Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/3690

Drucksache 17/3690
Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode
Unterrichtung
Der Präsident
des Niedersächsischen Landtages
– Landtagsverwaltung –
Hannover, den 18.06.2015
Visafreiheit für türkische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger ermöglichen
Beschluss des Landtages vom 18.03.2015 - Drs. 17/3187
Das Assoziierungsabkommen EWG-Türkei vom 12. September 1963 ist ein zwischen der Türkei
und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) geschlossener völkerrechtlicher Vertrag.
Das Abkommen befugte einen gemeinsamen Assoziationsrat, einstimmig begleitende Beschlüsse
zu fassen. Der Assoziationsrat fasste am 20. Dezember 1976 zunächst den Beschluss Nr. 2/76, der
eine erste Stufe bei der Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
zwischen der Gemeinschaft und der Türkei bildete. Der Beschluss 1/80 des Assoziationsrates
EWG-Türkei (ARB 1/80) über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980 betraf
ebenfalls die Beschäftigung und die Freizügigkeit der bereits in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ansässigen türkischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer Angehörigen.
Durch den ARB 1/80 ist das Aufenthaltsrecht der türkischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
und ihrer Familienangehörigen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf eine europarechtliche Grundlage gestellt worden. Obwohl der ARB 1/80 seinem Wortlaut nach nur die Verlängerung der Arbeitserlaubnis türkischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Mitgliedstaaten
der Europäischen Union regelt, hat er durch die Rechtsprechung des EuGH auch aufenthaltsrechtliche Bedeutung erlangt. Der EuGH hob jüngst hervor, dass türkische Staatsangehörige, die rechtmäßig Dienstleistungen in einem Mitgliedstaat erbringen, von einer Visumpflicht ausdrücklich befreit sind.
Die bisherige Visavergabepraxis der deutschen Botschaft stellt jedoch selbst Antragsstellerinnen
und Antragsteller, die nach dem Assoziierungsabkommen mit der Türkei von der erleichterten visumfreien Einreise umfasst sind, vor erhebliche bürokratische Hindernisse. Betroffene berichten
von wochen- oder sogar monatelangen Wartezeiten, kostenintensiven Verfahren und grundlos abgelehnten Einreiseanträgen.
Personen, die unstreitig visumfrei in die Bundesrepublik einreisen dürfen, sehen sich somit einem
Verwaltungsverfahren ausgesetzt. Die Verwaltungspraxis schlägt sich auch in der sinkenden Zahl
der Anträge auf visumfreie Einreise nieder.
Auch über die aktive Dienstleistungsfreiheit hinaus, etwa bei Familienbesuchen oder kommunalen
Initiativen zum kulturellen und sportlichen Austausch mit der Türkei sollte die Einreise vereinfacht
werden.
Um den wirtschaftlichen und kulturellen Austausch mit der Türkei nicht zu beeinträchtigen, ist es
dringend geboten, das Verwaltungsverfahren der deutschen Botschaft deutlich zu vereinfachen und
bürokratische Hindernisse für Antragssteller zu beseitigen.
Der Landtag fordert die Landesregierung auf,
1.
sich gegenüber der Bundesregierung und auf europäischer Ebene bei türkischen Unternehmern, Geschäftsleuten sowie Wirtschaftsreisenden für die Reduzierung der vorhandenen
Hürden bei der visumfreien Einreise türkischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger im Rahmen der aktiven Dienstleistungsfreiheit einzusetzen, insbesondere durch die Schaffung einheitlicher Regeln im Rahmen der Durchführung des Assoziierungsabkommens,
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2.
darauf hinzuwirken, dass sich die Bundesregierung auf europäischer Ebene für die Vereinfachung der Visumpflicht bei Familienbesuchen türkischer Staatsangehöriger einsetzt,
3.
darauf hinzuwirken, dass sich die Bundesregierung auf europäischer Ebene für eine erhebliche Vereinfachung der Visavergabe auch bei Delegationsreisen, Städtepartnerschaften sowie
Sport- und Jugendreisen einsetzt,
4.
sich dafür einzusetzen, dass die Bundesregierung auf europäischer Ebene entschlossen auf
eine Visa-Liberalisierung hinwirkt.
Antwort der Landesregierung vom 17.06.2015
Die Landtagsentschließung bezieht sich auf das europaweit gültige Visum für kurzfristige Aufenthalte, das sogenannte Schengen-Visum. Es berechtigt zur Durchreise und zum Aufenthalt im gesamten Schengen-Raum, dem inzwischen 26 Staaten angehören. Der Aufenthalt ist begrenzt auf
90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen von dem Tag der ersten Einreise an.
