Das Beispiel Gaziantep

Deutschlandfunk
GESICHTER EUROPAS
Samstag, 11. Juli 2015, 11.05 – 12.00 Uhr
Das Beispiel Gaziantep:
Leben mit den Flüchtlingen
Mit Reportagen von Gunnar Köhne
Redaktion und Moderation: Anne Raith
Musikauswahl und Regie: Babette Michel
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©
- unkorrigiertes Exemplar –
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Opener
Syrerin aus Aleppo
„Nach der Revolution sind wir erst nach Dubai gegangen. Aber ich hatte
Gaziantep ein paar Mal besucht und finde, es ist der richtige Ort, um sich auf
eine Rückkehr nach Syrien vorzubereiten.“
Türkischer Politiker
„Totschlag, Prostitution und Diebstahl haben deutlich zugenommen. Diese
Gäste wollen ihre eigene Kultur hier in Gaziantep weiter leben. Das ist das
Problem.“
Türkischer Taxifahrer
„Die Syrer haben meiner Meinung nach Vor- und Nachteile. Schlechte
Menschen gibt es überall. Auch unter uns Türken gibt es Kriminelle. Man sollte
das nicht einem ganzen Volk vorwerfen.“
Das Beispiel Gaziantep: Leben mit den Flüchtlingen.
„Gesichter Europas“ mit Reportagen von Gunnar Köhne.
Am Mikrophon ist Anne Raith.
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Anmoderation Reportage 1 – Neue Heimat
Die Grenze, die die Türkei von Syrien trennt, ist über 800 Kilometer lang.
Eine Grenze, über die seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges in Syrien 1,8
Millionen Menschen geflohen sind. Kein anderes Land hat in den
vergangenen vier Jahren mehr syrische Flüchtlinge aufgenommen als die
Türkei. Eine Herausforderung. Für Türken und Syrer. Der neue
Herausforderungen folgen.
Denn längst leben die meisten syrischen Flüchtlinge nicht mehr in den
zahlreichen Lagern entlang der Grenze. Sie versuchen, in den Städten im
Südosten des Landes oder den Millionenmetropolen Fuß zu fassen, haben
Wohnungen gemietet, Arbeit gefunden oder selbst ein Unternehmen
gegründet. Syrische Geschäfte, Schulen und Zeitungen prägen heute ganze
Stadtteile.
So auch in Gaziantep, etwa 100 Kilometer von der türkisch-syrischen
Grenze entfernt. In der wachsenden Industriemetropole leben inzwischen
mehr syrische Flüchtlinge als in der gesamten Europäischen Union. Über
200.000 sollen es sein. Abo Deaa ist einer von ihnen.
„Friends
Restaurant“
prangt
über
der
weit
geöffneten
Eingangstür. Im grellen Neonlicht stehen zwei junge Männer in
weißen Schürzen und mit Schiffchen auf dem Kopf und frittieren
abwechselnd Falafel-Bällchen und Pommes Frites, während ein
weiterer Mitarbeiter die fertigen Gerichte in Aluminiumfolie
einschlägt. Auf einem Bildschirm an der Wand flimmert stumm ein
arabischer Nachrichtensender.
Auf einem der roten
beiden Besitzer des
seiner Gebetskette,
Eingang. Die Tische
Kunstlederstühle sitzt Abo Deaa, einer der
Lokals, dreht an den Perlen seines Tespih,
und schaut hinaus auf die Terrasse vor dem
sind zu dieser Stunde es ist fünf Uhr
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nachmittags – noch unbesetzt. Dabei bietet das „Friends“ auch
Fast-Food
für
den
Hunger
zwischendurch
an.
Selbst
Hühnchenschenkel süß-sauer nach asiatischer Art stehen auf der
Speisekarte. Nicht gerade typisch für die syrische Küche, nickt
Deaa, aber er sei ja auch eigentlich kein Koch:
„Ich
bin
von
Beruf
Ingenieur,
in
Dubai
habe
ich
für
eine
Baufirma gearbeitet. Und nun betreibe ich hier ein Restaurant!
Aber wir Syrer sind sehr anpassungsfähig. Wenn es notwendig
ist, arbeitet der Arzt auch als Kellner. Lieber als andere um
Geld anzubetteln.“
Deaa
wirft
einen
kontrollierenden
Blick
hinüber
zur
Imbisstheke. Der hagere Mittfünfziger – Halbglatze und glatt
rasiert - kam vor drei Jahren aus Aleppo nach Gaziantep. Sein
ältester Sohn hat es bis nach Schweden geschafft, der jüngere
besucht in Gaziantep eine Universität. Fliehen mussten sie,
nachdem ein Nachbar sie wegen regierungskritischer Äußerungen
beim Regime denunziert hatte. Immerhin konnte er auf seiner
Flucht in die Türkei seine Ersparnisse mitnehmen. Nun sitzt er
in seinem Schnellrestaurant an einer Ausfallstraße gen Westen
und spricht mit Tränen in den Augen von seiner Heimat:
„Meine Mutter, meine Schwester und mein Bruder sind noch dort.
