Institut für Erziehungswissenschaft «Vom Mangel zum Überfluss und wieder zurück – Bedarfszyklen im Lehrberuf» Referat an der Tagung «Der Quereinstieg in den Lehrberuf. Eine Antwort auf den Lehrerinnen- und Lehrermangel?» Pädagogischen Hochschule, Zürich 06.11.2015 Prof. Dr. Lucien Criblez © Prof. Dr. Lucien Criblez, Historische Bildungsforschung und Steuerung des Bildungssystems «Kindergärtnerin nach dreitätiger Schnellbleiche» (NZZ am Sonntag, 16.8.2015, S. 11) «Es gelingt seit 1953 [im Kanton Bern; Anm. LC] nicht mehr, alle Stellen mit patentierten Lehrkräften zu besetzen. Im Wintersemester 1963/64 waren über 250 Stellen ausserordentlich besetzt, davon rund ¼ mit Pensionierten und Pensionsberechtigten, ¼ mit nicht definitiv wählbaren Hilfskräften und schliesslich die restliche Hälfte durch Seminarschüler im Einsatz» (Schläppi, 1964, S. 1). 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez Seite 2 Übersicht 1. Einleitung 2. Lehrerinnen- und Lehrermangel ohne Grenzen 3. Massnahmen und ihre Effekte 4. Vom Mangel zum Überfluss 5. Bedarfszyklen im Lehrberuf, politische Steuerung und Professionalisierung - ein Ausblick 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez Seite 3 1. Einleitung Das Phänomen Lehrerinnen- und Lehrermangel: zeitliche Eingrenzung - Beginn: 2. Hälfte der 1940er-Jahren - Ende: um 1975 -> schneller Umbruch zu Lehrerarbeitslosigkeit - sich zuspitzend und generalisierend in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren Reaktionen der Erziehungsdirektionen auf den Lehrermangel Eingangszitat: aus einem Bericht des Berner Schulinspektors Schläppi; Berichte zu Mangel häufen sich ab Mitte der 1950er-Jahre (vgl. auch Hodel, 2005, S. 283ff.); Zuspitzung in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren Staatliche Stellen, insbesondere die aufkommende Bildungsplanung, kümmern sich darum, weil der Lehrberuf bzw. die Schule und die Lehrerinnen- und Lehrerbildung staatlich monopolisiert sind. 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez Seite 4 Bildungsplanung und Bildungsprognosen „Für die Lösung [...] komplexer Probleme pflegt man in Wirtschaft und Technik die Dienste der einschlägigen Wissenschaften zu nutzen. Im Bereich der Schule glaubte man auf diese Dienste verzichten zu können, solange Tradition und Intuition als wichtigste Säulen der Bildungs- und Erziehungsarbeit betrachtet wurden. Wenn es allerdings um die Gestaltung eines Bildungs-wesens geht, welches auf die Anforderungen der unmittelbaren und absehbaren Zukunft ausgerichtet ist, wird man sich den Verzicht auf diese Unterstützung nicht mehr leisten können“ (Bruppacher, 1973, S. 461). 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez Seite 5 Bildungsplanung Grundlage für eine „rationale Bildungspolitik“ (Widmaier, 1966) Vertrauen in Planbarkeit „Die Zukunft ist errechenbar“ (Stettler, 1994). „Planung verlangt Übersicht, Einsicht und Voraussicht. Wie anders als durch Forschung kann diese Voraussetzung geschaffen werden?“ (Edding, 1964, S. 45). Lehrerbedarfsplanung - bildungsökonomische Rechnungsmodelle (Reichhold, 1967, 1971) - verwaltungsnahe Planungsberichte (u.a.: Aerni, 1968; Oertel, 1975; Pfenninger, 1972; Schläppi, 1964, 1970; Schwarz, 1965; Tuggener, 1963) 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez Seite 6 2. Lehrerinnen- und Lehrermangel ohne Grenzen Erscheinungsweise des Phänomens Lehrerinnen/Lehrermangel - zunehmend Klassen am Schuljahresbeginn ohne Klassenlehrpersonen - keine Stellvertreterinnen und Stellvertreter - deutlicher ausgeprägt in Landgemeinden als in Stadt- und Agglomerationsgemeinde - deutlicher ausgeprägt in grossen als in kleinen und mittleren Kantonen (Mangel an Primarlehrern, 1961, S. 127) - zunächst Volksschullehrpersonen, dann