine Interessenabwägung durchgeführt werden, um feststellen zu können, ob der
Eingriff gerechtfertigt ist oder nicht. Bei dieser Beurteilung ist § 9 Abs. 2 BFA-VG
heranzuziehen:
-
-
-
Der Beschwerdeführer befindet sich seit 10.12.2012 als Asylwerber in
Österreich, was nicht unbedingt für einen Verbleib spricht.
Es besteht kein Familienleben, Ali H hat weder Frau noch Kinder; die
Beziehung zu seiner Freundin stellt noch kein tatsächliches Familienleben dar.
Auch ist im Sachverhalt keinerlei Rede einer „Partnerschaft“.
Dass er schon „viele neue Freunde“ kennengelernt hat, sprich alleine gesehen
auch nicht für einen Verbleib.
Der Onkel mütterlicherseits ist zwar ein Verwandter des Beschwerdeführers,
jedoch nur dritten Grades.
Dass der Beschwerdeführer „ein wenig Deutsch“ spricht ist für den Grad der
Integration viel zu wenig, aus dem Sachverhalt geht auch nicht hervor, welche
Deutschkurse er schon erfolgreich absolviert hat
Die Sicherheit, in Österreich ein gutes Leben führen zu können ist für einen
Verbleib zu wenig.
Im Sachverhalt finden sich keinerlei Anhaltspunkte zu den Punkten des § 9
Abs. 2 Z 5 bis Z 9 BFA-VG, sodass darüber keine Feststellungen getroffen
werden können.
Aus dem Sachverhalt geht nicht hervor, welche Familienangehörige Ali H in seinem
Heimtatland hat. Die familiären Beziehungen in Österreich sind für einen Verbleib
jedoch zu wenig, ganz abgesehen von der Dauer seines Aufenthaltes in Österreich
(unter 5 Jahre).
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Nach der Interessenabwägung zu Art 8 EMRK hat das BVwG auch nicht gegen das
Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verstoßen.
Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander:
Das BVG betreffend das Verbot rassischer Diskriminierung ist ein sowohl an die
Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtetes Verbot, sachlich nicht
begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen.
Demnach verletzt das Erkenntnis des BVwG dieses BVG dann,



wenn damit gegenüber einem Fremden Willkür geübt wird,
wenn er auf einem gegen dieses BVG verstoßenden Gesetz beruht
oder wenn die Behörde dem angewendeten Gesetz fälschlich einen Inhalt
unterstellt, der – hätte ihn das Gesetz – dieses dem genannten BVG
widersprechend erscheinen ließe.
Das BVwG handelt subjektiv willkürlich, wenn es absichtlich „Unrecht“ zufügt;
objektiv willkürlich, wenn die Rechtslage gehäuft verkennt bzw. wenn gravierende
Verfahrensfehler vorliegen.
Im Sachverhalt gibt es keinerlei Hinweise, dass das BVwG willkürlich gehandelt hat;
auch sonstige Verstöße gegen das BVG betreffend das Verbot rassischer
Diskriminierung sind aus dem Sachverhalt nicht ersichtlich.
Das Erkenntnis des BVwG verstößt nicht gegen das BVG betreffend das Verbot
rassischer Diskriminierung.
Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht (Art
47 Abs. 2 GRC):
Art 6 EMRK ist im Asylverfahren nicht anwendbar, weil nicht über „civil rights“ in
einem Zivil- oder Strafverfahren aberkannt wird; eine dem Art 6 Abs. 1 EMRK
entsprechende Garantie normiert Art 47 Abs. 2 GRC. Art 47 Abs. 2 GRC gilt nicht nur
im zivil- und strafrechtlichen Verfahren, sondern spielt vor allem im Asylverfahren
eine wichtige Rolle. Der VfGH verlangt, dass der Betroffene seine Rechte „effektiv
vertreten“ können muss. Dazu gehört auch insbesondere ein Recht auf
Kenntnisnahme sowie ein Recht auf Gehör. Ein Absehen von der mündlichen
Verhandlung ist nur unter besonderen Umständen möglich. Für das Asylverfahren
vor dem BVwG ist § 21 Abs. 7 BFA-VG iVm. § 24 VwGVG relevant.
Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn
der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt
erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das
Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht.