Sie haben es sehr schwer, sie leben von Tag zu Tag. Gestern
haben sie mir gesagt: Wir wissen nicht, ob wir uns noch von dir
verabschieden können, bevor wir sterben.“
Deaa zückt seine Geldbörse, zieht einen 100 Lira-Schein heraus
und weist einen seiner Angestellten an, Zigaretten holen zu
gehen. Auf der Terrasse haben die ersten Gäste Platz genommen.
Arabisch ist zu hören. Türkische Gäste kämen nicht so oft, aber
das Geschäft werfe genug ab, sagt Deaa und zeigt auf seinen
Mittelklassewagen mit syrischem Kennzeichen, der am Straßenrand
parkt. Er lehnt sich zurück:
„Wir haben auch hier viele Probleme. Wir leben in einem Land,
dessen Regeln wir nicht genau kennen. Wir sprechen schlecht
Türkisch, aber ohne die Sprache kann man sich nicht richtig
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integrieren. Aber ich habe einfach keine Kraft mehr, auch noch
die Sprache zu lernen. Ich fühle mich auch nicht immer
willkommen in Gaziantep. Wenn es zwischen syrischen und
türkischen Jugendlichen eine Schlägerei gibt, dann droht das
gleich zu eskalieren. Uns wurde schon oft gesagt, dass wir
unseren Laden heute besser nicht öffnen sollten, weil syrische
Geschäfte angegriffen werden könnten.“
Begegnungen zwischen Syrern und Türken finden im Alltag ohnehin
wenig statt – es muss sie auch nicht geben, wenn man genug Geld
hat.
Eine Vorschulklasse in der privaten Schule „Levant Center“. Die
sechsjährigen Jungen und Mädchen lernen erste Buchstaben. An
der Wand hängen lustige Bilder der vier Jahreszeiten, die
Tische machen einen neuwertigen Eindruck. Die beiden jungen
Lehrerinnen gehen langsam zwischen den Stuhlreihen umher und
ermuntern ihre Schützlinge immer wieder. Sie tragen Jeans und
sind unter ihrem eng gebundenen Kopftuch dezent geschminkt.
Laut UNICEF ist die Hälfte aller syrischen Flüchtlinge in der
Türkei unter 18. Wenn sie es sich leisten können, schicken
Syrer ihre Kinder meistens auf syrische Schulen, die überall in
der Türkei aus dem Boden schießen. Auch das ist Teil der
syrischen Selbsthilfe – und von den türkischen Behörden
geduldet. Die Eltern kostet der Besuch dieser Schule 200 Dollar
im Monat. Es wird auch Englisch unterrichtet. Dabei wäre der
Besuch einer türkischen Grundschule umsonst. Die Lehrerin
lächelt. Sie selbst stammt aus Aleppo.
„Manche Kinder haben Türkisch gelernt, aber nicht alle. Die
weinen dann und wollen wieder raus aus der türkischen Schule.
Sie müssen bedenken, dass diese Kinder traumatisiert sind.
Viele sind aggressiv, andere haben Lernschwierigkeiten. Wir
bemühen uns um sie alle. Wissen Sie, es ist trotz allem ein
Erfolg, dass 70 Prozent aller Flüchtlingskinder in Gaziantep
inzwischen in eine Schule gehen!“
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Denn es kommt oft genug vor, dass Kinder zu den Ernährern der
Familie
werden,
dass
sie
Süßigkeiten
oder
Zigaretten
verkaufen, Müll sammeln oder auf dem Feld arbeiten, anstatt
zur Schule zu gehen. Stolz ruft ein Mädchen der Klasse nach
den Lehrerinnen,
sie will ihnen ihre neu aufgeschriebenen
Wörter zeigen. Immer wieder taucht das Gerücht auf, die
türkischen Behörden wollten die syrischen Schulen schließen,
weil sie illegal seien. Aber irgendwie – und meistens gegen ein
Bakschisch – geht es dann doch weiter. Die junge Pädagogin
streicht ihrer Schülerin über den Kopf.