Generalisierung des Phänomens (Expansion der Gymnasien; Generalisierung des Kindergartens) - Mangel in traditionellen Frauenlehrberufen (Kindergarten, Handarbeit, Hauswirtschaft) zunächst geringer als für die Volkssschule 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez Seite 7 Ursachen des Lehrerinnen- und Lehrermangels (1) Demographie - Geburtenwachstum Anfang 1940er- bis Anfang 1970er-Jahre mit kurzem Rückgang Ende 1940-/Anfang 1950er-Jahre - Zuwanderung (-> Familiennachzug -> fremdsprachige Kinder) Wirtschaftssituation und Nachwuchsmangel - Boomende Wirtschaft -> grosser Nachwuchsmangel ->Wechsel von Lehrerinnen und Lehrern in die Privatwirtschaft (Vollbeschäftigung in den 1960er-Jahren) - Öffnung der Gymnasien und der Hochschulen -> Drang in die Gymnasien -> sinkendes Potential für Lehrerbildung - attraktive alternative Ausbildungsangebote im wachsenden tertiären Bildungsbereich - Aufstieg im Lehrberuf: Primarlehrer -> Sekundarlehrer -> Gymnasiallehrer; v.a. von männlichen Mittelstufenlehrern (Schneider & Singer, 1972) 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez Seite 8 Ursachen des Lehrerinnen- und Lehrermangels (2) Anstellungs- und Arbeitsbedingungen (Stellung in der «impliziten Hierarchie» der Berufe) - im Vergleich: eher geringes Lohnniveau - Ausbildungsdauer: Versuche zur Verlängerung der Primarlehrerausbildung auf 5 Jahre gescheitert - Ausbildungsniveau: Problem des seminaristischen Ausbildungsweges (Sekundarstufe II) - Hohe (und konstante) Anzahl Pflichtlektionen - Fehlende Weiterbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten -> Insgesamt: Attraktivitätsproblem 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez Seite 9 Ursachen des Lehrerinnen- und Lehrermangels (3) Entwicklungen innerhalb des Schulsystems - Schulpflichtverlängerung: 7/8 -> 9 Jahre - sinkende Klassengrössen, allerdings während des Lehrerinnen- und Lehrermangels verlangsamt, während des Lehrerinnen- und Lehrerüberflusses ab 1975: schnell weiter sinkend quasi auf heutiges Niveau (durchschnittlich 19/20 Schülerinnen und Schüler pro Klasse) Lehrerbildung Beschränkung der Absolventenzahlen, teilweise Numerus Clausus - aus finanziellen Gründen - aus infrastrukturellen Gründen (fehlender Schulraum, fehlende Praktikumsstellen …) 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez Seite 10 3. Massnahmen und ihre Effekte Lehrerinnen- und Lehrermangel als Schlüsselproblem beim Nachwuchsmangel «Mangelt es nämlich an guten Lehrern, so ist der Erfolg noch so intensiver Bemühungen, um für andere qualifizierte Berufe den nötigen Nachwuchs heranzubilden, von vornherein in Frage gestellt. Es ist ein ziemlich eitles Unterfangen, Positionen attraktiv zu gestalten, wenn die Lehrer fehlen, um junge Leute in den erforderlichen Kenntnissen auszubilden und sie für die entsprechende Arbeit vorzubereiten. [...]. Die Lehrer kommen noch vor dem Kader der Wirtschaft, da sie es nämlich heranzubilden haben» (Tschudi, 1963, S. 1062). 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez Seite 11 Massnahmen institutionell - - - Kapazitätserweiterung an den Seminaren (Überdotierung der Klassen, neue Parallelklassen) Neugründungen, Dezentralisierung von Institutionen der Lehrerinnen- und Lehrerbildung, u.a. - 10 Lehrerinnen- und Lehrerseminare 1962 bis 1972 - 12 Kindergärtnerinnenseminare 1952 bis 1975 Neue spezielle Ausbildungsgänge für Reallehrerinnen und Reallehrer 6 Neugründungen zwischen 1959 und 1984 „Quereinsteiger“modelle 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez Seite 12 Neugründung von Ausbildungsinstitutionen für Primarlehrkräfte Gründungs- Institution, Ort und Kanton jahr 1962 Seminar Langenthal (BE; zunächst als Filiale des Seminars Hofwil) 1963 