31 Tages-Anzeiger – Freitag, 27. August 2010 Kultur & Gesellschaft Weintipp Schweizer Wein ist in Mode Ausgewählte Winzer liefern pro Jahrgang 60 Flaschen ins Archiv – mit ihnen soll über die Jahre das Alterungspotenzial der Weine ergründet werden. Foto: Urs Flüeler (Keystone) Ein Blick in die Schatzkammer des Schweizer Weins Am nächsten Montag stellen 124 Schweizer Winzer im Kongresshaus Zürich ihre Weine vor. Das ist keine Selbstverständlichkeit – aber Ausdruck der erstaunlichen Wirkung des Mémoire des Vins Suisses. Von Paul Imhof Weine aus der Schweiz haben es im Ausland schwer. Von den besten gibt es schon auf dem Inlandmarkt zu wenig, und was exportiert wird, fällt selten durch besondere Raffinesse auf und schadet eher dem Image. Oft heisst es, ach, in der Schweiz wird auch Wein produziert? Es liegt vor allem an den einzelnen Winzern, ob sie interessiert sind, ihre Weine auch im Ausland zu verkaufen. Was fehlt, ist eine landesweite Dachorganisation, welche die Interessen aller Weinregionen erfolgreich vertritt. Es gab immer wieder Versuche, man raffte sich zu gemeinsamen Stossgebeten und -richtungen zusammen, doch am Ende bleiben die Walliser als grösste Weinregion lieber unter sich, die Waadtländer wollen etwas anderes als die Walliser, und die Deutschschweizer haben ohnehin nichts zu melden. Die Swiss Wine Promotion, eine Organisation zur Förderung des Schweizer Weins, hat jedenfalls noch nicht überzeugen können. Auf einer Fahrt 2002 über den Albulapass diskutierte der Weinjournalist Stefan Keller mit dem Winzer Christian Zündel über diese unbefriedigende Situation, vor allem auch über das Problem, dass man selten zeigen kann, dass überhaupt und wie (gut) Schweizer Weine altern können. Beim Chasselas hiess es immer, man solle ihn möglichst schnell konsumieren, sonst werde er untrinkbar – wer einmal einen zwanzigjährigen Dézaley La Médinette von Louis-Philippe Bovard gekostet hat, wird die Erinnerung an die unerwartete Komplexität dieses Weins nicht so rasch vergessen. Die Wahl der «Goldbarren» Weinschreiber und -produzent kamen auf ihrer Fahrt zum Schluss, so Stefan Keller, man müsse eine Sammlung der besten und charakteristischsten Schweizer Weine aufbauen, und zwar Jahrgang für Jahrgang. «Die Idee des Archivs blitzte auf», schrieb Keller, «alimentiert durch die Produzenten mit Geld, Geist und Wein, ebenso der programmatische Name und die Absicht, eine Arbeitsgruppe mit der Weinselektion zu betrauen.» Das Mémoire des Vins Suisses (MDVS) wurde gegründet, betreut von Keller und drei weiteren Weinjournalisten: Andreas Keller, Martin Kilchmann und Susi Scholl – sie alle haben auch schon für den TA Weine verkostet. Zwischen September 2002 und Dezember 2003 degustierte das Quartett 300 Weine von rund 100 Produzenten. Am Ende wurden 21 Weine ausgewählt als erste «Goldbarren» für die Schatzkammer. Die Weine müssen vier Kriterien erfüllen: Sie zählen zu den verlässlichen Werten ihrer Region, sie repräsentieren herausragend Typisches eines Anbaugebietes, sie sind durch einen erkennbaren Stil geprägt, und sie haben das Potenzial, sich während mindestens zehn Jahren in eine erfreuliche Richtung zu entwickeln: Sie müssen lagerfähig sein. Und schliesslich müssen die Produzenten jeweils 60 Flaschen in die Schatzkammer liefern, Jahrgang für Jahrgang. Das Reservoir soll dazu dienen, in vertikalen Degustationen die Alterungsfähigkeit zu ergründen und zu vergleichen, aber auch internationale Verkostungen zu bestücken. «Der tiefere Sinn unserer Wein-Dossier mit Tipps und Tricks www.wein.tagesanzeiger.ch Arbeit besteht letztlich darin, das immer noch unterschätzte Potenzial des Schweizer Weins aufzuzeigen», betont Andreas Keller. Dass man Schweizer Wein lagern kann, ist für Keller klar, er räumt aber ein: «Eigentlich sind das Vorschusslorbeeren. Noch gilt es, zu beweisen, dass Schweizer Wein beim Altern nicht einfach älter, sondern auch reifer wird.» Das Altern von Wein ist ein Dauerthema unter Interessierten. Welche Weine soll man