Veranstaltungsbericht - Bundesstiftung zur Aufarbeitung

Veranstaltungsbericht
Die Oktoberrevolution – ihre Vorgeschichte und Verlauf. Öffentlicher Vortrag
26. Januar 2016 | 18 Uhr | Bundesstiftung Aufarbeitung, Kronenstraße 5, 10117 Berlin
Am 26. Januar 2016 eröffnete die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ihre neue Vortragsreihe
„Talking About a Revolution! Die Oktoberrevolution: Geschichte – Instrumentalisierung – Rezeption“, die sie
zusammen mit dem Lehrstuhl für die Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin und dem
Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung ins Leben gerufen hat. Im Vorfeld des 100. Jahrestages der
Oktoberrevolution von 1917 nimmt die zehnteilige Reihe die realgeschichtlichen Ereignisse und Folgen der
Revolution aus verschiedenen Perspektiven in den Blick. Darüber hinaus sollen die gewachsenen Geschichtsbilder des kommunistischen Umsturzes kritisch hinterfragt werden, wie Dr. Nikolas Dörr, Projektkoordinator
„Aufarbeitung des Kommunismus“ bei der Bundesstiftung Aufarbeitung, in seiner Einführung betonte. Das
Jubiläum biete die Chance, sich mit der Oktoberrevolution und ihren globalen Folgen auseinanderzusetzen und
das vorherrschende, diffuse Bild des Kommunismus zu präzisieren. Die Unbestimmtheit und das mangelnde
Wissen in Bezug auf die kommunistische Bewegung und die kommunistischen Diktaturen habe auch dazu geführt, dass deren Opfer bisher keinen angemessenen Platz in der Erinnerungskultur erhalten hätten. Zudem
stünden viele postkommunistische Staaten noch am Anfang der Aufarbeitung ihrer kommunistischen Vergangenheit. Eine Debatte über den Kommunismus im 20. Jahrhundert sei deshalb notwendig, die Bundesstiftung
Aufarbeitung biete dieser Debatte mit einem neuen Schwerpunkt Kommunismusgeschichte Raum.
Prof. Dr. Jörg Baberowski, Lehrstuhlinhaber für die Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu
Berlin und Mitorganisator der Vortragsreihe, referierte in seinem Eröffnungsvortrag über die Vorgeschichte
und den Verlauf der Oktoberrevolution. Dabei wolle er „mehr über Russland und weniger über den Kommunismus“ sprechen, sagte er eingangs. Baberowski reflektierte zunächst über den Standpunkt des Historikers
und betonte, dass die Ereignisse 1917 nicht von ihrem Ende her gedacht werden dürften, sondern bedacht
werden müsse, dass die Entwicklungen nicht zwangsläufig gewesen seien. Um die Handlungsmöglichkeiten der
Menschen zu beschreiben und letztlich die tatsächlichen Handlungen rekonstruieren zu können, müsse auch
der Erfahrungshintergrund der Akteure mit einbezogen werden.
Baberowski skizzierte die wichtigsten Eckdaten der Vorgeschichte der Revolution: Russland sei ein Vielvölkerstaat gewesen, der durch die Dynastie der Romanows zusammengehalten worden sei. Für die russische Elite sei
seit dem 18. Jahrhundert Europa das Vorbild gewesen und sie habe versucht, das Zarenreich nach westeuropäischen Maßstäben zu reformieren. Mitte des 19. Jahrhundert seien erstmals Adelige und gebildete Aufsteiger an
der Verwaltung beteiligt worden. Doch Russland sei ein „Raum sozialer und kultureller Apartheid“ geblieben.
Die Autokratie des Zaren sei zwar Motor der Modernisierung, aber zugleich auch Ursache für Kritik und Krise
gewesen. Gerade das Streben nach der Vereinheitlichung des Imperiums habe separatistische Bewegungen
erzeugt und lokale Eliten gegen das Zentrum aufgebracht.
Dann wandte sich der Historiker der Revolution von 1905 zu. Er führte aus, dass es dem Regime damals gelungen sei, die Revolte niederzuschlagen, weil die Autokratie es schaffte, die eigenen Gegner gegeneinander aufzubringen und auszuspielen. So löste der Zar die Liberalen aus der Opposition, indem er ihnen Zugeständnisse
machte: Ein mit begrenzten Kompetenzen ausgestattetes Parlament wurde eröffnet und eine Verfassung verabschiedet. Deshalb habe sich die liberale Elite auf die Seite des Regimes geschlagen und somit die Opposition
geschwächt. Der Einsatz der Armee half außerdem, die Ordnung wieder herzustellen.