Seminar Biel (BE; zunächst als Filiale des Seminars Thun) 1963 Seminarabteilung der Kantonsschule Sargans 1965 Trägerschaft kantonal kantonal kantonal kantonal 1966 Seminar Zofingen (als Zweigschule des Seminars Wettingen); seit 1976: Höhere Pädagogische Lehranstalt Zofingen Kantonales Lehrerseminar Luzern (1997 mit dem städtischen Lehrerseminar Luzern fusioniert) Seminar Wohlen (als Zweigschule des Seminars Aarau); seit 1976: Höhere Pädagogische Lehranstalt Zofingen Lehrerseminar Liestal 1970 Seminarabteilung der Kantonsschule Wattwil kantonal 1972 Seminar Spiez (zunächst als Filiale des Seminars Thun) kantonal 1975 Seminarabteilung der Kantonsschule Heerbrugg kantonal 1966 1966 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez kantonal kantonal kantonal Seite 13 Neugründung von Kindergärtnerinnenseminaren Gründungs- Institution, Ort, Kanton jahr 1952 Evangelisches Kindergärtnerinnen-Seminar Zürich Trägerschaft privat 1953 Kindergärtnerinnenausbildung am kantonalen Lehrerseminar Solothurn kantonal 1960 1967 Kantonales Kindergärtnerinnen-Seminar Brugg (AG) Städtisches Kindergartenseminar Luzern; 1997 mit dem kantonalen Kindergartenseminar Bellerive fusioniert Kantonales Kindergärtnerinnenseminar Bellerive Luzern Kantonales Kindergärtnerinnenseminar Spiez (BE) Staatliches Kindergärtnerinnenseminar Biel (BE) Staatliches Kindergärtnerinnen-Seminar Liestal (BL) Kantonales Kindergartenseminar Freiburg Kindergartenseminar der Kantonsschule Schaffhausen Kindergärtnerinnenausbildung am Institut St. Ursula Brig (VS) Kindergärtnerinnenseminar Amriswil (TG) kantonal kommunal 1970 1971 1971 1971 1973 1974 1974 1975 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez kantonal kantonal kantonal kantonal kantonal kantonal Privat kommunal, ab 1995 kantonal Seite 14 Quereinsteigermodelle: 3 Modelle Kurse für Maturi und Maturae - Halbjährige oder einjährige Kurse - Eigentlich kein Quereinsteigermodell, sondern Trennung von Allgemeinbildung und Berufsbildung im Sinne eines maturitätsgebundenen Ausbildungsweges (Vorbilder: BaselStadt, Zürich) Kurse für Berufsleute - 2 bis 2,5jährige Kurse - «klassisches» Quereinsteigermodell, aber auch Variante: Vorkurs und Integration in maturitätsgebundenes Konzept (Basel-Stadt) Kurse für Kindergärtnerinnen, Arbeitslehrerinnen … Weiterbildungsmodell (auch für Reallehrerinnen und -lehrer) 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez Seite 15 erster Sonderkurs 1948 1953 1955 Kanton und Seminar Art des Kurses, Dauer Städtisches Lehrerinnen- Kurs für Maturae, einjährig seminar Marzili, Bern Oberseminar Bern zweijähriger Sonderkurs für Berufsleute 1956 Seminar Rorschach, St. Gallen Sekundarlehramt Universität Zürich Lehrerseminar Rickenbach (SZ) Seminar Solothurn 1956 Seminar Wettingen (AG) Kurs für Berufsleute, zweijährig 1959 Oberseminar Zürich 1954 1956 Kurs für Maturi und Maturae, halbjährig; Zulassung von Kindergärtnerinnen und Arbeitslehrerinnen einjähriger Umschulungskurs für Akademiker auf das Sekundarlehramt dreimonatiger Kurs für patentierte Kindergärtnerinnen; Lehrberechtigung: Unterstufe der Primarschule Kurs für Maturi und Maturae, halbjährig 1960 zweijähriger Kurs für Berufsleute; vorangehender zehnwöchiger Abendkurs Seminar Basel Kurs für Berufsleute, neunmonatiger Vorkurs berufsbegleitend (4 Abende pro Woche), anschliessend: Aufnahme in die reguläre zweijährige Ausbildung Seminar Wettingen (AG) Kurs für Maturi und Maturae, einjährig 1961 Seminar Hitzkirch (LU) zweijähriger Sonderkurs für Berufsleute 1961 Seminar Solothurn 2,5-jähriger Kurs für Berufsleute, 5-monatiger Vorkurs, zweijähriger Hauptkurs 1959 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez Seite 16 Weitere Massnahmen - - Einsatz von Seminaristen und