Das BVwG leitet die Unglaubwürdigkeit des Beschwerdeführers unter anderem aus
bestimmten Antworten auf Fragestellungen bzw. allgemein aus seinen Ausführungen
zur behaupteten Folterung im Zuge der Einvernahme vor dem BAA ab. Dass der
Beschwerdeführer bei der Schilderung seiner „Gefühlslage“ äußerst vage geblieben
ist, leitet das BVwG lediglich aus der Aktenlage ab, ohne sich durch Konfrontierung
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mit dem Beschwerdeführer selbst ein Bild davon gemacht zu haben. Das BVwG
begnügt sich lediglich damit, dem Beschwerdeführer vorzuhalten, in seiner
Schilderung zu vage geblieben zu sein bzw. nicht nachvollziehbare Ausführungen zu
seiner Fluchtgeschichte gemacht zu haben.
Die vom BVwG vorgenommene Begründung, wonach die Angaben zur behaupteten
Folterung nur „vage“ und wenig detailliert gewesen seien, ist ein Indiz dafür, dass der
Sachverhalt zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes nicht
völlig geklärt war. Die Glaubwürdigkeit ist für die Asylgewährung wesentliche
Voraussetzung, das BVwG hätte den Beschwerdeführer persönlich laden müssen
und ihm die Möglichkeit zu geben, seine Fluchtgeschichte darzubringen. Erst dann
hätte sich das BVwG ein persönliches Bild von der Fluchtgeschichte des
Beschwerdeführers machen können.
Das Absehen einer – diesfalls im Lichte des § 21 Abs. 7 BFA-VG – gebotenen
mündlichen Verhandlung durch das BVwG ist eine Verletzung im
verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht nach Art 47 Abs. 2 GRC.
Ali H ist somit durch das angefochtene Erkenntnis des BVwG im
verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer öffentlichen
mündlichen Verhandlung nach Art 47 Abs. 2 GRC verletzt worden.
II.
Wie
beurteilen
Sie
die
gewählte
Vorgangsweise
aus
verfassungsrechtlicher Sicht? (Gehen Sie dabei insbesondere auf
folgende Aspekte ein: Was ist der verfassungsrechtliche bzw.
verfassungsrechtspolitische Hintergrund für dieses Gesetz? Was ist
formal auffällig und wie sind diese Auffälligkeiten zu bewerten?
Welche verfassungsrechtlichen Bedenken könnte man bei den
einzelnen oben angeführten Regelungen anführen?)
Erklärtes Ziel des Gesetzes ist es, rasche Maßnahmen zu setzen, um hilfs- und
schutzbedürftigen Menschen eine menschenwürdige Unterbringung in Österreich zu
gewährleisten. Um Gebäude entsprechend nutzen bzw. adaptieren zu können,
wären allerdings grundsätzlich Regelungen der Länder betroffen bzw. zu vollziehen,
was nicht in die Kompetenz des Bundes fallen würde. Um Maßnahmen effektiv und
rasch treffen zu können, wurde daher ein „Durchgriffsrecht“ des Bundes in Form
dieses Bundesverfassungsgesetzes geschaffen.
Diese Form als Bundesverfassungsgesetz ist damit die eine Auffälligkeit des
Gesetzes. Es wird damit – in Österreich nicht unüblich – neues Verfassungsrecht
geschaffen, um grundsätzliche verfassungsrechtliche Regelungen zu umgehen. (Aus
verfassungspolitischer Sicht widerspricht dies freilich den Intentionen der letzten
Jahre, die Fülle des Verfassungsrechts zu bereinigen.) Andererseits ist aber auch
auffällig, dass das BVG ein zeitliches Ablaufdatum hat. Dies ist ebenso unüblich,
relativiert
aber
damit
auch
die
Umgehung
der
grundsätzlichen
Verfassungsbestimmungen und auch die anlassbezogene Schaffung neuen
Verfassungsrechts.
Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist prinzipiell zu sagen, dass das Gesetz nicht
schlicht verfassungswidrig sein kann, da es ja selbst Verfassungsrecht darstellt. Für
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die Erzeugung von Verfassungsgesetzen ist ein Präsenzquorum von mindestens der
Hälfte der Mitglieder des Nationalrates (Art 44 Abs. 1 B-VG; § 82 Abs. 2 Z 1 GOGNR) und ein Konsensquorum von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen (Art 44
Abs. 1 B-VG; § 82 Abs. 2 Z 1 GOG-NR) notwendig. Das zu beschließende Gesetz
muss ausdrücklich als Verfassungsgesetz gekennzeichnet sein (Art 44 Abs. 1 B-VG;
§ 82 Abs. 4 GOG-NR). Verfassungsgesetze, die die Zuständigkeit der Länder in
Gesetzgebung oder Vollziehung einschränken, bedürfen der Zustimmung des BR
(vgl. Art 44 Abs. 2 B-VG; absolutes Vetorecht).