lagern? Wie lange? Unter welchen Bedingungen? Blättert man Verkaufsbroschüren durch, steht bei jedem Wein meistens eine Von-bis-Jahresangabe zur Trinkreife. «Die Antwort auf die Frage nach der Lebensdauer eines Weines ist häufig mehr das Ergebnis gewagter Prophezeiung als Ausdruck fundierter Analyse», spöttelt der ETH-Agronom Hans Bättig, ehemaliger Dozent in Wädenswil und ausgewiesener Fachmann für Sensorik. In der Mémoire-Broschüre «Die Schatzkammer des Schweizer Weins 2009/2010» schreibt er: «Grosse Weine sind vielschichtig. Sie lösen eine Vielzahl sensorischer Reize aus, deren Zusammenspiel den Eindruck von Breite und Tiefe zugleich vermittelt. Grosse Weine funktionieren nach dem Prinzip der sich immer wieder einstellenden Harmonie, sei es schon in der Jugend oder erst im Verlaufe mehrerer Jahre (in Ausnahmefällen auch Jahrzehnte).» Weine zum Sprechen bringen André Parcé, Arzt und Weinproduzent in Banyuls-sur-Mer (F), beschrieb die Ent wicklungsmöglichkeiten von Wein anhand dreier Typen: «Ein durstlöschender Wein lallt von seiner Geburt an unartikuliert daher und verschwindet, bevor er gelernt hat, sich auszudrücken. Ein gefälliger Wein lallt und stammelt zunächst, buchstabiert lange und endet, bevor er sich gut ausdrücken kann. Ein nobler Wein dagegen spricht uns an: Zuerst ist es ein amüsantes Lallen, dann überlegtes Stammeln, schliesslich Buchstabieren und zum Schluss klares Sprechen, das in bestimmten Fällen zum Gespräch wird.» Entscheidend für das Alterungspotenzial sind Terroir, Rebsorte und wesentlich bereits die Arbeit im Rebberg: Die Trauben müssen reif gelesen werden, sonst sind später im Wein grünlich-grasige Aromen zu spüren. Das Warten auf den richtigen Zeitpunkt ist die Krux am Ende der Vegetationsperiode, denn schlechtes Wetter kann die Bemühungen eines ganzen Jahres zerstören. Im Keller soll der Wein bei ausgewogenen, möglichst konstanten Temperaturen altern: Lagert man zu kalt, dauert die Reifung länger, lagert man zu warm, altert er zu schnell; ideal sind 12 bis 14 °C. Wein braucht auch Sauerstoff, in der Ausbauphase, bei der Lagerung und beim Ausschenken, aber nicht immer gleich viel. Die Wirkung des Sauerstoffs mildert die Gerbstoffe und fördert die Entwicklung der Aromen; damit aber nicht zu viel Sauerstoff die Alterung beschleunigt, gibt man einen Oxidationsschutz in den Wein, meist schweflige Säure. Nach dem Öffnen der Flasche spielt Sauerstoff eine wichtige Rolle bei der Wiederbelebung der Aromen, die möglichst perfekt harmonieren sollen. Bättig: «Die optimale Genussreife ist dann er- reicht, wenn das Wechselspiel zwischen Aromatik und Gaumenstruktur an Komplexität nicht mehr zu überbieten ist.» Wann diese optimale Genussreife bei den Weinen des Mémoire auftritt, steht noch nicht fest – die ersten Jahrgänge erreichen bald zehn Jahre Lagerung. Doch das regelmässige Probieren verschiedener Jahrgänge, das Archivieren der Degustationsnotizen und das Gespräch unter den mittlerweile 39 Mitgliedern des Mémoire – Zürcher Vertreter sind Schwarzenbach Weinbau in Meilen und Weingut Pircher in Eglisau – und den vier «Verwaltern» des Schatzes haben das Image des Schweizer Weins bereits tüchtig aufpoliert. «Jahrelang geht fast nichts, und plötzlich beginnt es zu überborden», wundert sich Andreas Keller, «Ausländer interessieren sich vor allem für die Sortenspezialitäten, und im Inland treten Winzer an uns heran, die im Mémoire aufgenommen werden möchten.» Einmalige nationale Schau Wer dabei ist, profitiert von einem exquisiten Beziehungsnetz. Andreas Keller und die Selektionäre lassen sich freilich nicht drängen, auch wenn es keine Mitgliederlimiten gibt. Die Idee, Schweizer Weine in einer Sammlung zu lagern und ihr Alterungspotenzial zu ergründen, ist fast etwas in den Hintergrund gerückt. Sie bleibt gewiss Kern der Sache, aber das Mémoire ist zu nationaler Bedeutung aufgestiegen – eben jener, die von den Verbänden nicht erreicht wird. Am nächsten Montag präsentieren im Zürcher Kongresshaus die 39 MémoireMitglieder sowie gesinnungsverwandte Weinproduzenten aus der ganzen Schweiz ihre Gewächse – einzelne Winzer, Gruppen wie Jungwinzer aus der Deutschschweiz, Arte vitis aus der Waadt, Vinotiv aus Graubünden oder die Schlossgüter von Clos, Domaines & Châteaux – eine einmalige nationale Schau mit 124 Teilnehmern. Mémoire & Friends, Montag, 30. August, Kongresshaus Zürich, 14 bis 20 Uhr, Eintritt 20 Fr. (gratis mit Anmeldung auf www.weininfo.ch, wo man auch die Liste der Aussteller findet). Neue Broschüre des MDVS auf www.mdvs.ch. Ich gestehe es: Zu Beginn meiner Weinleidenschaft, vor rund 30 Jahren, war der Schweizer Wein für mich kein Thema. Den säurebetonten, leichten Landroten hielt ich zum Kochen für gerade noch knapp geeignet, und die säurearmen Chasselas waren allenfalls etwas, das man Magenkranken servieren konnte. Tatsächlich gab es aber schon seinerzeit gute Schweizer Weine, allerdings waren sie weniger zahlreich als heute. Damals, als die Langstreckenflüge plötzlich erschwinglich wurden, galt es, die Welt zu entdecken – auch die Weinwelt. Und die war umso reizvoller, je weiter weg die betreffende Region sich befand. Schweizer Wein wirkte da alles andere als sexy. Das Qualitätsbewusstsein war tatsächlich nicht immer so ausgeprägt wie heute – während Jahren wurde ziemlich hemmungslos produziert. Einen wichtigen Wendepunkt stellte der Rebbaubeschluss von 1993 dar, der den Produzenten Mengenbeschränkungen auferlegte. So wurde die Überproduktion eingedämmt und die Qualität in den meisten Fällen deutlich angehoben. Gleichzeitig bekämpften die Weinbauern die Liberalisierung der Weinimportkontingente aufs Heftigste. Auch ich wurde einmal als «Totengräber des Schweizer Weinbaus» bezeichnet, weil ich die Beschränkung der Weinimporte unsinnig und gefährlich fand. Als schliesslich im Jahr 2001 die Kontingentierung de facto aufgehoben wurde, passierte genau das, was dem Schweizer Weinbau zu neuem Glanz verhalf: Die Winzer mussten schneller auf die Marktbedürfnisse reagieren, und die Qualität der Weine stieg. Winzer mit Lieferproblemen Die Schweizer Rotweine werden von hochwertigeren, reiferen Trauben erzeugt als noch vor 20 Jahren. Die Abkehr vom Beerliwein hin zu kräftigeren Weinen wurde auch durch die Einführung von Neuzüchtungen wie beispielsweise Gamaret oder Diolinoir begünstigt. Die Erwärmung des Klimas macht sogar die Ausreifung spät reifender Sorten wie beispielsweise Cabernet Sauvignon möglich. Als grosse Errungenschaft des Philipp Schwander schreibt im Wechsel mit Paul Imhof über Wein und Winzer und stellt interessante Tropfen vor. Schweizer Rebbaus darf die enorme Verbreitung der Integrierten Produktion gelten. Sie ermöglicht einen naturnahen Rebbau, der den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln auf das Notwendigste begrenzt. Mittlerweile wird in jedem der 26 Kantone Weinbau betrieben, und es gibt zahlreiche hervorragende Produzenten. Ihr einziges Problem ist, die enorme Nachfrage zu bewältigen. Aargau einst ein Weinkanton Die am häufigsten kultivierte Rebsorte der Schweiz ist nicht der Chasselas, sondern der aus dem Burgund stammende Pinot noir. Er ergibt vor allem in der Bündner Herrschaft und im Wallis ausgezeichnete Weine. Das Wallis ist heute mit über 5000 Hektaren Anbaufläche (von schweizweit insgesamt 15 000) unsere grösste Weinbauregion. Interessanterweise war der Rebbau noch im 19. Jahrhundert viel stärker auf die Deutschschweiz fokussiert. So besass der Aargau mit 2660 Hektaren damals mehr Reben als das Wallis mit 2340 Hektaren! Heute wird im Aargauischen nur noch wenig Rebbau betrieben. Der hellrote, finessenreiche Pinot noir des Quereinsteigers Tom Litwan beweist, dass inzwischen mit entsprechender Sorgfalt selbst in den klimatisch anspruchsvollen Schweizer Regionen erstaunlich gute Weine erzeugt werden! Thalheim Pinot Noir T. Litwan, Schinznach 2008, à 31 Fr.— bei Vinothek Brancaia in Zürich, Tel. 044 422 45 22, www. vinothek-brancaia.ch
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