Prekarisierung der Lebensverhältnisse Zustände, Entwicklungen und Ursachen Dr. Katrin Mohr, Koordinatorin AK I Soziales, Gesundheit und Rente Die zerrissene Republik Der Paritätische Gesamtverband konstatiert in seinem Jahresgutachten zur sozialen Lage 2015 „Gewinner und Verlierer“ eine „stetig tiefer werdende soziale Spaltung“ und eine Zunahme „sozialer Verwundbarkeit“: „Die Armut ist erneut gestiegen auf inzwischen 15,5 Prozent, die Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt sich oberhalb der Millionengrenze und die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer tiefer - und das alles trotz guter Konjunktur und wachsender Erwerbstätigkeit insgesamt.“ www.linksfraktion.de 2 Zunehmende soziale Spaltung Reichtum: Quote von 6,2% in 1998 auf 8,1% in 2013 gestiegen (BMAS/Basis Mikrozensus) immer höherer Anteil der privaten Einkommen und Gewinne fließt an das reichste Zehntel (böckler-impuls 16/2014) Ungleichheit: Gini-Koeffizient (0=völlige Gleichheit, 1=völlige Ungleichheit) : von 0,686 1998 auf 0,743 in 2012/13 gestiegen (BMAS) Deutschland im europäischen Vergleich das Land mit der höchsten Ungleichheit und Vermögenskonzentration in der Eurozone vermögendstes Zehntel der Bevölkerung verfügt über ein durchschnittliches Vermögen von über 1,15 Mio. €; ärmste 20 Prozent der Bevölkerung haben im Durchschnitt 4.600 € Schulden (Parität) www.linksfraktion.de 3 Zunahme von Armut & sozialer Ausgrenzung Anstieg der Armutsrisikoquote von 14,0% in 2006 auf 15,5% in 2013 • West: 12,7% auf 14,4% • Ost: 19,2% auf 19,8% ca. 7,4 Mio. Menschen beziehen Grundsicherungsleistungen, davon ca. 6 Mio. Hartz IV, knapp 1 Mio. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (hier starke Steigerung um zwei Drittel seit Einführung der Grundsicherung) Dunkelziffer der Armut: ca. 40% (vier von zehn) nehmen zustehende Leistungen nicht in Anspruch Zunahme von Überschuldung (5 auf 7% zwischen 2002 und 2007, seitdem Stagnation auf hohem Niveau, aktuell: 3,89 Mio. Personen) Zunahme von Darlehen im SGB II um 21% innerhalb von 4 Jahren www.linksfraktion.de 4 Besonders von Armut betroffene Gruppen Erwerbslose: 58,7% (Parität) Alleinerziehende: 42,3% (ebd.) Armutsrisikoquote Ost: 5 Prozentpunkte höher als West Armut trotz Arbeit: von 5,8% 1998 auf 7,8% gestiegen (BMAS) Ältere: 15,2%, starke Steigerung in den letzten Jahren (Parität) www.linksfraktion.de 5 Kinder- und Familienarmut Alarmierende Ausmaße (Bertelsmann-Studie): jedes 5. Kind unter 15 J. lebt unter der Armutsgrenze (=2,1 Mio. Kinder) 1,6 Millionen Kindern und Jugendliche im Hartz-IV-Bezug (Parität) In Großstädten besonders hohe Quoten (Bsp. Berlin: jedes 3. Kind unter 15 J. ist auf Hartz IV angewiesen) Völlig unzureichende Regelleistungen, Bildungs- und Teilhabepaket bürokratisch und nicht ausreichend, Anrechnung Elterngeld auf Hartz IV Zunehmende Bedeutung von privaten Bildungs- und Förderangeboten: soziale Schere geht weiter auseinander www.linksfraktion.de 6 Arbeitslosigkeit Offizielle Arbeitslosenquote sinkt (zuletzt: 2,843 Mio., Quote: 6,5%) Aber tatsächliche Arbeitslosigkeit immer noch bei 3,638 Mio. Bei Älteren sogar Zunahme