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Im Jahr 1917 sei die Autokratie jedoch vor allem aufgrund des Ersten Weltkrieges den Belastungen nicht mehr
gewachsen gewesen, „der Krieg offenbarte die Schwäche des russischen Staates“, so Baberowski. Hier seien
bereits die Ursprünge von ethnischen Säuberungen und Kommandowirtschaft zu finden, die später unter Stalin
exzessiv weitergeführt wurden. Auf ihrem Rückzug habe die Armee im eigenen Land nur „verbrannte Erde“
hinterlassen. Die katastrophale Situation der Wirtschaft, mangelnde Versorgung sowie Vertreibungen der Bevölkerung seien maßgeblich dafür verantwortlich gewesen, dass nicht nur das gesellschaftliche Klima vergiftet,
sondern auch die Macht des Regimes untergraben worden sei. So habe die zivile Regierung die Kontrolle über
das Geschehen an der Front verloren und die Autokratie „zum ersten Mal einen Offenbarungseid leisten“ müssen. Vorher habe sie sich vor allem über die Fähigkeit legitimiert, das Imperium organisieren zu können. Unter
den Bedingungen des Weltkriegs war diese Behauptung nicht mehr aufrecht zu erhalten.
In diesem Machtvakuum begann die Revolution Ende Februar 1917 mit Protesten von Petrograder Frauen gegen die steigenden Brotpreise und für den Frieden, der sich schnell über die Stadt hinaus sowie auf weitere
gesellschaftliche Kreise ausgebreitet habe. Liberale Abgeordnete der Duma formierten eine provisorische Regierung, gleichzeitig bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte. Diese Doppelherrschaft sei – wie es Baberowski
formulierte – symptomatisch für die soziale Zerrissenheit des Landes gewesen und zeige gleichzeitig das Spektrum der Möglichkeiten auf. Auch die Revolutionäre seien „nur Getriebene im Strom der revolutionären Ereignisse“ gewesen. Im Laufe des Jahres 1917 sei das Imperium in Chaos und Anarchie versunken, Soldaten seien
massenweise desertiert, „die Waffen befanden sich in den Händen von Jedermann“. Während die liberale Bewegung die alte Ordnung nicht durch eine Neue habe ersetzen können, hätten die Bolschewiki unter Führung
Lenins die Situation mit Entschlossenheit und Durchsetzungskraft zu ihrem Vorteil genutzt. Lenin und seine
Anhänger hätten die Schalthebel der Macht im Oktober 1917 erobert, als sich die Machtchancen fundamental
verschoben hatten. Innerhalb von Tagen sei die Welt des russischen Adels und des Bürgertums sowie die Autokratie verschwunden. Für die Bolschewiki um Lenin habe sich die Festigung der Macht und der Aufbau einer
neuen Ordnung jedoch als schwierig dargestellt, denn die alten Eliten etwa in der Ministerialbürokratie seien
nicht zur Kooperation bereit gewesen. Die neuen Machthaber seien deshalb mit äußerster Entschlossenheit
und Gewalt vorgegangen. „Nicht aus Stärke, sondern aus Schwäche terrorisierten die Bolschewiki ihre Gegner“,
erklärte Jörg Baberowski.
Der Zerfall des Staates habe schließlich 1918 einen Bürgerkrieg entfesselt, den der Historiker als „entgrenzt“
und eine „Abfolge von verheerenden Pogromen“ beschrieb. Mehrere Dutzend Parteien hätten einen Kampf um
Menschen und Ressourcen geführt und die russische Welt auf den Kopf gestellt. Darin lägen weitere Ursprünge
des stalinistischen Terrors: Die Kultur des Misstrauens und der Gewalt, die sich im Bürgerkrieg entfaltet habe,
habe die Menschen geprägt und sei Basis der autoritären und totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts.
Jörg Baberowski resümierte, dass die Oktoberrevolution das alte Russland zerstört habe und der Beginn einer
neuen Ära gewesen sei. Die Bolschewiki hätten ihre Vorstellungen einer neuen Welt und eines neuen Menschen rücksichtslos ins Werk gesetzt und den „organisierten Mord zur Herrschaftstechnik“ erhoben. Bereits in
der Revolution und den unmittelbaren Entwicklungen danach hätten sich alle Charakteristika der späteren
stalinistischen Herrschaft gezeigt. Die Oktoberrevolution sei außerdem – dies dürfe nicht vergessen werden –
die Geburtsstunde der kommunistischen Bewegung über die Grenzen Russlands hinaus. Von der „bolschewistischen Verheißung“ sei eine „Sogwirkung“ ausgegangen. Gleichzeitig habe sie aber eine Furcht vor dem Terror
in Europa verbreitet. Besonders die völkische Bewegung habe diese Furcht genutzt, um die eigenen Ziele voranzutreiben. Der Historiker schloss mit der Feststellung, dass das 20. Jahrhundert als „sowjetisches Jahrhundert“ bezeichnet werden müsse, denn alle Versuche, Gesellschaften sozial zu ordnen, seien in der ein oder
anderen Weise eine Antwort auf die Oktoberrevolution gewesen.
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In dem sich anschließenden Gespräch mit dem Leiter des Arbeitsbereichs Wissenschaft und Internationale
Zusammenarbeit der Bundesstiftung Aufarbeitung Dr. Ulrich Mählert wurden einige Gedanken aus dem Vortrag
vertieft. Welche Rolle hätten die Ideologie und die politischen Überzeugungen bei den Bolschewiki gespielt,
fragte Mählert den Historiker. Jörg Baberowski betonte die Bedeutung der politischen Ideologie, mit der die
Bolschewiki den Marxismus auf ein rückständiges Land übertrugen. Ihr Programm hätten sie jedoch erst nach
der blutigen Machtsicherung in den 1920er Jahren ins Werk gesetzt. In der unmittelbaren Phase nach der Oktoberrevolution hätten beispielsweise die Kommunikationsmöglichkeiten gefehlt. Die Vorstellungen darüber,
was der Sozialismus sein solle, seien jedoch auch dann noch eher diffus gewesen. Das Vorgehen der Bolschewiki sei ein Experimentieren gewesen. Die eine, geschlossene Ideologie habe es dabei anfangs nicht gegeben,
diese sei erst im Geschehen entstanden und habe sich langsam ausgeformt.
Ulrich Mählert fragte daraufhin, wie die Größe der bolschewistischen Bewegung 1917–19 einzuschätzen sei.
Jörg Baberowski sprach von mehreren Hundert Anhängern in Petrograd und in Moskau, landesweit seien es
wohl Zehntausende gewesen. Darunter seien aber auch viele Mitläufer und „Karrieristen“ gewesen. Auch hier
betonte der Historiker, dass es „die“ Bolschewiki als einheitliche Bewegung nicht gegeben habe. Deshalb habe
Lenin auch die gebildeten Räte weitgehend ignoriert und eigene Leute aus seiner Partei etwa in die Ministerien
entsandt, um dort sukzessive einen Elitenwechsel einzuleiten. Am Anfang sei dies schwierig gewesen, da die
Folgebereitschaft in den Ministerien und Verwaltungen gering gewesen sei. Auch hier habe die Durchsetzung
des Machtanspruchs mit Gewalt eine große Rolle gespielt. Die Machtfrage hätten die Bolschewiki jedoch erst
nach etwa zehn Jahren in ihrem Sinne klären können.
Warum haben sich gerade die Bolschewiki durchsetzen können, wurde Jörg Baberowski daraufhin gefragt. Er
führte aus, dass sie es geschafft hätten, mit äußerster Entschlossenheit und Durchsetzungsstärke die Macht zu
erobern und die Wut der Bevölkerung zu artikulieren. Mit einer „Mischung aus genialer Machttaktik und dem
Schwimmen auf dem Strom der Unzufriedenheiten“ hätten sie das Machtvakuum zu eigenen Gunsten ausgenutzt. Die gemäßigten Sozialisten hätten sich durch ihre Beteiligung an der provisorischen Regierung an Recht
und Gesetz gebunden, das aber im Sommer 1917 schon außer Kraft gesetzt war. Nach der Revolution, in den
1920er Jahren, habe Lenin dann mit der Neuen Ökonomischen Politik einen pragmatischen Kurs eingeschlagen,
um nach den Schrecken des Bürgerkrieges dem wirtschaftlichen Niedergang und der Unzufriedenheit der Bevölkerung entgegenzutreten. Stalins gegensätzliche Strategie, die er mit dem Beginn der Kollektivierung der
Landwirtschaft Ende der 1920er Jahre einleitete, sei indes fatal gewesen.
Zum Ende der Veranstaltung lenkte Ulrich Mählert das Gespräch auf die Rolle der bekannten historischen Figuren – Lenin, Stalin oder Trotzki – und ihre Rolle in der Revolution. Baberowski ging in seiner Antwort vor allem
auf Lenin ein, ohne dessen Radikalismus der Verlauf der Oktoberrevolution wahrscheinlich anders ausgesehen
hätte. Stalins Rolle dürfe weder über- noch unterschätzt werden. Gerade in der bolschewistischen Bewegung
seien Figuren wie Lenin, Trotzki und Stalin mit ihrem Auftreten und Charisma zur Mobilisierung wichtig gewesen.
Andrea Bahr
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