„Das Wetter, die Architektur – das erinnert mich sehr an meine
Heimatstadt Aleppo. Mit geht es gut hier. Ich denke nicht
darüber nach, weiter nach Europa zu ziehen. Außerdem lieben wir
unsere Kinder.“
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Literatur Moderation
Auch die junge Frau in der Kurzgeschichte „Vollmond über Harran“ der
türkischen Autorin Yeşim Dorman ist auf der Flucht. Freiwillig. Sie möchte
aussteigen, aus ihrem Leben in Ankara. Noch in der Nacht packt sie ein paar
Kassetten, Gedichtbände und einige Kleidungsstücke ein. Stellt sich keine
Fragen, sondern folgt einem Gefühl. Überzeugt, dass Fortzugehen die
einzige Lösung ist, zieht sie die Vorhänge ihrer kleinen Wohnung fest zu,
schließt die Tür hinter sich ab und steigt in den Bus. Um ihr Leben künftig
mit einem Mann in seinem Dorf in der Nähe der türkisch-syrischen Grenze
zu verbringen. Als dort noch Frieden herrschte. Ein einfaches Leben im
Einklang mit der Natur.
„Waren es die Schweißperlen, die sich an meinem Haaransatz sammelten? Oder
das plötzliche Bremsen des Fahrers? Was auch immer mich weckte, dem sei Dank!
Nur wenig später und mein Nacken und meine Knie wären so steif geworden, dass
ich sie nie wieder hätte lockern können. Gegen Morgen war es abgekühlt, ich hatte
meine beiden Pullover übereinander angezogen und die Beine untergeschlagen.
Vermutlich war deshalb mein linkes Fußgelenk eingeschlafen. Ich versuchte, mich zu
recken, doch mein schweißüber-strömter Nacken war steif wie ein Stahlseil.
Während ich ihn mit beiden Händen massierte und wieder weich knetete, schaute
ich, nachdem ich den vor Dreck starrenden Vorhang zur Seite gezogen hatte, aus
dem Fenster.
Der Bus fuhr auf einer wie mit dem Lineal durch die hügellose Ebene gezogenen
schnurgeraden, schmalen Straße dahin. Es musste etwa sechs Uhr sein. Da die
Sonne schräg auf uns fiel, folgte uns der lange Schatten des Busses. Nur ein, zwei
Stunden hatte ich schlafen können. Ich vermisste meine Uhr. Warum hatte ich, bevor
ich das Haus verließ, die Uhr vom Arm genommen und auf das Bett geworfen? (…)
Ich sollte endlich aufhören, unnütze Fragen zu stellen. Was würde es schon ändern,
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wenn ich wüsste, wie viele Stunden bis Urfa noch vor uns lagen? Was ich wusste,
sollte mir vorerst genügen. Ich näherte mich der Stadt, in der ich von nun an mein
Leben verbringen wollte, und würde nicht wieder an meinen Geburtstort
zurückkehren. Mehr in Erfahrung zu bringen, war im Augenblick ohnehin nicht
möglich.
Anmoderation Reportage 2 – Neue Konkurrenz
Schon in seiner Zeit als Ministerpräsident hatte Recep Tayyip Erdogan sein
Land auf einen radikalen Kurs gegen den syrischen Machthaber Bashar al
Assad eingeschworen. Dazu gehörte auch, all jene aufzunehmen, die vor
dem syrischen Regime auf der Flucht waren. Im Irrglauben, der Konflikt
könne bald beigelegt werden und die Flüchtlinge würden dann in ihre
Heimat zurückkehren.
Fünf Milliarden Dollar hat die türkische Regierung nach eigenen Angaben
bisher in ihre Flüchtlingshilfe investiert, in Unterkünfte, Nahrungsmittel,
medizinische Versorgung. Viel Lob hat sie dafür von der internationalen
Staatengemeinschaft erhalten, aber wenig Unterstützung.
Nach vier Jahren hat sich jedoch auch in der Türkei die Gastfreundschaft ein
wenig abgenutzt. Es kommt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen an der
Grenze, Syrer werden auf der Straße beschimpft und angespuckt. Aus den
Kriegsflüchtlingen sind oftmals Konkurrenten geworden. Die türkische
Arbeitslosenquote steigt, vor allem bei Jugendlichen. Das spüren Türken
und Syrer. Jeder auf seine eigene Art. Auch in Gaziantep, oder Antep, wie sie
ihre Stadt nennen.
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Im Stadtpark von Gaziantep bieten die Platanen Zuflucht vor der
heißen Mittagssonne. Familien sitzen in einem schattigen
Teegarten. Eine Gruppe Jugendlicher hockt etwas abseits auf
einem gemauerten Halbrund, das offenbar als Tribüne für OpenAir-Aufführungen dienen soll. Sie drücken gelangweilt auf ihren
Smartphones herum. Wortkarg geben sie zu, dass sie keine Arbeit
haben. Zwischendurch mustern sie misstrauisch die Passanten.