Seminaristinnen («Landeinsatz») Beizug von Pensionierten - Erhöhung des Pensionsalters - Aufhebung des Verbots des Doppelverdienertums - vermehrte Rekrutierung von Frauen in den Lehrberuf - Förderung von Wiedereinsteigerinnen - Erleichterung der formalen Zugangsbedingungen zur Ausbildung Unterrichtsverpflichtung nach der Ausbildung Erleichterung der Wählbarkeit für Ausserkantonale Stipendien - 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez Seite 17 Quantitative Effekte (1) (Daten: LC) Ausbildung von Primarlehrkräften: Patentierungen im Raum der EDK-Ost, 19511999 Anzahl Patente (gestapelt) 1200 1000 ZH 800 TG SH 600 SG 400 GR 200 19 99 19 96 19 93 19 90 19 87 19 84 19 81 19 78 19 75 19 72 19 69 19 66 19 63 19 60 19 57 19 54 19 51 0 Patentierungsjahre Anzahl Patentierungen von Primarlehrkräften im Raum der EDK-Ost (Kantone Graubünden [GR],St. Gallen [SG], Schaffhausen [SH], Thurgau [TG] und Zürich [ZH]), 1951-1999 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez Seite 18 Quantitative Effekte (2) (Daten: LC) Ausbildung von Sekundarlehrkräften: Patentierungen in der deutschsprachigen Schweiz (ohne FR), 1951-1999 450 Anzahl Patente (gestapelt) 400 350 ZH 300 SG 250 BS 200 BE 150 AG 100 50 19 99 19 96 19 93 19 90 19 87 19 84 19 81 19 78 19 75 19 72 19 69 19 66 19 63 19 60 19 57 19 54 19 51 0 Patentierungsjahre Anzahl Patentierungen von Sekundarlehrkräften in der deutschsprachigen Schweiz, ohne Freiburg (FR) (Kantone Aargau [AG], Bern [BE], BaselStadt [BS], St.Gallen [SG] und Zürich [ZH], 1951-2000 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez Seite 19 5. Vom Mangel zum Überfluss «Im Frühling 1976 fanden einige hundert Neupatentierte [im Kanton Bern; Anm. LC] keine Lehrstelle. Bei einer Umfrage der Erziehungsdirektion im Oktober konnten noch 140 stellenlose Primarlehrer erfasst werden, von denen zwei Drittel in Stellvertretungen beschäftigt und nur 10% ganz arbeitslos waren. Auf den Sommer 1977 erwarten wir ungefähr 500 Stellenlose, drei Viertel davon Primarlehrer» (Schweizerische Lehrerzeitung, 1977, S. 483). Rascher Übergang vom Mangel zum Überfluss an Lehrkräften in der Mitte der 1970er-Jahre im Zuge der Ölschocks 1973 und 1975 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez Seite 20 Massnahmen - Rascher «Rückbau» aller zur Deckung des Mangels ergriffener Massnahmen - Verlängerung der Dauer der seminaristischen Ausbildung auf 5 Jahre in der 2. Hälfte der 1970er-Jahre - Förderung von Stellenteilungen - Weitere Reduktion der Klassengrössen - Universitätszulassung für Seminarabsolventinnen und -absolventen mit 5jähriger Ausbildung ab 1982 -> «Gymnasialisierung» der seminaristischen Allgemeinbildung (Rickenbacher, 1985) - Starker Ausbau der Lehrerfortbildung und Auf-/Ausbau der Intensivfortbildung (-> Stellvertretungsmöglichkeiten für arbeitslose Junglehrer und Junglehrerinnen) 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez Seite 21 Effekte «An einzelnen Orten wurde verheirateten Lehrerinnen nahegelegt, ihre Stelle einem Junglehrer zur Verfügung zu stellen, und so sind etliche Lehrerinnen freiwillig zurückgetreten» (Schweizerische Lehrerzeitung, 1977, S. 485; Hervorh. im Orig.). - vgl. Grafiken Folien 23/24 - «Verlorene» Lehrergeneration 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez Seite 22 5. Bedarfszyklen im Lehrberuf, politische Steuerung und Professionalisierung - ein Ausblick Bedarfszyklen nach Hodel (2005; Langzeitstudie 1848-1998; Bern und Solothurn): 1848-1878 Mangel an Primarlehrkräften 1879-1900 Lehrermangel, stellenlose Lehrerinnen 1901-1913 Lehrerinnen- und Lehrermangel 1914-1945 Lehrerinnen- und Lehrerarbeitslosigkeit 1946-1976 Lehrerinnen- und Lehrermangel 1975-1988 Lehrerinnen- und Lehrerarbeitslosigkeit 1989-1991 Lehrerinnen- und Lehrermangel 1992-1998 Lehrerinnen- und Lehrerarbeitslosigkeit 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez Seite 23 Bedarfszyklen und politische Steuerung - «Schweinezyklus» im Projekt „Qualifikationskrisen und Strukturwandel des Bildungssystems“ (QUAKRI) für die akademischen Professionen, insbesondere für die akademische Lehrerbildung, in Deutschland über lange Zeiträume nachgewiesen (Titze, 1981, 1984; Titze, Nath & Müller-Benedict, 1985). - „Risiko der Übersteuerung“ (Herrlitz & Titze, 1976, S. 364): Hinweise darauf, dass staatliche Interventionen prozyklisch statt antizyklisch wirken - Generationeneffekte der Ausbildungs- und Anstellungszyklen heute: grosse Lehrergenerationen der 1960er-/1970er-Jahre wurden in den letzten 10-15 Jahren pensioniert -> Mangel an Lehrpersonen auch dadurch mitgeprägt - Aber: keine einfachen Modellrechnungen für Bedarfsprognosen 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez Seite 24 Folgen des Mangels für die Profession gemäss einer zeitgenössischen Studie (Tuggener, 1966) - Markante Verschiebung der Zusammensetzung der Primarlehrerschaft zugunsten der Lehrerinnen - Tendenzieller Rückzug der männlichen Primarlehrer aus der Primarschule in die Sekundarstufe I - «Die Volksschullehrer rekrutieren sich in der Mehrheit aus städtischen und halbstädtischen Regionen des Kantons Zürich. Die ländlichen Randgebiete stellen nur bescheidene Kontingente» (Tuggener, 1966, S. 9). - Herkunft der Primarlehrerschaft vor allem aus Familien, deren Väter im tertiären Wirtschaftssektor tätig waren - Feminisierung des Primarlehrberufs geht mit vermehrter Rekrutierung von jungen Frauen aus den oberen sozioökonomischen Schichten einher - «Lehrerbildung und kurze Berufspraxis erhalten den Charakter einer Transitstufe in der sozialen Karriere» (Tuggener, 1966, S. 10; Hervorh. LC) 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez Seite 25 Haben neue Ausbildungsmodelle Effekte auf die Profession? - Ja, wenn der Staat stark korrigierend in das System der Lehrerinnen- und Lehrerbildung eingreift - Eher nein, wenn die Massnahmen das System nicht grundlegend verändern, sondern vorübergehenden Charakter zur Deckung eines kurzfristigen Lehrerinnen- und Lehrerbedarfs haben. - In jedem Fall ist der Staat (Kanton) verantwortlich dafür, dass die Schulen mit Personal versorgt werden -> Abwägen gegen Autonomie der Hochschule Aber: - Übersteuerung vermeiden! - Mit Generationeneffekten rechnen! - Wirtschaftliche Konjunktur bleibt die schwer kalkulierbar Grösse! 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez Seite 26 Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit! 06.11.2015 Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Lucien Criblez Seite 27 Literatur Aerni, K.M. (1968). Untersuchung über die Rekrutierung der deutschbernischen Primarlehrkräfte von 1957-1966. Vorschläge zur Vermehrung der Ausbildungsmöglichkeiten. Liebefeld/Bern: Lang. Bruppacher, M. (1973). Bildungswissenschaften im Dienst der Bildung. Schweizer Monatshefte, 53, 459-471. Edding, F. (1964). Bildungsforschung als Grundlage der Bildungsplanung. In Bildungsplanung und Bildungsökonomie (S. 45-69). Göttingen: Otto Schwarz. Herrlitz, H.-G. & Titze, H. (1976). Überfüllung als bildungspolitische Strategie. Zur administrativen Steuerung der Lehrerarbeitslosigkeit in Preussen 1870-1914. Die Deutsche Schule, 68, 348-370. Hodel, G. (2005). „Kinder, immer nur Kinder, aber Lehrer bringt keiner“. Bern: Lang. Mangel an Primarlehrern (1961).Der Mangel an Primarlehrern und die von den Kantonen getroffenen Gegenmassnahmen. Archiv für das schweizerische Unterrichtswesen, 47, 125-128. Oertel, L. (1975). 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