Allenfalls in Frage käme höchstens, dass das BVG (oder Teile) baugesetzwidrig ist
(sind). Für die Erzeugung von gesamtändernden Verfassungsgesetzen wäre nämlich
zudem eine zwingende Volksabstimmung durchzuführen (Art 44 Abs. 3 B-VG). Eine
solche Volksabstimmung wurde jedoch nicht durchgeführt.
Zu den einzelnen Bestimmungen des Gesetzes lässt sich aus verfassungsrechtlicher
Sicht insbesondere Folgendes sagen:
Nach Art 3 Abs. 1 dieses BVG kann der Bundesminister für Inneres, die Nutzung und
den Umbau von bestehenden Bauwerken oder die Aufstellung beweglicher
Wohneinheiten auf Grundstücken, die im Eigentum des Bundes oder diesem zur
Verfügung stehen, ohne vorheriges Verfahren mit Bescheid anordnen, wenn dem
überwiegende Interessen der Sicherheit, der Gesundheit und des Umweltschutzes
nicht entgegenstehen. Dieser Bescheid ersetzt die nach bundes- und
landesrechtlichen Vorschriften vorgesehenen Bewilligungen, Genehmigungen oder
Anzeigen. Gegen diesen Bescheid ist eine Beschwerde nicht zulässig.
Nach Abs. 2 sollen Bau- und Raumordnungsrecht überhaupt „umgangen“ werden
bzw. soll nach dieser Bestimmung der Bescheid des Bundesministers für Inneres
sämtliche bau- und raumordnungsrechtlichen Bewilligungen ersetzen.
Verfahrensrechtlich dürften sich einige Probleme ergeben, insbesondere im Hinblick
auf die Rolle der Gemeinden und die der Nachbarn: Die zuständige
Bezirksverwaltungsbehörde hat in einem konzentrierten Verfahren zu prüfen, ob das
Vorhaben bundes- oder landesrechtlichen Vorschriften entspricht, bau- oder
raumplanungsrechtliche Vorschriften sind jedoch unbeachtlich.
Der Bescheid nach Abs. 1 muss der Gemeinde nicht einmal zur Kenntnis gebracht
werden, überdies haben Nachbarn keine Parteistellung und können den Bescheid
auch praktisch nicht bekämpfen, zumal keine Beschwerde zulässig ist. Außerdem
muss der Bescheid nach Abs. 8 nur an den Grundstückseigentümer zugestellt
werden.
Dies
erscheint
vor
dem
Hintergrund
der
Europäischen
Menschenrechtskonvention und EU-Grundrechte-Charta problematisch, ebenso wie
die Nichtanwendung aller baurechtlichen Vorschriften (mit Ausnahme des
Brandschutzes); die temporäre Ausschaltung raumplanungsrechtlicher Regelungen
könnte noch unter gewissen Umständen gerechtfertigt sein.
Der Ausschluss des Rechtsweges bzw. die Nichtgewährung der Parteistellung von
Gemeinden und Nachbarn, insbesondere weil Bau- und Raumordnungsrecht quasi
ausgeschalten sind, könnte in das rechtsstaatliche Prinzip eingreifen. Kern des
rechtsstaatlichen Prinzips ist die Bindung der Verwaltung an das Gesetz im Sinne
des Legalitätsprinzips (Art 18 Abs. 1 B-VG), das nach dem formellen
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Rechtsstaatsbegriff schlechthin mit dem Rechtsstaatsprinzip identifiziert wird. Das
rechtsstaatliche Prinzip verlangt auch Rechtsschutzeinrichtungen, um diese Bindung
effektiv gewährleisten zu können. Aus diesem Prinzip leitet auch der VfGH ab, dass
es geordnete Verfahrensabläufe geben muss. Die Maßgeblichkeit der Verfassung sei
ebenso wie die Zuständigkeit des VfGH zur Normenkontrolle ein wesentliches
Element dieses Prinzips.
Letztlich könnte auch das demokratische Prinzip berührt sein, denn laut VfGH „liefe
die Möglichkeit zur Verfassungssuspendierung durch einfaches Verfassungsrecht
darauf hinaus, dem Bundesvolk einen Teil der verfassungsgebenden Gewalt zu
nehmen“ (vgl. VfSlg 16.327/2001).