Sind sie auf Streit aus? Keine Antwort. Aber auf die Syrer sind
sie nicht gut zu sprechen:
„Wir arbeiten für 200 Lira die Woche, aber die machen den
gleichen Job für nur 150! Soll man da nicht sauer werden? Die
kommen hierher und nehmen mir in meinem eigenen Land die Arbeit
weg! Vor dem Bürgerkrieg in Syrien kostete eine Wohnung, die
heute 450 Lira Miete kostet, nur 150!“
Ein
paar
Straßen
weiter
liegt
das
Büro
der
Partei
der
Nationalistischen Bewegung, MHP, auch bekannt durch ihre
Jugendorganisation „Graue Wölfe“. An diesem Nachmittag aber
sitzen nur ein paar ältere Parteimitglieder beim Tee zusammen.
Einer von ihnen stellt sich als Beamter im Ruhestand vor. In
seinen Augen liegt Argwohn. Eigentlich ginge die türkische
Innenpolitik Ausländer nichts an, betont er. Aber dann nimmt er
doch Stellung zu den syrischen „Gästen“, wie er die Flüchtlinge
nennt:
„Totschlag,
zugenommen.
Prostitution
und
Diese Gäste wollen
Diebstahl
haben
deutlich
ihre eigene Kultur hier in
Gaziantep weiter leben. Das ist das Problem. Wenn ich mit
meiner Frau durch den Park spazieren gehe, fühle ich mich von
den Syrern gestört. Die sitzen herum und starren einen an.“
Solche Sprüche kann die junge Anwältin Gökce Kanpalti nicht
mehr hören. Vor ihr auf dem Tisch liegt ein von ihr gemeinsam
mit Kollegen der Anwaltskammer erstellter Bericht über die Lage
der syrischen Flüchtlinge in Gaziantep. Kanpalti trägt eine
weiße Bluse und einen blauen Blazer, an einem Haken hinter ihr
hängt ihre Anwaltsrobe, zwei der Mitautoren sitzen ebenfalls am
Tisch.
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„Wir haben eine Anfrage an das Justizministerium gestellt. Wir
wollten wissen, wie viele Strafverfahren es gegen syrische
Staatsangehörige in den letzten Jahren gegeben hat und vor
allem wie viele rechtskräftige Verurteilungen. Leider haben wir
keine Antwort bekommen.“
Mit ein paar Klicks ruft die Juristin auf ihrem Laptop den Text
der Genfer Flüchtlingskonvention auf. Die Syrer, beklagt sie,
existierten für den türkischen Staat eigentlich nicht. Sie
besäßen keinen Rechtsstatus, und seien damit der Willkür von
Justiz und Behörden ausgeliefert.
„Die
Türkei
hat
die
Genfer
Flüchtlingskonvention
zwar
unterschrieben,
aber
mit
einer
wichtigen
Einschränkung.
Offiziell Asyl suchen dürfen nur Flüchtlinge aus Europa.“
Ganz fallen lässt der türkische Staat die Syrer dennoch nicht.
In Gaziantep trägt dafür Ali Güney die Verantwortung. Äußerlich
ein türkischer Beamter durch und durch, kantige Brille, etwas
schief gebundene rote Krawatte, hohe Stirn. Aber seine
Dienststelle ist seit ein paar Jahren einer der wenigen
barmherzigen Orte dieser Stadt. 218.000 Menschen haben das
provisorisch eingerichtete Ladenlokal schon besucht, denn hier
gibt es die Kimlik-Karte, einen scheckkartengroßen Ausweis, der
Syrern eine kostenlose medizinische Versorgung in allen
staatlichen Krankenhäusern ermöglicht. In der Stimme des
Beamten Güney ist der Stolz unüberhörbar.
„Wir arbeiten von acht Uhr morgens bis abends um zehn, in zwei
Schichten, damit wir der Nachfrage gerecht werden können. Und
wir sind mit dieser Art der Registrierung voran
Andere Städte der Türkei sind dem Beispiel von
gefolgt!“
gegangen.
Gaziantep
Auf den Bänken vor der Ausgabestelle warten ein paar Mütter mit
ihren Kindern. Drinnen sind zwei Tische aufgebaut, darauf
jeweils ein Computer mit einer kleinen Kamera auf dem Monitor.
Ein Rentner tritt vor, setzt sich auf den Stuhl vor den Tisch
und reicht dem Mitarbeiter seinen abgegriffenen syrischen
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Reisepass. Ein Dolmetscher übersetzt, der Beamte tippt die
Daten in seinen Computer und bittet zum Schluss noch den
verschüchtert dreinblickenden Mann in die Kamera zu schauen.
Nach
ein
paar
Sekunden
spuckt
ein
Drucker
den
neuen
Lichtbildausweis aus. Der Syrer strahlt und steckt ihn
vorsichtig in die Brusttasche seines verschwitzten Hemdes. Ali
Güney schaut gerührt.
