2. Kapitel
In diesem Kapitel wird Kinderliteratur
für die Jahrgangsstufen 3 und 4 vorgestellt. Theoretisch erfahren Sie
etwas über die „Nachfrageseite“, also
über die Interessen und Präferenzen
der Heranwachsenden, die mit denjenigen der Lehrenden in Einklang gebracht
werden müssen. Auch über die sog.
„Mehrfachadressierung“ wird nachgedacht, und all das ist heute nicht mehr
zu behandeln ohne einen Blick auf
Medienverbundphänomene.
Leitthemen für Kl. 3 / 4
(LP Grundschule in Bayern, Kap. III, S. 155 u. 227)
• Selbstsicherheit gewinnen / Anderen mit
Offenheit begegnen (3)
Johansen: Die Geschichte von der kleinen Gans,
die nicht schnell genug war; Maar/Ballhaus:
Neben mir ist noch Platz; Wölfel: Die grauen
und die grünen Felder
• Vertrauen in die Zukunft entwickeln –
Verantwortung übernehmen (4)
Nöstlinger/Heidelbach: Der neue Pinocchio;
Wölfel: Fliegender Stern; MacLaghlan: Ein Meer
für Sarah
2.1 Klasse 3 / 4
Carlo Collodi: Pinocchio (B,H,F) – Ch.
Nöstlinger/N. Heidelbach:
Der neue Pinocchio
Hanna Johansen:
Die Geschichte von der kleinen Gans, die
nicht schnell genug war (B,H)
Ursula Wölfel:
Fliegender Stern (B,H)
Fünf weiße Eier lagen in
einem Nest. Niemand
konnte sie sehen, weil sie
mit Blättern und weißen
Federn zugedeckt waren. Vor
dem Nest stand eine große
graue Gans. Die schaute
hinein und konnte die Eier
auch nicht sehen.
„Wo habe ich sie versteckt?“
sagte die Gans. Dann setzte
sie sehr vorsichtig einen
großen Fuß vor den anderen,
bis sie die Eier fühlen konnte.
Nachdem sie jedes einzelne
Ei mit dem Schnabel
zurechtgelegt hatte, ließ sie
sich nieder“.
H. Johansen: Die Geschichte von der
kleinen Gans ..., S. 9f.)
... Haben wir viele Male beobachtet, dass die Gans das Gelege mit
Nestmaterial bedeckte, und zwar
so, dass die Daunen und Ästchen
und Blätter einen äußeren Wärmeschutz und gleichzeitig einen
Sichtschutz bilden. Wenn sie
zurückkommt, „weiß“ die Gans
offenbar nicht ganz genau, wo das
Zentrum des sorgfältig verborgenen Nests zu suchen ist. Sie geht
schon mehrere Schritte entfernt
mit immer ´vorsichtigerem
Niedersetzen der Füße (...). Zuerst
findet der Schnabel mit einer
kleinen Wendebewegung die Eier,
dann legt sich die Gans (...) nieder.“
K. Lorenz: Hier bin ich. Wo bist du? Ethologie der
Graugans. Zürich 1988 ..., S. 205.)
Illustration von Käthi Bhend zu Johansen: Die Geschichte von der kleinen Gans …
Illustrationen von Nikolaus Heidelbach zu Nöstlinger, Der neue Pinocchio
Vorschläge für den Unterricht
1. Pinocchio:
• Ästhetische Bildung: Ausgaben und
Illustrationen werden verglichen
• Medien: Verfilmungen werden angesehen
und verglichen /Real-/Animationsfilm)
• Schreiben: Pinocchio Briefe schreiben
(Absender: Gepetto; die Fee; die 4. Klasse
der …Schule)
Vorschläge für den Unterricht
2. Die Geschichte von der kleinen Gans …:
• Sprechen: Im Unterrichtsgespräch wird
(antizipierend) über das „Langsamsein“
gesprochen.
• Schreiben: Die Heldin führt ein Tagebuch.
• Fächerverbindend mit dem Heimat- und
Sachunterricht wird z.B. der „Lebensraum
Wasser“ am Beispiel der Graugänse
besprochen.
Vorschläge für den Unterricht
3. Fliegender Stern:
• Sprechen: Im offenen Unterrichtsgespräch
wird darüber gesprochen, warum die Indianerkinder keine „Schule“ brauchten, bzw. worin ihre
Schule besteht.
• Schreiben: Der „Ich-sah-Tanz“ wird fortgesetzt (vg. S. 104f.)
• Projektunterricht: Die SchülerInnen erwerben
Kenntnisse über die Besiedlung Amerikas und
die Indianerkultur(en); andere Erzähltexte (z.B.
Karl May) können herangezogen werden.
weitere AutorInnen für Kl. 3 / 4:
Erzählungen für Kinder:
Thomas Winding, z.B. Mein kleiner Hund Mister und andere
Tiere (B)
Ursula Wölfel, Die grauen und die grünen Felder (B)
Kinderlyrik: z.B. Bert Brecht
Kinderroman: Jutta Richter, Der Hund mit dem gelben
Herzen (B)
Kirsten Boie, z.B. die Lena-Romane (B,H)
Patricia MacLaghlan, Ein Meer für Sarah (B)
Jo Pestum, Büffelsohn und kleiner Stern (B)
Bilderbuch: Elisabeth Reuter, Judith und Lisa (B)
Paul Maar/ Vera Ballhaus: Neben mir ist noch Platz (B)
Thomas Winding,
Mein kleiner Hund
Mister und andere
Tiere
2.2 Die „Nachfrageseite“:
(Mehrfach)Adressierung in der KJL /
Interessen und Präferenzen der
Heranwachsenden
Clip aus: Die unendliche
Geschichte, BRD 1984,
Regie Wolfgang
Petersen
Texrezeption als Lernen
Schule, Hochschule,
Beruf(sausbildung)
Extrinsische Motivation
(„Pflicht“)
Instrumenelles Lesen
Freizeit/Alltag
„zweckdominante
Unterhaltungslektüre“/gezielte
Informationsbeschaffung
Intimes Lesen
Freizeit (auch
„unkonventionelle
Sachtextlektüre“)
Intrinsische Motivation
(Spannung, Anregung der
Fantasie, Wunschwelt)
Lesen als Partizipation
Schule, Hochschule,
Beruf, Freizeit
(mitreden wollen“)
Kommunikations(bedürfnis),
Lesestoff als Medium sozialer
Teilhabe – „Bildung“
Konzeptlesen
(Realisierung von
Interessen)
Schule, Hochschule,
Beruf, Freizeit
(autodidaktisches
Lernen“)
Interesse an einem Autor/einem
Fach oder Sachzusammenhang/
einer Epoche/ einer Sprache,
Kultur
-“-
Bedürfnis nach kognitiver Herausforderung, Horizonterweiterung und intellekturell „Neuem“
Diskursive Erkenntnis
Ästhetischer Lesemodus
Freizeit
Lesen als „Selbstzweck“:
„ästhetische Erfahrung“
Phasen affektiven „Verstehens“ von Literatur:
Identifikation
Empathie
Rollenübernahme
(vgl. Spinner 1993)
Doppelsinnigkeit und Mehrfachadressierung
(H.H. Ewers)
Beispiele:
Michael Ende: Momo (1973)
Kirsten Boie: Juli tut Gutes (1994)
J.K. Rowling: Harry Potter ... (1997ff.)
Empirische Untersuchungen zu Lektürepräferenzen
von SchülerInnen und z.T. auch LehrerInnen:
Runge 1997 (Weingarten)
Richter 2003 (Erfurt)
Gattermaier 2003 (Regensburg)
Pieper et al. 2004 (Frankfurt/M.)
Urbanek 2005 (Würzburg)
Interessen und Präferenzen der Heranwachsenden
Didaktische Konsequenzen daraus ziehen z.B.:
L.I.S.A. (Keuchel/Gansel Hrsg.) 2002
Hurrelmann 2002
Ossner/Rosebrock/Pieper (CD-Rom) 2002
Nickel-Bacon 2003
Frey 2003
Härle/Weinkauff (Hrsg.) 2005
Medienverbundphänomene
Die Basis dafür sind Medienadaptionen - Bearbeitungen bzw.
Übernahmen von Stoffen bzw. Geschichten aus einem Medium in ein
anderes. Diese Entwicklung hält schon fast 100 Jahre an - seit der
Erfindung des Films nämlich.
Neu sind aber Medienverbundangebote, wie sie auch für Erwachsene
produziert werden: Zu neueren Kinderfilmen wie etwa "Pünktchen
und Anton" werden die Soundtracks auf CD angeboten und von den
jungen Hörer/-innen genutzt, um ein Kinoerlebnis zu reaktivieren
Am Beispiel Harry Potter (Roman, Film, Hörbuch, Computerspiel,
Brille, Screensaver, Spielfiguren, div. Fanartikel ...) entwickelt
Ewers (2006) ein neues Verständnis des Phänomens:
• Es geht nicht mehr um einen "Ausgangstext", der nachfolgend eine
Kette medialer Adaptionen durchläuft, sondern um ein
Zusammenwirken verschiedener Medien - auch der "Traditionsmedien", aus dem ein völlig neues Hypermedia-Genre entsteht.
• Es entstehen "transmediale Geschichten", die stofflich und
strukturell viel gemein haben mit den großen Epen des Mittelalters:
wie diese sind sie unabschließbar, offen und auf Fortsetzung angelegt.
• Stofflich sind solche Angebote eingeschränkt auf das, was in allen
Medien darstellbar ist: Szenerien, äußere Ereignisse, Charaktere
(Protagonisten/ Antagonisten), was eine gewisse Nähe zur
traditionellen Erzählkunst bedingt.
• Auch die ökonomische Vorgabe der Übertragbarkeit in viele Sprachen
und Kulturen erlegt diesen Narrationen Einschränkungen auf: allzu
kulturgebundene Stoffe und/oder Genres werden gemieden,
Hypermedia-Erzählungen tendieren zur fantastischen statt
realistischen Erzählung und zu einem Genremix.
• Der Unübersichtlichkeit solcher Narrationen begegnet man durch
"Begleitliteratur zweiten Grades", die die Stoffwelten ordnet und
systematisiert: Lexika, Enzyklopädien und Sachbücher, Figurengalerien mit Lebensgeschichten, fingierte Tagebücher usw..
Medienverbundphänomene können zwar marktstrategisch geplant
werden. Aber ob sie ein Erfolg sind, entscheiden die Rezipient/innen
bzw. Konsument/-innen. Über sie sagt Ewers (2006):
• Medienverbundangebote zielen auf Rezipient/-innen, die alle
medialen Versionen sehen/hören/lesen/spielen und sich dabei zu
"Experten" entwickeln.
• Begleitliteratur aller Art unterstützt dieses Expertentum.
• Auch making-of-Bonusmaterial auf DVDs und Information über die
Schauspieler/-innen ordnet sich diesem Zweck unter.
• Die einzelnen medialen Versionen werden - anders als etwa bei der
Literaturverfilmung - nicht als eigenständig betrachtet, sondern
an einem "Leitmedium" gemessen - das kann, muss aber nicht die
Buchfassung sein.
• Die multimediale Präsenz solcher Narrationen ermöglicht die
Rezeption von des Stoffes auch in buchfernen Alltagssituationen,
und es entwickelt sich eine neuartige "vielgestaltige
Wiederholungsrezeption".
Literatur zu Kap. 2
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Ewers, Hans-Heino: Die Heldensagen der Gegenwart. Die Medien-verbundangebote sind die großen Narrationen unserer Zeit. In: Garbe, Christine/
Philipp, Maik (Hrsg.): Harry Potter – ein Literatur- und Medienereignis im
Blickpunkt interdisziplinärer Forschung. Münster: LIT 2006, S. 297-311.
Frederking, Volker/ Josting, Petra (Hrsg.) (2004): Medienintegration und
Medienverbund im Deutschunterricht. Theorie und Praxis. Baltmannsweiler:
Schneider. Ewers, Hans-Heino: Das doppelsinnige Kinderbuch. Erwachsene als
Mitleser und Leser von Kinderliteratur. In: Grenz (Hrsg.) 1990, 15-24.
Gattermaier, Klaus: Lesesozialisation und Literaturunterricht. Eine empirische
Untersuchung zum Lese- und Medienverhalten von Schülern und zur
lesesozialisatorischen Wirkung ihrer Deutschlehrer. Regensburg, Edition
Vulpes 2003.
Josting, Petra/ Maiwald, Klaus (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur im
Medienverbund. Grundlagen, Beispiele und Ansätze für den Deutsch
unterricht. München: Kopäd 2007; Kjl & m extra ; [20]07
Pieper, Irene/ Cornelia Rosebrock/ Heike Wirthwein/ Steffen Volz (Hrsg.):
Lesesozialisation in schriftfernen Lebenswelten. Lektüre und Mediengebrauch
von HauptschülerInnen. München: Juventa 2004.