Die Erteilungsvoraussetzungen und das Verfahren werden ausschließlich durch Recht der Europäischen Union (EU) geregelt. Die Ausgestaltung der Visumpolitik obliegt damit ausschließlich der EU;
Deutschland und die übrigen Mitgliedstaaten haben keine eigene Regelungskompetenz. Grundlage
hierfür ist Artikel 77 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU. Die Ausführung der Visumbestimmungen obliegt in Deutschland dem Bund (Auswärtiges Amt/Vertretungen der Bundesrepublik
Deutschland im Ausland, § 71 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz). Die Länder (und damit die örtlichen kommunalen Ausländerbehörden) besitzen keine Zuständigkeit.
Die gemeinsame europäische Visumpolitik stellt eine Ausgleichsmaßnahme für den Wegfall der
Binnengrenzkontrollen nach dem Schengener Abkommen dar. Kernstück dieser gemeinsamen europäischen Visumpolitik ist das eingangs beschriebene einheitliche Schengen-Visum.
Innerhalb der „EU-Gesetzgebung“ enthalten folgende in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltende
Verordnungen die wesentlichen Visumregelungen:
–
Mit dem EU-Visakodex (Verordnung [EG] Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 13.07.2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft) wurde ein großer Teil der früher bestehenden Rechtsinstrumente aus dem Bereich der europäischen Visumpolitik in einem
Rechtsakt zusammengefasst und weiterentwickelt. Seit seinem Inkrafttreten im Jahr 2010 bildet
der EU-Visakodex die Grundlage für die Erteilung von Schengen-Visa. Er normiert insbesondere die materiellen Visumerteilungsvoraussetzungen, deren Vorliegen von den Auslandsvertretungen der Schengen-Staaten zu prüfen ist, und regelt das Verfahren.
–
Die EU-Visaverordnung (Verordnung [EG] Nr. 539/2001 des Rates vom 15.03.2001 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind) legt die Drittstaaten fest, deren Bürgerinnen und Bürger bei Einreise in den Schengen-Raum ein Visum benötigen (Anhang I, der u. a. auch die Türkei umfasst) bzw. von der Visumpflicht befreit sind (Anhang II).
Die EU-Visaverordnung ist zuletzt geändert worden zur Aufhebung der Visumpflicht für Staatsangehörige von Mazedonien, Montenegro und Serbien (2009), Albanien und Bosnien-Herzegowina (2010), Taiwan (2011) und Moldau (2014). Zudem fallen seit Mitte 2014 sämtliche britische
Bürgerinnen und Bürger, die nicht Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs im Sinne des
EU-Rechts sind, unter die Visumbefreiung. Nach Abschluss entsprechender Visumbefreiungsabkommen seitens der EU werden die Angehörigen weiterer Staaten nicht mehr der Visumpflicht unterliegen (u. a. Kolumbien, Peru und die Vereinigten Arabischen Emirate).
Daneben hat die EU in den vergangenen Jahren mit zahlreichen Drittstaaten sogenannte Visumerleichterungsabkommen abgeschlossen, die insbesondere verfahrensmäßige Erleichterungen im
Antragsverfahren für bestimmte Personengruppen aus diesen Staaten zum Inhalt haben. Nicht selten dienen diese Abkommen auch als Vorstufe für einen späteren Wegfall der Visumpflicht. Entsprechende Abkommen sind in den letzten Jahren u. a. mit Albanien, Bosnien und Herzegowina,
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Georgien, Mazedonien, Moldau, Montenegro, Russland, Serbien und der Ukraine abgeschlossen
worden.
Unabhängig hiervon haben die EU und die Türkei am 16.12.2013 ein Rückübernahmeabkommen
unterzeichnet, das im Gegenzug einen Dialog über eine Visaliberalisierung zwischen der EU und
der Türkei eröffnet. Ziel dieser Verhandlungen ist es, die Visumpflicht für türkische Staatsangehörige, die für Kurzaufenthalte in den Schengen-Raum reisen möchten, abzuschaffen. Ein von der
EU-Kommission erstellter Fahrplan listet alle Anforderungen - hauptsächlich in Bezug auf türkische
Rechtsvorschriften und Verwaltungsverfahren - auf, die von der Türkei vor einer Visaliberalisierung
erfüllt werden sollen, bevor die EU-Kommission dem Rat und dem Europäischen Parlament einen
Vorschlag zur Änderung der EU-Visaverordnung vorlegt.
In dem Fahrplan ist kein bestimmter Zeitplan zum Abschluss des Dialogs oder zur Vorlage des
Vorschlags vorgegeben. Wie zügig das Verfahren über die Visumbefreiung abgeschlossen werden
kann, hängt nach Auffassung der EU-Kommission hauptsächlich von den Fortschritten ab, die die
Türkei bei der Erfüllung der Anforderungen des Fahrplans macht.
Inzwischen liegt ein erster Bericht der EU-Kommission hierzu vor („Bericht der Kommission an das
Europäische Parlament und den Rat über die Fortschritte der Türkei bei der Erfüllung der Vorgaben
des Fahrplans für die Visaliberalisierung vom 20.10.2014“, COM(2014) 646 final, Link zum Dokument:
http://ec.europa.eu/dgs/home-affairs/e-library/documents/policies/international-affairs/gene
ral/docs/turkey_first_progress_report_de.pdf).
Neben der dargestellten gemeinsamen europäischen Visumpolitik ist hinsichtlich der Türkei zu berücksichtigen, dass bereits vor über 50 Jahren, im September 1963, die damalige Europäische
Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Türkei ein sogenanntes Assoziationsabkommen geschlossen hatten. Ziel des Abkommens war die Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen
u. a. durch die schrittweise Errichtung einer Zollunion und die Annäherung der jeweiligen Wirtschaftspolitik. Vereinbart wurde die schrittweise Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit. Zur Verwirklichung dieses Zieles wurde ein Assoziationsrat geschaffen, der befugt war, verbindliche Beschlüsse
zu fassen.
Hierzu verabschiedeten die Vertragsparteien im Jahr 1970 ein drei Jahre später in Kraft getretenes
Zusatzprotokoll, das die Einzelheiten und den Zeitplan für die Übergangsphase bis zur Verwirklichung der Zollunion festschreibt. Dieses Zusatzprotokoll enthält in seinem Artikel 41 Abs. 1 ein sogenanntes Verschlechterungsverbot („Stand-Still-Klausel“) in Bezug auf die Niederlassungs- und
Dienstleistungsfreiheit („Die Vertragsparteien werden untereinander keine neuen Beschränkungen
der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen.“).
Diese Klausel hat bis heute Bedeutung für die Frage, ob türkische Staatsangehörige der Visumpflicht unterliegen oder nicht. So entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) beispielsweise im
Jahr 2009 in der Rechtssache C-228/06 (Soysal) zur aktiven Dienstleistungsfreiheit im Fall zweier
türkischer Fernfahrer, die für ihre türkische Spedition in Deutschland Dienstleistungen erbringen
wollten, dass die 1980 in Deutschland für diesen Personenkreis eingeführte Visumpflicht gegen das
assoziationsrechtliche Verschlechterungsverbot verstößt und deshalb unzulässig ist.
Infolge dieser Entscheidung wurde in Teilen der Rechtsprechung die Auffassung vertreten, dass
beispielsweise auch türkische Touristinnen und Touristen im Rahmen der sogenannten passiven
Dienstleitungsfreiheit visumfrei nach Deutschland einreisen können. Das Oberverwaltungsgericht
Berlin-Brandenburg hatte diese Frage dem EuGH vorgelegt, der im Jahr 2013 in der Rechtssache
C-221/11 (Demirkan) entschieden hatte, dass die passive Dienstleistungsfreiheit nicht von dem assoziationsrechtlichen Verschlechterungsverbot erfasst ist. Folglich kommen türkische Besucherinnen und Besucher nicht in den Genuss der visumfreien Einreise nach Deutschland.
Die Entwicklung weiterer Rechtsprechung bleibt abzuwarten. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass
das europäisch-türkische Assoziationsrecht integraler Bestandteil des Unionsrechts ist und der
EuGH für sich das alleinige Recht in Anspruch nimmt, zur Wahrung der einheitlichen Anwendung
über dessen Auslegung verbindlich zu entscheiden.
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Der Landesregierung ist bekannt, dass die Visumpraxis der deutschen Auslandsvertretungen in der
Türkei von vielen Seiten kritisiert wird. Hinzukommt, dass die Unannehmlichkeiten, die mit der Visumpflicht an sich verbunden sind, von türkischer Seite auch deswegen oft als ungerecht empfunden werden, weil die Türkei deutschen Staatsgehörigen die visumfreie Einreise ermöglicht.
Mit dem Landtag ist die Landesregierung der Auffassung, dass eine restriktive Praxis bei der Entscheidung über Schengen-Visa oft falsche Signale sendet. Ebenso wie die EU und Deutschland
profitiert auch Niedersachsen von den partnerschaftlichen Beziehungen mit der Türkei. Schon deswegen unterstützt die Landesregierung alle Maßnahmen, die zu einer Visaliberalisierung gegenüber der Türkei führen und diesen Prozess vorantreiben. Auch wenn die Visumpolitik nicht in der
Verantwortung des Landes, sondern in der des Bundes und vor allem auf europäischer Ebene liegt,
hofft die Landesregierung, dass von der Landtagsentschließung ein starkes Signal in diese Richtungen ausgehen wird.
In Ausführung der Nummern 1 bis 4 der Landtagsentschließung hat sich Innenminister Pistorius mit
gleichlautenden Schreiben vom 14.04.2015 an Bundesaußenminister Dr. Steinmeier und an Bundesinnenminister Dr. de Maizière gewandt, über den Inhalt der einstimmig gefassten Landtagsentschließung informiert, auf die Unterstützung der Entschließungsziele durch die niedersächsische
Landesregierung hingewiesen und darum gebeten, dass die Visaliberalisierung und Visavereinfachung noch stärker in den Blick des Bundes bei Verhandlungen auf europäischer Ebene genommen werde.
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(Ausgegeben am
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