Für Nachbarn wäre der Rückgriff auf Grundrechte schwierig und problematisch,
zumal die Grundrechte den gleichen Rang wie einfache Verfassungsgesetze haben.
Nachbarn könnten sich eventuell nur über einen Individualantrag auf
Normenkontrolle (Art 140 Abs. 1 Z 1 lit c B-VG) direkt an den VfGH wenden, dies
jedoch nur dann, wenn in einem konkreten Fall baurechtliche Maßnahmen getätigt
werden und sie ihre Interessen mangels Bescheid bzw. Parteistellung nicht geltend
machen können.
An dieser Stelle sei noch angeführt, dass eine Landesregierung ein abstraktes
Normenkontrollverfahren beim VfGH gemäß Art 140 Abs. 1 Z 2 B-VG anstrengen
kann.
Weiters könnte im vorliegenden Fall auch das bundesstaatliche Prinzip tangiert sein,
zumal in die bundesstaatliche Kompetenzverteilung eingegriffen wird. Nach Art 15 BVG ist Baurecht und Raumordnung Landeskompetenz in Gesetzgebung und
Vollziehung. Beide Rechtsmaterien sollen aber im Zuge dieses konzentrierten
Verfahrens nach Art 3 Abs. 5 unbeachtet bleiben und eine baurechtliche bzw.
raumordnungsrechtliche Bewilligung durch einen Bescheid ersetzt werden. Somit
wird die bundesstaatliche Kompetenzverteilung – wenn auch nur punktuell –
durchbrochen.
Wesentlich für einen Bundesstaat ist beispielsweise, dass die Kompetenzen der
Länder gegenüber einer einseitigen Beschränkung seitens des Bundes
verfassungsrechtlich geschützt sind. Verfassungsgesetze, die einen der leitenden
Grundsätze in einem Maß abändern, das als Gesamtänderung der Verfassung zu
qualifizieren ist, sind verfassungswidrig, sofern nicht eine Volksabstimmung gemäß
Art 44 Abs. 3 B-VG stattgefunden hat. Der VfGH prüft Verfassungsrecht am Maßstab
der leitenden Grundprinzipien und kann dieses gegebenenfalls als verfassungswidrig
aufheben („verfassungswidriges Verfassungsrecht“). Fraglich bleibt trotzdem, wann
die Grenze des „einfachen“ Bundesverfassungsgesetzgebers überschritten wird. Ob
ein bloßes „Berühren“ eines der Grundprinzipien der Bundesverfassung eine
Gesamtänderung darstellt oder nicht, bleibt weiterhin nicht eindeutig zu beantworten.
Gegen eine Baugesetzwidrigkeit könnte sprechen, dass das BVG eben auf drei
Jahre nach Art 6 befristet wurde und man argumentieren könnte, dass es sich
aufgrund
des
unkontrollierten
Flüchtlingsstroms
um
eine
befristete
Sondermaßnahme handelt. Ein Gegenargument wäre jedoch, dass dem Bund im
Rahmen des Kompetenztatbestandes „Asyl“ (Art 10 Abs. 1 Z 3 B-VG) jedenfalls die
überörtliche Standortplanung für Betreuungseinrichtungen zur Verfügung steht. Der
Bund hätte schon in den vergangenen Jahren bereits entsprechende Vorsorgen
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treffen können und nicht erst abwarten, bis eine Notsituation entsteht. Er hätte schon
proaktiv agieren können. Daher wird das Argument der Befristung nicht wirklich für
diese Bestimmung sprechen.
Schließlich ist auch noch anzumerken, dass Gemeinden in ihrem Recht auf
Selbstverwaltung verletzt sein könnten; allerdings erscheint der Eingriff nicht so
weitgehend, dass dies eine Gesamtänderung der Bundesverfassung darstellen
würde.
III.
Auf welchen Prinzipien beruht die Kompetenzverteilung zwischen der
Union und den einzelnen Mitgliedsstaaten?
Die Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten beruht auf dem
Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Nach diesem Grundsatz liegt die
Kompetenz – Kompetenz bei den Mitgliedsstaaten, der EU müssen von den
einzelnen Mitgliedsstaaten im Wege der Verträge Kompetenzen zugewiesen werden,
alle anderen Kompetenzen verbleiben den Mitgliedstaaten (Art 5 Abs. 1 und 2 EUV;
so auch der Bereich „Asyl“ – ist in Art 3 Abs. 1 AEUV nicht aufgelistet). Darin wird der
wesentliche Unterschied zu einem Staat gesehen und daraus die mangelnde
Staatsqualität der Union abgeleitet (EU ist ein Staatenverbund); die Mitgliedsstaaten
bleiben „Herren der Verträge“ (jede Kompetenzübertragung bedarf einer Abänderung
der Gründungsverträge und damit der Zustimmung aller Mitgliedsstaaten).
Die EU hat in gewissen Bereichen ausschließliche Kompetenzen (zB im Bereich der
Handelspolitik; vgl. Art 2 Abs. 1 und Art 3 Abs. 1 AEUV), dabei dürfen die
Mitgliedsstaaten nur aufgrund einer speziellen Ermächtigung der Union tätig werden.
Im Großteil der Fälle hat man jedoch mit geteilten Kompetenzen zu tun (zB im
Bereich des Binnenmarktes; vgl. Art 2 Abs. 2 und Art 4 AEUV). Im Bereich der
geteilten Kompetenz können die Mitgliedstaaten von ihren Kompetenzen solange
Gebrauch machen, als nicht die EU tätig geworden ist, weil die Kompetenz der EU
der der Mitgliedstaaten vor geht („Sperrwirkung“).
Die EU verfügt über keinen eigenen „Verwaltungsunterbau“ in den Mitgliedstaaten,
die Organe der Mitgliedsstaaten haben daher dafür zu sorgen, dass unmittelbar
anwendbares Unionsrecht vollzogen wird. Die nationalen Gerichte und
Verwaltungsbehörden unterliegen in dieser Ausübung keinerlei Weisungsgewalt,
wohl aber der Aufsicht der Kommission (vgl. Art 11 B-VG).
Weiters ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip bei der Ausübung aller EU-Kompetenzen
zu beachten (vgl. Art 5 Abs. 4 EUV), demnach dürfen Maßnahmen der EU nicht über
das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinausgehen.
Abschließend sei noch auf das Subsidiaritätsprinzip (eingeführt durch den Vertrag
von Maastricht; vgl. Art 5 Abs. 3 EUV) für alle nicht ausschließlichen Kompetenzen
der EU zu verweisen, wonach die Union in Bereichen, die nicht in ihre
ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig werden kann, sofern und soweit die
Ziele der in Betracht kommenden Maßnahmen auf Unionsebene tatsächlich besser
erreicht werden können als in den einzelnen Mitgliedsstaaten auf zentraler,
regionaler oder lokaler Ebene. An dieser Stelle sei noch kurz zu erwähnen, dass seit
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dem Vertrag von Lissabon (2009) eine „Subsidiaritätskontrolle“ durch die nationalen
Parlamente eingeführt wurde (vgl. Art 23g bis 23h B-VG).
In Grundzügen: Wie verhält sich Unionsrecht zu österreichischem
Verfassungsrecht?
Das gesamte Unionsrecht (primäres wie sekundäres) hat nach der Rechtsprechung
des EuGH (Anwendungs-)Vorrang vor dem gesamten nationalen Recht
einschließlich des nationalen Verfassungsrechts. Das EU-Recht hat laut EuGH
„autonome Geltung“, es bedarf keiner Transformation ins staatliche Recht der
jeweiligen Mitgliedstaaten. Dieser Vorrang gegenüber nationalem Verfassungsrecht
ist in der Rechtsprechung staatlicher Höchstgerichte nicht uneingeschränkt
anerkannt. Laut Judikatur des VfGH ist von einem Vorrang des Unionsrechts
gegenüber Bundesverfassungsrecht auszugehen. Dieser Vorrang gilt jedoch nicht
gegenüber den Grundprinzipien des Bundesverfassung (vgl. Verweis des Art 50 Abs.
4 auf Art 44 Abs. 3 B-VG).
Das Unionsrecht ist auch unmittelbar anwendbar, darunter versteht man, dass
bestimmte Rechtsformen des Unionsrechts direkt an die Rechtsunterworfenen
gerichtet sind. In der Regel trifft das auf Verordnungen sowie Beschlüsse zu. Anders
verhält es sich mit Richtlinien, diese richten sich an die Mitgliedstaaten und müssen
binnen einer gewissen Frist in nationales Recht umgesetzt werden.