„Es sind zuallererst Menschen. Egal woher sie kommen oder wer
sie sind. Es ist uns auch egal, ob es Araber, Turkmenen oder
Kurden aus Syrien sind. Es sind Menschen.“
Literaturpassage 2
Weiter ging die Fahrt, wir hielten an und fuhren wieder los, Leute stiegen ein und
aus. Es kostete viel Zeit, jedes Mal den Gepäckraum zu öffnen und wieder zu
schließen. Einmal dauerte es mehrere Minuten, ehe eine Frau mit Dutzenden
ineinander verkeilten Sieben auf ihrem Sitz Ruhe fand. Ich bemühte mich, nicht
ungeduldig zu sein. Frauen in schwer zu schätzendem Alter, die mit Kindern auf dem
Arm einstiegen, setzten sich schweigend auf den Platz, den ihnen der Busbegleiter
zuwies. Die Abgeklärtheit in ihren Gesichtern und die auffällige Teilnahmslosigkeit
der Kinder brachten mich auf den Gedanken, für sie sei diese Reise eine
Notwendigkeit. Sie waren so versunken und still, als sei ihnen etwas Katastrophales
zugestoßen und sie müssten aus ihrer Heimat flüchten. Die Kinder schliefen oder
zerfledderten die Teigfladen, die ihre Mütter ihnen in die Hände gedrückt hatten, und
kauten lustlos darauf herum.
Die Kinder taten mir leid. Ich lachte sie an (…) doch sie verbargen das Gesicht an
der Brust der Mutter und spielten nicht mit. Wann würden sie wohl auf meine Spiele
eingehen? Wenn ich ein Tuch um meinen Kopf schlänge und ein langes violettes
Seidengewand trüge? Solange ich mich nicht um sie kümmerte, beobachteten sie
mich scharf wie Jäger aus ihren kleinen Äuglein. Als wollten sie sich von einer
Fremden nicht verleiten lassen, so ließen sie sich von meinen Spielen auch nicht
verführen. Zunge und Herz regten sich in mir, wollten den Kindern etwas sagen,
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worüber sie lachen würden, doch wieder waren sie darauf bedacht, nicht meinem
Blick zu begegnen. Das LEBEN…Was uns zum Schweigen verurteilte, war unser
Leben. Unser Leben, das sichtbar und zum Greifen nah zwischen uns stand.
Anmoderation Reportage 3 – Neue Flucht
Dreiviertel der syrischen Flüchtlinge in der Türkei sind Frauen und Kinder.
Frauen, die ihre Männer im Krieg oder auf der Flucht verloren haben und
sich und ihre Kinder allein in der Fremde durchschlagen müssen.
In der Fremde aber gelten alleinstehende Frauen und Mädchen nicht selten
als billige Ehefrauen oder Prostituierte. Entlang der türkisch-syrischen
Grenze hat sich mittlerweile ein regelrechter Frauenhandel etabliert.
Menschenrechtsorganisationen werfen der türkischen Regierung vor,
dieser „Versklavung“ untätig zuzuschauen.
In Gaziantep kümmert sich ausgerechnet ein Imam um die betroffenen
Frauen.
Schwitzend steigt Abdurrahmin Celik die nackten Betonstufen der
Notunterkunft hinauf. Vor seinem massigen Körper hält er einen
Karton, aus dem Windelpackungen, Waschpulver und Nudeltüten
herausschauen. Celik ist Imam in einer kleinen Moschee am
Stadtrand von Gaziantep und arbeitet für die muslimische
Hilfsorganisation Mazlum Der. Im Obergeschoss des Rohbaus wird
er bereits von einer Kinderschar und einer Frau Mitte 30, in
schwarzem Kleid und Kopftuch erwartet. Die barfüßigen Kinder
verfolgen lächelnd, aber mit müden Blicken, wie Celik die
mitgebrachten Geschenke auspackt und verteilt. Zaynap, die
Mutter, reißt ungläubig die Augen auf, als ihr der Imam eine
Vorratspackung Kekse in die Hand drückt. Die Familie stammt aus
dem syrischen Aleppo. Sie lebt von den Gelegenheitsjobs des
Ehemannes auf Baustellen irgendwo in der Türkei. Auf dem
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nackten Boden liegen Matratzen, in einem Nebenraum krächzt ein
Fernseher.
Im
Türrahmen
steht
eine
schüchterne
junge
Frau
mit
knöchellangem Rock und fest gebundenem beigefarbenem Kopftuch.
Es ist die älteste Tochter Nesrin, 16 Jahre alt. Auf ihren
Armen wiegt sie ihre sechs Monate alte Tochter. Nesrin ist erst
seit ein paar Tagen zurück bei ihren sechs Geschwistern und
ihren Eltern. Sie ist auf der Flucht - vor ihrem türkischen
Ehemann.
„Nach zwei Jahren hat er mich und die Kleine vor die Tür
geworfen. Auch der Schwiegervater hat mich
geschlagen. Sie haben mir den Kopf geschoren.“
und
das
Kind
Die Eltern hatten den Versprechungen des Türken geglaubt und
sie waren in ihrer Not auf das Brautgeld angewiesen. Wieviel er
gezahlt hat, will die Mutter nicht sagen. Doch der zehn Jahre
ältere Mann war danach nicht an einer dauerhaften Beziehung
interessiert.
Abdurrahmin Celik kennt dutzende ähnlicher Schicksale. Er
gehört zu den wenigen in Gaziantep, die sich um syrische Frauen
in Not kümmern. Im Schneidersitz hockt er dem Mädchen
gegenüber. Sein rundes dunkles Gesicht schaut sanft in die
Runde bevor es sich verdunkelt:
„Die meisten Männer wollen nicht standesamtlich heiraten,
sondern bloß eine religiöse Zeremonie. So können sie die Frauen
schneller wieder loswerden. Viele wollen eine Syrerin auch nur
als Zweitfrau, heimlich. Ich sage ihnen dann: Sind syrische
Frauen nicht genauso viel wert wie türkische, haben sie denn
nicht die gleichen Rechte?“
Doch das Geschäft mit syrischen Frauen boomt.
Es sind nur gut 100 Kilometer von Gaziantep zur syrischen
Grenze bei Kilis, einem der letzten noch geöffneten Übergänge.
Es geht vorbei an Olivenhainen und verlassenen Fabrikhallen –
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der
Handel
mit
dem
Nachbarland
Bürgerkrieges zusammengebrochen.
ist
seit
Beginn
des
Neben dem Grenztor befindet sich ein Flüchtlingslager für
mehrere tausend Menschen. Geschützt von einem hohen Tor und
einem misstrauisch schauenden Wachschutz. Etwas abseits steht
ein
syrischer
Straßenhändler
im
Schatten
eines
Wellblechunterstandes. Er trägt ein staubiges Hemd, die Wasserund Limonadenflaschen hat er sorgsam auf einem kleinen
Klapptisch drapiert. Als er das Mikrofon sieht, wehrt er mit
den Händen ab. Erst als es wieder in der Tasche verschwindet,
bestätigt er, dass hier vor dem Lager regelmäßig nach
heiratswilligen Frauen gefragt werde. Mittelsmänner nähmen dann
den Kontakt zu den Familien in den Lagern auf. Von der Polizei
hätten sie nichts zu befürchten.
Ein paar Kilometer weiter, auf einer Anhöhe vor der Stadt Kilis
drängen sich dutzende Frauen vor einer weiß gestrichenen
Baracke. Einige von ihnen sind bis auf einen Sehschlitz schwarz
verschleiert. Es sind Syrerinnen, die für Babywindeln anstehen.
Die meisten Frauen sind Witwen, ihre Männer im Bürgerkrieg
umgekommen. Eine türkische Mitarbeiterin schaut dem Treiben vor
der Ausgabestelle mit einem mitfühlenden Blick zu.
„Durch ihre Kriegserlebnisse sind sie traumatisiert. Dann
kommen sie in ein fremdes Land mit einer fremden Sprache. Sie
haben keine Arbeit, das Leben ist teuer. Und dann müssen sie
sich auch noch gegen die einheimischen Männer zur Wehr setzen.
Die türkischen Männer denken, diese Frauen sind billig zu haben
– als Ehefrau oder Zweitfrau. Auf normalem Weg können manche
von denen keine Frau mehr kennenlernen, weil sie krank oder zu
alt sind.“
Schnell bildet sich eine Traube von neugierigen Frauen. Zum
Thema Missbrauch und Frauenhandel könnte fast jede von ihnen
etwas sagen, aber viele schauen schamvoll zu Boden. Eine
syrische Braut koste nur halb so viel wie eine türkische, heißt
es. Von umgerechnet 1.500 Euro ist die Rede. Viel Geld für die
mittellosen Flüchtlingsfamilien. Doch dass die Frauen nach
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erfolgreicher Vermittlung oft ausgebeutet werden, hat sich
längst herum gesprochen. Eine resolute Frau mit locker
gebundenem Kopftuch und einem kleinen Mädchen an der Hand,
drängt sich nach vorn. Schon 12jährige Töchter würden von
Heiratsvermittlern angesprochen, beklagt sie sich:
„Ich würde meine Tochter gegen kein Geld der Welt hergeben! Die
würde nur zwei bis drei Monate missbraucht und dann wieder
zurückgeschickt.“
Zurück in Gaziantep, in der Moschee von Imam Celik, zum
Mittagsgebet. Wegen des Fastenmonats Ramadan ist der Teppich
vor der Mihrab, der Gebetsnische gen Mekka, dichter besetzt mit
Männern jeden Alters als gewöhnlich. Celik kniet im weißen
Kaftan vor seiner Gemeinde und rezitiert Koransuren. Er gehört
zu den wenigen liberalen Geistlichen in der Türkei, die gerade
jetzt, im Ramadan, den Männern ins Gewissen reden. Wieder und
wieder
wettert
er
gegen
die
Ausbeutung
von
syrischen
Flüchtlingsfrauen. Vielen Amtsbrüdern wirft er vor, Beihilfe
zur Ausbeutung von Frauen zu leisten. Auch wenn er seine Worte
als Angestellter der staatlichen Religionsbehörde mit Bedacht
wählen muss.
„Ehen, die von einem Imam geschlossen werden, sind vor dem
Gesetz nicht gültig, wenn keine standesamtliche Trauung
vorausgeht. Kein Imam sollte solche Ehen auf Zeit – für ein
paar Monate – absegnen.“
Für die 16jährige Nesrin kommen diese Appelle zu spät. Sie
sitzt mit ihrem Baby in dem heruntergekommenen Obdach ihrer
Familie, es ist dunkel und stickig.
„Vor ein paar Tagen hat mein Mann angerufen und gesagt, dass er
nun eine richtige Frau heiraten wird .... eine Türkin, ja.“
Anmoderation Reportage 4 – Neue Macht?
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Zu Beginn des Bürgerkrieges in Syrien galten die gemäßigte syrische ExilRegierung und ihr militärischer Ableger, die Freie Syrische Armee, als
Hoffnung, vor allem im Westen. Auch die Türkei sah sich als großer Bruder
des syrischen Widerstandes – was ihr den Vorwurf eingebracht hat, all jene
über ihr Territorium passieren zu lassen, die sich der Terrormiliz
Islamischer Staat anschließen wollen – um Assad auf diese Weise zu
schwächen. Auch für angehende IS-Kämpfer ist Gaziantep ein Knotenpunkt.
Doch die Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil. Die Kämpfe im
Norden Syriens halten an und die Türkei hat ihre Truppen an der Grenze
verstärkt. Zum Schutz des Landes, nicht, um Einzumarschieren, lautet die
offizielle Erklärung. Aus Angst vor einem Kurdenstaat, sagen andere.
Und die syrische Exilregierung? Die schaut, macht- und mittellos, zu, in
ihrem Exil in Gaziantep.
Hohe Mauern mit Stacheldraht, dahinter ein strahlend weißes
Wohnhaus, vier Stockwerke hoch. Im Eingang zum Grundstück
beobachtet ein junger Mann mit verschränkten Armen misstrauisch
das Treiben auf der vierspurigen Straße vor ihm. Unter seinem
Hemd zeichnet sich eine Pistole ab, die in seinem Hosenbund
steckt. Neben dem Eingang weht eine türkische Fahne, der zweite
Mast ist unbeflaggt. Auch sonst kein Hinweis darauf, dass es
sich hier um den Sitz der Syrischen Interims-Regierung - kurz:
SIG - handelt.
Der Weg in den obersten Stock zum Büro des Ministerpräsidenten
führt an seinen Ministerien vorbei: Bildung, Verteidigung,
Soziales. Von hier aus sollen die von der gemäßigten Opposition
befreiten
Gebiete
Syriens
verwaltet
werden.
Durch
halb
geöffnete Türen sind leere Schreibtische zu sehen. Ein Mann
balanciert müde ein Tablett mit Teegläsern über den Flur. Im
dritten Stock das Finanzministerium. Ein Mitarbeiter geht
voran:
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“No one here – the Finance Ministry is closed ...”
Ahmed Toumeh lässt sich nichts anmerken. Aufrecht sitzt er
hinter einem massiven Schreibtisch und blickt väterlich durch
seine dicken Brillengläser auf Dolmetscher und Gast. Der
50Jährige mit grau meliertem, kurzgestutztem Vollbart ist Chef
einer Regierung, die pleite ist. Die Angestellten haben seit
Monaten keinen Lohn mehr bekommen, der Hausbesitzer hat wegen
Mietrückständen
Räumungsklage
erhoben.
Aus
Katar,
dem
Hauptsponsor der syrischen Opposition, kommt kein Geld mehr.
Durch Toumehs beleibten Oberkörper geht ein Ruck.
„Vielleicht ist es nicht hundert Prozent korrekt, aber wir
glauben, dass uns die internationale Gemeinschaft klein halten
will. Sie weiß, dass es im Augenblick nicht möglich ist, Bashar
al Assad zu stürzen. Darum wollen sie uns dazu bringen, mit
Assad
Friedensgespräche
zu
führen
und
uns
auf
eine
Einheitsregierung einzulassen. Wir haben gesagt: Mit einzelnen
Mitgliedern der Regierung, die nicht an Verbrechen beteiligt
waren, können wir verhandeln. Aber niemals mit Assad selbst und
seiner Bande von Mördern.“
Doktor Ahmed Toumeh ist eigentlich Zahnarzt. Zwei Jahre lang
saß er in einem Foltergefängnis des Regimes. Er erhebt sich
schwerfällig, geht auf eine Landkarte zu, die an der Wand
gegenüber hängt und zeigt auf seine Heimatstadt Deir-al Zor.
Sie liegt in einem der wenigen grenznahen Gebiete, die noch
immer unter Regierungskontrolle sind. Der Rest gehört der
Terrormiliz IS oder den Kurden. Bevor er sich wieder setzt,
kreist er mit seinem rechten Zeigefinger noch ein paar Flecken
an der syrischen Küste ein. Dort hat die Freie Syrische Armee
die Oberhand. Dort regiert Toumeh.
„Anfangs war unser Sitz in Sanliurfa nahe der syrischen Stadt
Rakka. Die wollten wir befreien und zur Hauptstadt eines freien
Syriens machen. Aber inzwischen hat der IS Rakka übernommen.
Nun sind wir in Gaziantep. Erstens weil hier die meisten Syrer
leben, gemessen an der Einwohnerzahl. Und zweitens liegt
Gaziantep
auch in der Nähe der syrischen Grenze. Und nicht
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weit von Aleppo, dem wirtschaftlichen Zentrum unseres Landes.
So können wir mit unserer Heimat Kontakt halten. “
Der Exil-Regierungssitz liegt zwischen einem Küchenausstatter
und einer Konditorei, in der die für Gaziantep berühmten
Schokoladen-pralinees angeboten werden. Im Café sitzt ein
Regierungs-mitarbeiter, der lieber anonym bleiben will, und
rührt unruhig in einer Tasse Kaffee herum. Auch er hat seit
Monaten kein Geld mehr bekommen. Exil-Regierung? Koalitionen?
Diplomatie? Er winkt ab.
„Wir Syrer sind verloren. Vier Jahre Krieg und Elend in unserem
Land, statt in die Schule zu gehen, rennen unsere Kinder um ihr
Leben oder müssen arbeiten, um ihre Familien zu ernähren. Seit
vier Jahren geht das so – und keiner tut etwas. Warum? Weil es
Staaten wie Israel gefällt, wenn sich Syrien selbst völlig
zerstört. Die Welt hat uns fallengelassen, das ist die
Wahrheit. Schauen Sie sich die Zahlen an. Wie viele von uns hat
die Türkei aufgenommen? Zwei Millionen. Wie viele hat Europa
aufgenommen? 200.000? Ihr solltet euch schämen!“
Vor dem Eingang der Exilregierung hat jetzt ein älterer
türkischer Polizist Posten bezogen. Er sitzt auf einem
Plastikstuhl und hat die Beine von sich gestreckt. Die
gemäßigte syrische Opposition muss nicht nur die Rache des
Assad-Regimes fürchten, sondern auch die Terroristen des
Islamischen Staates. Regierungschef Toumeh schaut aus dem
Fenster seines Amtssitzes hinunter auf die Straße. Der
Mittelstreifen
ist
in
lockeren
Abständen
mit
Oleander
bepflanzt. Ein Kehrwagen fährt vorbei.
„Wir ermahnen unsere Landsleute in Gaziantep immer wieder,
dankbar zu sein, die Besonderheiten des Gastlandes Türkei zu
respektieren und sich rücksichtsvoll zu verhalten. Wir danken
der türkischen Regierung für ihre Großzügigkeit. Zwei Millionen
zusätzliche Menschen sind eine Bürde – wir wissen das.“
Literaturpassage 3
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Ich lehnte den Kopf an die Scheibe und wiederholte meinen Schwur: „Ich werde mein
Leben dieser hügellosen, gelben Ebene anpassen. Ich werde zu einem winzigen Teil
dieser Ebene werden.“ Da schauten die Kinder auf einmal wie einem süßen Traum
ins Gesicht. Ich vertraute auf meinen Verstand. Wenn es notwendig sein sollte, zu
verwildern, um mich meiner Umgebung anzupassen, dann würde ich es tun. Wäre es
notwendig, dass ich mich langsamer bewegte und mein Gesicht runzlig würde von
der Sonne, dann würde ich dafür sorgen. Ich war bereit zu tun, was auch immer nötig
war, denn dies war meine letzte Flucht. (…) Ich wollte keine Fremde sein, vor der
Kinder und Katzen auf der Hut waren und die sie vorsichtig musterten. Ich wollte wie
ein matter Punkt auf einem Bild werden, ja, ein völlig lebloser Punkt. Punkt auf einem
Bild, den niemand wirklich wahrnahm. