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Einleitung
Südosteuropa war und ist eine von ethnischer Vielfalt geprägte Region. In nahezu allen neuzeitlichen Staatsgebilden, die auf diesem Territorium bestanden,
stellten Minderheiten eine Realität dar, mit der sich auseinandergesetzt werden
musste. Im besonderen Maße galt dies gewiss für jene Staaten, die den größten
Teil des Westbalkans umfassten – das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929 Königreich Jugoslawien) sowie das sozialistische Jugoslawien
von 1945 bis 1991.
Während sich der südslawische Staat der Zwischenkriegszeit auch in der Nationalitätenpolitik um eine möglichst starke Zentralisierung und Unifizierung
bemühte, war das sozialistische Jugoslawien von Beginn an als ein nach ethnischen und historischen Gesichtspunkten geformter Bund von Staaten konzipiert.
Grundlegendes Vorbild für diese Ordnung war das sowjetische Modell der Dezentralisierung des Staates und einer mehrstufigen Föderalisierung, bei der die Teilrepubliken auf ihrem Gebiet wiederum aus ihnen untergeordneten autonomen
Einheiten zusammengesetzt sein konnten.1
Das Modell der mehrstufigen Föderation führte zu einer Unterteilung der
ethnischen Gruppen auf dem Gebiet des Nachkriegs-Jugoslawiens in zwei Kategorien. Die erste bestand aus sogenannten staatsbildenden Völkern, also jenen
ethnischen Gruppen, die – im Sinne der staatlichen Ordnungslogik – ihr „eigenes“
Staatsgebilde hatten, in welchem sie die dominante Position einnahmen. Zu ihnen
gehörten Serben, Kroaten, Slowenen, Mazedonier, Montenegriner und ab 1971
auch die Muslime (Bosniaken). In die zweite Kategorie fielen diejenigen Volksgruppen, deren vermeintliches ethnisches Bezugsland nicht zum jugoslawischen
Bundesstaat gehörte (Tschechen und Slowaken, Ukrainer, Magyaren, Deutsche,
Rumänen, Bulgaren, Italiener, Griechen, Türken und Albaner), sowie jene, die kein
solches Bezugsland hatten (Aromunen, Ruthenen, Roma und Juden).2 Die beiden
letztgenannten Gruppen wurden auch als nationale Minderheiten bezeichnet,
1 Diese Ordnung wurde in Anknüpfung an eine vorangegangene Konferenz des Antifaschistischen Rates der Nationalen Befreiung Jugoslawiens (Antifašističko veće narodnog oslobodjenja Jugoslavije, AVNOJ) auch in der ersten Nachkriegsverfassung definiert. Siehe „Ustav Federativne Narodne Republike Jugoslavije 31. 1. 1946“ (Beograd:
Službeni list Federativne Narodne Republike Jugoslavije, 1946), Jg. II., Teil 10, Art. 13,
21 und 25.
2 Als das sozialistische Jugoslawien gegründet und diese Klassifizierung eingeführt wurde, bestand der Staat Israel noch nicht.
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ein Terminus der im Jahr 1963 abgeschafft und durch den Begriff „Nationalität“
ersetzt wurde, der die rechtliche Gleichstellung aller Einwohnergruppen Jugoslawiens besser zum Ausdruck bringen sollte.3
Die nationalen Minderheiten entsprachen etwa einem Zehntel der jugoslawischen Bevölkerung und waren damit ein nicht zu vernachlässigender Teil der Gesellschaft. So bekannten sich bei der Volkszählung von 1981 beispielsweise mehr
Menschen zur albanischen Nationalität als zu den beiden kleinsten staatsbildenden Völkern, den Mazedoniern und Montenegrinern, zusammen.4 Zudem spielte
die Frage der nationalen Minderheiten auch in den bilateralen Beziehungen zwischen Jugoslawien und den jeweiligen Bezugsländern der Ethnien eine wichtige
Rolle, wie es sich beispielsweise im italienisch-jugoslawischen Verhältnis zeigte.
Dies sind nur zwei der Punkte, die erkennen lassen warum die wissenschaftliche Beschäftigung mit den nationalen Minderheiten des sozialistischen Jugoslawien dazu beitragen kann, den ehemaligen südslawischen Staat besser kennen und
einige aktuelle Probleme der Nachfolgestaaten verstehen zu lernen. Im Zeitalter
von Globalisierung und umfangreichen Migrationsbewegungen gehört die Frage
des Zusammenlebens von Personen oder Gruppen unterschiedlicher ethnischer
Herkunft zu einem Schlüsselproblem, das aus verschiedenen Perspektiven und
mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung wohl in allen sozialwissenschaftlichen
Disziplinen erforscht wird.
In dem vorliegenden Band werden die bereits genannten 15 größten und offiziell anerkannten nationalen Minderheiten des ehemaligen Jugoslawiens kapitelweise abgehandelt. Damit standen weder die sogenannten neuen Minderheiten,
also vor allem Immigranten aus Entwicklungsländern, im Fokus noch jene ethnischen Gruppen, die keine offizielle Anerkennung als Nationalitäten erfuhren, wie
zum Beispiel die Torbeschen und die Goranen. Von vornherein war auch nicht
beabsichtigt, die Frage der staatsbildenden Völker, die in einigen Teilrepubliken
den Status einer Nationalität hatten, im Detail zu behandeln, da dieses Thema
bereits genügend Beachtung gefunden hat und in anderen Publikationen bearbeitet worden ist.5
3 Siehe „Ustav Socijalističke Federativne Republike Jugoslavije, 1963“ (Beograd: Službeni
list Socijalističke Federativne Republike Jugoslavije, 1963).
4 „Base de données des pays developpés“, Institut Nacional d’études demographiques
(2011), abgerufen am 10.6.2015, http://www.ined.fr/fr/pop_chiffres/pays_developpes/
base_pays_developpes/.
5 Zum Beispiel Tim Judah, The Serbs: History, Myth and the Destruction of Yugoslavia
(New Haven: Yale University Press, 1997); Trpimir Macan, Hrvatska povijest: pregled,
(Zagreb: Matica hrvatska, 1995) oder Tchavdar Marinov, La question macedonienne de
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Von den Primärquellen wurden bei der Bearbeitung der jeweiligen Themen
hauptsächlich Rechtsdokumente berücksichtigt, welche den Bezugsrahmen für
die Minderheitenpolitik im sozialistischen Jugoslawien bildeten, aber auch statistische Daten und zum Teil Presseerzeugnisse der Minderheiten. Ziel war es, die
wichtigen Aspekte im Leben von Angehörigen der genannten ethnischen Gruppen und das gesellschaftspolitische Umfeld möglichst ausgewogen darzulegen. Bis
heute gibt es keine Publikation, die das gesamte Spektrum der nationalen Minderheiten Jugoslawiens in historischer und rechtlicher Perspektive behandelt. Bestehende, thematisch ähnliche Studien sind fast ausschließlich kurze Übersichtstexte
älteren Datums oder Werke, an deren Objektivität gezweifelt werden kann.6 Das
vorliegende Buch hat daher zum Ziel, einen komplexen Überblick über das Thema
zu gewähren, bei dem alle entscheidenden Faktoren berücksichtigt werden, die
das Schicksal der nationalen Minderheiten im ehemaligen Jugoslawien beeinflusst
haben. Für die Analysen wurde dabei auch auf Quellen und Literatur in den jeweiligen Minderheitensprachen zurückgegriffen, die damit für die Leser erstmals
in einer solch konzentrierten Form zugänglich gemacht wurden.
Das Buch fasst die Ergebnisse des Programms „Spezielle Hochschulforschung“
(Specifický vysokoškolský výzkum, SVV) zusammen, an dem – gefördert vom
tschechischen Ministerium für Schulwesen, Jugend und Körpererziehung – Doktoranden und drei Post-Doktoranden des Lehrstuhls für Balkan-, Eurasien- und
Osteuropa-Studien an der Fakultät der Sozialwissenschaften der Karlsuniversität
in Prag beteiligt waren. Ziel des Programms ist es, Kreativität und wissenschaftliche Forschung von Studierenden zu fördern, sie in die Forschungstätigkeit der
Universität einzubinden und ihre Publikationstätigkeit zu fördern. Deswegen
stammen die meisten Fallstudien gerade von ihnen. Für einige war das jeweilige
Thema ihrer Fallstudie völlig neu. In ihren Dissertationsarbeiten berühren sie
das Thema „nationale Minderheiten“ meist nur am Rande oder gar nicht. Ein
weiteres Problem, das es zu lösen galt, war die limitierte Zeit, die für dieses Projekt zur Verfügung stand: Die Forschung war auf ein Jahr beschränkt, was die
Möglichkeiten von Archivbesuchen praktisch ausschloss. Deswegen haben wir
uns bemüht, die Behandlung der Minderheitenthematik klar einzugrenzen und
sind hauptsächlich von der Sekundärliteratur in den Sprachen des behandelten
1944 a nos jours: communisme et nationalisme dans les Balkans (Paris: L’Harmattan,
2010).
6 Zum Beispiel Ljubiša Stojković und Miloš Martić, National Minorities in Yugoslavia
(Beograd: Jugoslavija, 1952); Koča Jončić, Nacionalne manjine u Jugoslavii (Beograd:
Savremena administracija, 1962); Paul Shoup, „Yugoslavia’s National Minorities Under
Communism“, Slavic Review 1 (1963): S. 64–81.
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Gebietes und der Minderheiten ausgegangen, was mit Blick auf die breiten, aber
nicht unbegrenzten Sprachkompetenzen der Mitglieder des Autorenkollektivs,
wie aus dem Quellen- und Literaturverzeichnis ersichtlich wird.
Aus all diesen Gründen wurde das Buch einem eingehenden Fachlektorat
unterzogen, das nicht nur Dr. Kateřina Králová und Dr. František Šístek von
der Fakultät der Sozialwissenschaften vorgenommen haben, sondern vor allem
die Mitarbeiter des Regensburger Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung,
wofür wir ihnen herzlich danken. Genauso richtet sich der Dank an den DeutschTschechischen Zukunftsfonds für die großzügige finanzielle Förderung der deutschen Ausgabe.7
Den meisten nationalen Minderheiten ist ein einzelnes Kapitel gewidmet.
Eine Ausnahme bilden die Albaner, die im Kosovo beziehungsweise im Rest
Jugoslawiens in sehr unterschiedlichen rechtlichen Verhältnissen lebten und
daher in zwei getrennten Kapiteln behandelt werden. Ferner sind in drei Fällen jeweils zwei Minderheiten in einem gemeinsamen, komparativ gestalteten
Kapitel zusammengefasst. Das betrifft vor allem jene Nationalitäten, die ein
gemeinsames ethnisches Bezugsland hatten oder kulturelle und sprachliche
Ähnlichkeiten aufweisen, wie Tschechen und Slowaken, Ukrainer und Ruthenen sowie Rumänen und Aromunen. Dazu muss angemerkt werden, dass die
genannten ethnischen Paare, mit gewissen Ausnahmen im Falle von Ukrainer
und Ruthenen, seitens der Behörden dennoch als unterschiedliche Gruppen
aufgefasst wurden.
Die einzelnen Kapitel umfassen jeweils fünf Querschnittsthemenbereiche. Der
Erste ist die Geschichte und die geographische Zuordnung der Minderheit auf
dem westlichen Balkan. Der Zweite berührt direkt die Zeit des sozialistischen
Jugoslawiens und die vorherrschende Minderheitenpolitik, sowohl auf Ebene
des Bundes als auch der Teilrepubliken und der autonomen Gebiete. Es folgt ein
Blick auf das Leben in der ethnischen Gemeinschaft und seine institutionelle
Absicherung inklusive der Frage nach Kultur, Bildungswesen und gegebenenfalls
auch religiösem Leben. Der vierte Themenkreis umfasst die Problematik von
Eingriffen außenpolitischer Akteure – also der sich als ethnische Bezugsländer
begreifenden Staaten – in das Leben der Minderheit und die daraus erwachsene
Bedeutung der betreffenden ethnischen Gruppe in der jugoslawischen Außenpolitik. Schließlich befassen sich die Autoren mit der Frage der Beziehung der
7 Vielen Dank auch an den Übersetzer des Buches, Till Janzer, und an die Korrektoren
der deutschen Fassung, Patrick Hoffmann und Robert Lučić, deren hilfsreiche Hinweise
und Fachkenntnisse weit über das Sprachliche hinausgingen.
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Minderheit zum jugoslawischen Staat und zu anderen im unmittelbaren Lebensumfeld existierenden ethnischen Gruppen.
Die einheitliche Gestaltung der Kapitel ermöglicht, die Minderheiten im ehemaligen Jugoslawien in Gruppen zu unterteilen. So waren beispielsweise einige
Minderheiten ähnlichen Vorurteilen ausgesetzt, welche den in der Mehrheitsgesellschaft verankerten historischen Stereotypen entsprangen. Weitere nützliche
Vergleichskriterien stellen des Weiteren die konfessionelle und kulturelle Zugehörigkeit der nationalen Minderheit oder ihre sozioökonomische Stellung dar. Zu
guter Letzt lassen sich die ethnischen Gruppen auch nach einem geographischen
Schlüssel unterteilen. Da das sozialistische Jugoslawien föderativ aufgebaut war,
konnte die Zugehörigkeit einer Minderheit zu einer konkreten Teilrepublik einen
wichtigen, den Lebensalltag stark beeinflussenden Faktor darstellen.
Wie die meisten Einwohner Jugoslawiens gehörten auch die hier untersuchten
Minderheiten hauptsächlich zu drei religiösen bzw. konfessionellen Orientierungen: dem westeuropäischen Christentum in Form von Katholizismus oder Protestantismus (Tschechen, Slowaken, Magyaren, Italiener, Deutsche und auch ein
Teil der Albaner, Ukrainer und Ruthenen sowie der bulgarischen Minderheit),
der Orthodoxie (die meisten Bulgaren, Ruthenen und Ukrainer sowie Rumänen,
Aromunen und Griechen) und dem Islam (Türken sowie die meisten Albaner und
Roma). Wie anderswo in Europa fanden sich zudem – meist urbane – Gemeinden
jüdischen Glaubens. Gemeinsam mit dem Glaubensbekenntnis teilten die Minderheiten innerhalb derselben Konfession oft ähnliche kulturelle Züge und ein
gewisses Gefühl der gemeinsamen Anteilnahme, das durch Mischehen noch verstärkt wurde. Die Übertretung ethnischer Grenzen war besonders bei Albanern
und Türken in Mazedonien ausgeprägt.
Die einzelnen ethnischen Gruppen lassen sich – mit Einschränkungen – auch
hinsichtlich ihres sozioökonomischen Status in der Frühphase des sozialistischen
Jugoslawiens klassifizieren. Die Angehörigen einiger der analysierten ethnischen
Gruppen lebten meist traditionell in Städten und betrieben Handel, gingen einem
Handwerk nach oder waren in der Staatsverwaltung tätig. In diese Kategorie fielen
vor allem Türken, Italiener, Griechen und Juden. Eine weitere Gruppe bilden jene
Minderheiten, die fernab der Städte lebten und Landwirtschaft betrieben. Das
betrifft die Deutschen und Magyaren8 sowie Tschechen, Slowaken, Ukrainer,
Ruthenen, Rumänen, Bulgaren und die meisten Albaner. Roma, Aromunen
und ein kleiner Teil der Albaner führten traditionell ein nomadisches oder
8 Im Fall dieser beiden ethnischen Gruppen gab es auch einen vergleichsweise hohen
Anteil an Stadtbewohnern, doch überwog die Landbevölkerung.
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halbnomadisches Leben. Das sozioökonomische Umfeld der Minderheit bestimmte zu einem gewissen Grad auch die Politik des Staates ihr gegenüber. Gleiches kann aber ebenfalls für die Angehörigen der staatsbildenden Völker gesagt
werden. So trafen Verstaatlichungen und der „Kampf gegen die Bourgeoisie“ in
erster Linie die Stadtbewohner, während die ländliche Bevölkerung vielmehr von
der Kollektivierung und (halb)nomadische Gruppen von der Ansiedlungspolitik erfasst wurden, auch wenn letztere nie so strikt durchgesetzt wurde wie in
anderen sozialistischen Ländern. Vermeintliches und tatsächliches Unrecht, das
die Staatsorgane bei der Umsetzung der Nationalitätenpolitik begingen, konnte
nicht nur in dieser Hinsicht die Beziehungen der Minderheit zum Staat und zur
Mehrheitsbevölkerung beeinflussen.
Unter den Volksgruppen Jugoslawiens gab es zudem einige, die vergleichbare
historische Stigmata aufwiesen und daher vielfältigen Repressionen des Staates
ausgesetzt waren. Am stärksten zeigte sich dies eindeutig beim Stigma, Okkupanten oder Kollaborateuren zu sein, welches einigen Gruppen während der gesamten Ära des sozialistischen Jugoslawiens anhing. Jene Nationalitäten, deren
Angehörige (beziehungsweise deren ethnisches Bezugsland) zur Zerstörung Jugoslawiens während des Zweiten Weltkriegs beigetragen hatten, wurden kollektiv
bestraft. Entsprechende Repressionen betrafen nach dem Krieg besonders stark
die deutsche, die italienische und die magyarische Minderheit, in gewissem Umfang aber auch die Albaner und Bulgaren.
Auch beeinflusste die besondere internationale Stellung Jugoslawiens während
des Kalten Krieges die Lage einiger Minderheiten. Seit dem Zerwürfnis mit Moskau im Jahr 1948 versuchte die Führung in Belgrad eine neutrale Position zwischen
den Blöcken einzunehmen. Daher standen paradoxerweise jene Nationalitäten,
die mit einem der Länder des Ostblocks in Verbindung gebracht wurden, unter
erhöhter Aufsicht, wurden mit Misstrauen beäugt oder waren sogar Repressionen durch den Staat Titos ausgesetzt. In dieser Weise standen die jugoslawischen
Tschechen, Slowaken, Bulgaren, Rumänen, Ruthenen und Ukrainer, aber auch
Asyl suchende griechische und italienische Kommunisten, Ende der 1940er und
Anfang der 1950er Jahre unter verstärkter Aufsicht. Im Fall der Albaner lässt sich
ab 1948 eine ausgesprochen repressive Politik beobachten, da von diesem Jahr an
die Beziehungen zwischen Belgrad und Tirana besonders angespannt waren. Die
Zeit erhöhter Kontrollmaßnahmen gegenüber den „Kominform“-Nationalitäten
ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich die Außenpolitik des Staates auf das
Leben der Minderheiten auswirken konnte.
Die Geographie als zuletzt genannter Faktor wurde schließlich zum wichtigsten Ordnungskriterium, nach welchem sich die Reihenfolge der Kapitel in
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diesem Buch ausrichten sollte. Vor allem zwei Gebiete waren in Jugoslawien in
besonderem Maße von nationalen Minderheiten geprägt: die Vojvodina und Mazedonien, wobei deren jeweilige Siedlungsgebiete auch über die Grenzen dieser
beiden verwaltungspolitischen Einheiten hinausreichten. Im Fall der Vojvodina war dies der Osten Kroatiens und der Norden „Kernserbiens“; im Fall von
Mazedonien handelte es sich vor allem um das Kosovo. Grundlegend ist dabei
jedoch, dass sich die in den einzelnen Kapiteln beschriebene Herangehensweise
lokaler Politiker an die Minderheitenproblematik teilweise stark unterschieden
hat. Allgemein lässt sich sagen, dass die politischen Organe in der Vojvodina den
meisten Nationalitäten gegenüber ein stärkeres Entgegenkommen zeigten als in
Mazedonien, wo die Rechte der Minderheiten häufig offen ignoriert wurden, ohne
dass die Bundesregierung in Belgrad daraufhin tätig geworden wäre. Gründe für
diese Politik lagen im Bestreben, die mazedonische Nationalität und Identität auf
Kosten jener der Minderheiten zu fördern.
Nach dem ersten Kapitel, das die historischen Wurzeln und Grundrisse der
jugoslawischen Nationalitätenpolitik behandelt, folgen vier Kapitel über Nationalitäten, die typisch für den ethnisch vielgestaltigen Nordosten der Föderation
waren, namentlich Tschechen/Slowaken, Ukrainer/Ruthenen, Magyaren sowie
Deutsche. Es handelt sich um nationale Minderheiten, die während der Migrationsbewegungen innerhalb der Habsburgermonarchie in der Region angesiedelt
wurden und römisch-katholischen – im Fall der Ruthenen griechisch-römischen –
oder protestantischen Glaubens waren. Darauf folgen fünf Nationalitäten am östlichen Rand der Föderation von der Vojvodina bis in den Norden Mazedoniens,
also gerade jene Gemeinschaften, an deren Beispiel sich die Herangehensweise
zweier verwaltungspolitischer Einheiten vergleichen lässt: Rumänen, Aromunen,
Bulgaren, Griechen und Juden. Die Vorfahren dieser Minderheiten migrierten zu
Zeiten des Osmanischen Reiches oder flüchteten – im Fall der Vojvodina – aus
diesem in den Norden, und sie sind, mit Ausnahme der Banater Bulgaren und der
Juden, christlich-orthodox. In den Küstengebieten im Westen des Landes lebten
bereits seit dem Altertum romanisierte, italienischsprachige Bewohner, eine Siedlungstradition, die auch die griechische Minderheit für sich beanspruchen konnte.
Die Roma lebten, ähnlich wie heute, verstreut über alle Teile der Föderation; die
größte Konzentration dieser ethnischen Gruppe findet sich jedoch in Mazedonien. Die letzte Gruppe bilden die in kompakten Gebieten im Süden des Staates
lebenden muslimischen Minderheiten, also die Türken und Albaner.
Das Buch wird von einem historischen Abriss von František Šístek über die
rechtlichen Aspekte und die internationale Verankerung der jugoslawischen Minderheitenproblematik eingeleitet. Šístek erläutert, wie das Regime den Begriff
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Nationalität verstand, und bietet einen Überblick über die innen- und außenpolitischen Zusammenhänge. Bei allen hier analysierten nationalen Minderheiten
überschnitten sich in gewisser Weise die unterschiedlichen Attribute und Kriterien, die oben beschrieben wurden und Anteil an der Bildung der öffentlichen
Meinung und der staatlichen Politik hatten. Die Tschechen und Slowaken, deren
Lage Lenka Kopřivová analysiert, waren in der Zwischenkriegszeit im Geist des
Tschechoslowakismus der Ersten Republik als eine einheitliche Minderheit organisiert. Im sozialistischen Jugoslawien organisierten sie sich getrennt, arbeiteten aber dennoch eng zusammen. Häufig galt, dass sich die Angehörigen der
jeweiligen Minderheit, die in einer Gegend gering vertreten war, den Vereinen
der anderen Minderheit anschlossen – wie zum Beispiel im kroatischen Daruvar.
Eine deutlich kompliziertere innere Struktur besaßen die von Bohdan Zilynskyj
vorgestellten Ruthenen und Ukrainer, bei denen bis heute nicht endgültig geklärt
ist, ob sie als eine, wenn auch in sich differenzierte Ethnie anzusehen sind oder als
zwei deutlich unterscheidbare Nationalitäten, wobei unter den Ruthenen beide
Konzepte ihre Anhänger haben. Im Fall der Magyaren und Deutschen waren
mehrere Zehntausend Angehörige der Minderheit nach dem Zweiten Weltkrieg
in Arbeitslagern interniert. Die Magyaren blieben dennoch meist im Land, ein
Prozess den Adam Ander in seinem Kapitel beschreibt, während Jiří Kocian mit
der Aussiedlung der Deutschen aus Jugoslawien nach Deutschland und Österreich
einen andersgearteten Fall reflektiert.
Bei den Rumänen und Aromunen, die Filip Šisler in seinem Kapitel behandelt, waren die verknüpfenden Elemente schon aus dem Grund gering, da beide
Gruppen aus historischen Gründen geographisch isoliert voneinander lebten.
Auch bei ihnen kam es jedoch gelegentlich zu einem gemeinsamen Auftreten,
zum Beispiel als gegen Ende des sozialistischen Jugoslawiens die gemeinsame
nationale Partei „Bewegung der Rumänen und Vlachen“9 entstand, die jedoch
binnen Kurzem durch einen Regierungsbeschluss wieder aufgelöst wurde. Die
bulgarische Minderheit, die von Jan Procházka vorgestellt wird, musste sich nach
dem Krieg mit dem Stigma auseinandersetzen, ethnisch zu einer der vorherigen
Besatzungsmächte zu gehören. Vor allem in Mazedonien gab es Versuche, unter
dem Deckmantel des Kampfes gegen Kollaborateure auch mit Repressionen gegen die national bewussten Angehörigen dieser ethnischen Gruppe vorzugehen.
9 Für weitere Ausführungen zu den Begriffen „Vlachen“ und „Aromunen“ sowie zur
Problematik des Demonyms der romanischsprachigen Bevölkerung Südosteuropas
siehe den Artikel von Filip Šisler in diesem Buch.
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Im Kapitel von Lucie Kadlecová und Martin Mejstřík werden die italienische
Minderheit und ihre Emigration aus dem neu entstandenen jugoslawischen Staat
analysiert. In diesem Fall waren die meisten Aussiedler allerdings bereits italienische Staatsangehörige und bewohnten jene italienischen Regionen, die Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg angegliedert wurden. Die griechische Minderheit,
die von Kateřina Králová behandelt wird, entwickelte sich während des Bürgerkrieges in ihrem Heimatland zum Mittler der außenpolitischen Ambitionen Jugoslawiens, verschwand danach jedoch fast vollständig aus der südslawischen
Geschichte. Karin Hofmeisterová schildert im ersten ihrer beiden Kapitel das
Schicksal der jüdischen Minderheit, die während des Zweiten Weltkriegs Opfer
des Holocaust wurde und deren Angehörige danach in großem Umfang ins Ausland emigrierten. Im darauffolgenden Kapitel beschäftigt sich die gleiche Autorin
mit den Roma, deren sozioökonomische Stellung und besondere Lebensart nicht
immer als vereinbar mit dem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem des Regimes
erachtet wurde und sie zu Opfern massiver Vorurteile und eines verstärkten Assimilationsdrucks werden ließ.
Auch die Angehörigen der türkischen Minderheit wurden als ehemalige Besatzer stigmatisiert. Anders als im Fall der Deutschen, Magyaren und Italiener
wurde bei ihnen allerdings auf jahrhundertealte anti-osmanische Ressentiments
zurückgegriffen; ein Gedankengut, das oft auch auf die mehrheitlich muslimischen Albaner übertragen wurde, wie Kamil Pikal in seinem Beitrag erläutert. Wie
bereits erwähnt, sind einzig der albanischen Minderheit zwei Kapitel gewidmet.
Während sich Vladimír Kadlec auf das Kosovo konzentriert, erläutert Daniel
Heler die Lage von Angehörigen dieser Minderheit in anderen Teilen der Föderation. Die Stellung der Albaner im Kosovo, wo diese zeitweilig große Autonomie genossen, unterschied sich in vielerlei Hinsicht deutlich von der Lage dieser
Volksgruppe in Mazedonien, Montenegro und Serbien, wo ihre Angehörigen in
der Minderheit waren.
Tendenzen zur Unterdrückung von Minderheitsrechten wurden – zusammen
mit Ressentiments aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs – nach dem Tod Titos
vielerorts wiederbelebt. Sie äußerten sich besonders im Verlauf des schrittweise
eskalierenden Konfliktes um die Stellung der Albaner im Kosovo, welche den
Status einer eigenen Republik und die Anerkennung als staatsbildendes Volk
forderten – ein Prozess der schließlich zum Zerfall Jugoslawiens beitrug. Die
Umsetzung der Idee eines auf föderalen Prinzipien basierenden, sozialistischen
Vielvölkerstaates scheiterte in Jugoslawien genauso wie in der als strukturelles
Vorbild dienenden UdSSR.
Jiří Kocian und Kamil Pikal