Verfestigte Langzeiterwerbslosigkeit als gravierendes Problem: ca. 1 Mio. Langzeiterwerbslose (> als 12 Monate), betrifft über ein Drittel aller Arbeitslosen insgesamt, im Rechtskreis SGB II die Hälfte. Trotz guter Wirtschaftsentwicklung keine Veränderung 1,3 Millionen Personen in 660.000 Bedarfsgemeinschaften waren von 2005 bis 2012 kontinuierlich im Leistungsbezug (=1/5 aller Leistungsbeziehenden), sind damit dauerhaft arm, sozial ausgegrenzt und dem repressiven Hartz IV-System unterworfen www.linksfraktion.de 7 Erosion der Arbeitslosenversicherung + Kahlschlag in der Arbeitsförderung Nur 32,2% der Erwerbslosen beziehen die Versicherungsleistung ALG I (2005 waren es noch 57%), zwei Drittel sind auf Sozialfürsorge angewiesen. Kahlschlag Arbeitsförderung: Zwischen 2010 und 2014 ging das Ausgabevolumen um drei Milliarden Euro zurück, entspricht etwa 41 Prozent der Mittel. Für die Verwaltung des SGB II wird mittlerweile bereits mehr Geld aufgewandt als für die aktive Förderung der betroffenen Menschen. www.linksfraktion.de 8 Prekäre Alterssicherung Durchschnittliche Rentenzahlbeträge im Rentenzugang 2013: • Männer/West: 786 Euro, Frauen/West: 543 Euro • Männer/Ost: 734 Euro, Frauen/Ost: 688 Euro • Vgl.: durchschnittliches Grundsicherungsniveau 707 Euro Absenkung des Rentenniveaus von ehemals über 53 Prozent (Nettorentenniveau vor Steuern) auf aktuell 47,9 Prozent, bis 2030 auf bis zu 43 Prozent. Gebrochene Erwerbsbiografien und Niedriglöhne Gerade Geringverdienende können keine zusätzliche Altersvorsorge aufbauen Altersarmut wird drastisch zunehmen www.linksfraktion.de 9 Prekäre Gesundheit Ungleiche Gesundheitschancen: Arme haben viermal so häufig gesundheitliche Einschränkungen wie Reiche und eine um 10 Jahre kürzere Lebenserwartung Finanzielle Belastungen: steigende Zuzahlungen und Eigenleistungen, (Praxisgebühr 2004-2012) Überlastung privat Versicherter durch hohe Prämien Mit FQWG 2014: Einfrieren der Arbeitgeberbeiträge, steigende Kosten müssen von Versicherten durch einkommensabhängige Zusatzbeiträge allein getragen werden ab 2016 auf breiter Front zu erwarten: + 0,3%/J. nicht unrealistisch v.a. Kassen mit vielen armen Versicherten werden Zusatzbeiträge erheben müssen; soziale Spaltung wird voran getrieben. www.linksfraktion.de 10 Prekäre Pflege Pflegerisiko sozial stark ungleich verteilt Unzureichende Pflegereformen: weiterhin nur Teilkasko, hohe Kosten (von durchschnittlich 31.000 Euro) bleiben an Pflegefällen oder Angehörigen hängen oder Sozialhilfe Bisher keine Umsetzung neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff: keine Leistungen für Demenzkranke, Gefahr der Verschlechterung für andere Pflegefälle Zu wenig Personal, Überlastung der Pflegebeschäftigten, Pflege nach dem Motto „satt, still und sauber“ www.linksfraktion.de 11 Prekäres Wohnen In Großstädten und Ballungsräumen explodierende Mieten • Bsp. Berlin: Neuvertragsmieten 33% über Mietspiegel, Altbauwohnungen werden zum Luxus, Steigerungen von 17-19% selbst bei kleinen und mittleren Wohnungen in einfachen Lagen, unterdurchschnittliche Mieten nur noch in wenigen, ärmeren Bezirken Steigende Energiekosten Verdrängung aus attraktiven Lagen, Innenstadtlagen Zunahme von Zwangsumzügen in vielen Großstädten rutschen Familien wg. Miete sogar unter Hartz IV-Niveau. Bei armen und armutsgefährdeten Haushalten steigt der Wohnkostenanteil auf 42 bis 52 Prozent (BertelsmannStudie; > als 30% gilt als Wohnarmut). www.linksfraktion.de 12 Prekäre Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu wenig Kita-Plätze (v.a. im Westen), unflexible Öffnungszeiten Zunehmende Flexibilitätsanforderungen seitens der Arbeitgeber (Zunahme von Nacht- und Wochenendarbeit, Überstunden) Zunahme von Zweit- und Drittjobs zunehmende Probleme für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf Bessergestellte können diese teilweise durch Zukauf privater Unterstützung lösen, Geringverdienende nicht www.linksfraktion.de 13 Prekarisierung sozialer Daseinsvorsorge Schließung von öffentlichen Einrichtungen (z.B. Bibliotheken, Jugendzentren) Ausdünnung ÖPNV Verwahrlosung öffentlicher Einrichtungen und Freizeitangebote (z.B. Parks, Spielplätze) Steigende Eintrittspreise (z.B. Schwimmbäder) Steigende Fahrpreise im ÖPNV, oftmals keine ausreichenden sozialen Angebote (z.B. Berlin: Kosten für Sozialticket 36 €; im Regelsatz nur ca. 25 € für Mobilität) www.linksfraktion.de 14 Prekäre Demokratie „Je prekärer die Lebensverhältnisse, desto weniger Menschen gehen wählen“ (Bertelsmann-Studie „Prekäre Wahlen); v.a. Arme und Abgehängte bleiben zu Hause Wahlverhalten der sozialen Milieus driftet auseinander (Unterschied zwischen Wahlkreisen mit höchster und niedrigster Wahlbeteiligung seit 1972 verdreifacht) Bsp. Bremen: Wahlbeteiligung bei der Bürgerschaftswahl am 10.5.2015: armes Bremerhaven-Blumenthal 31%, reiches BremenHorn 77% Mittelschicht doppelt so häufig in Parteien wie Arme, doppelt so hohes Interesse an Politik Auf dem Weg in die Demokratie der Besserverdienenden? www.linksfraktion.de 15 Politik der Prekarisierung Sozialabbau durch alle Regierungen seit Kohl, Verschärfung v.a. mit Schröders Agenda 2010 Abnehmende Wirksamkeit des Sozialstaats: armutsvermeidende Wirkung sozialer Transfers hat seit 2006 um ein Drittel abgenommen Umverteilung von unten nach oben: Absenkung des Spitzensteuersatzes von über 53% unter Kohl auf 42% bzw. 45% unter SPD + Grünen Löhne verlieren gegenüber Gewinnen: Bruttolohnquote: sank von 2000-2007 von 72,7 auf 65%, Erholung auf 69% in 2014 www.linksfraktion.de 16 Das muss drin sein Ein Leben ohne „Furcht und Not“ für alle Mitglieder der Gesellschaft Deshalb brauchen wir starke soziale Sicherungssysteme Eine armutsfeste und sanktionsfreie Mindestsicherung Gute gesundheitliche Versorgung und soziale Infrastruktur Umverteilung Nicht nur eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch des sozialen Zusammenhalts und der Demokratie Denn: Gleichheit ist Glück! In Gesellschaften mit geringer Ungleichheit sind die Menschen glücklicher, gesünder, haben mehr Vertrauen, sind politisch engagierter, es gibt weniger Kriminalität etc (Wilkinson/Pickett 2013: Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind) www.linksfraktion.de 17 Vielen Dank!
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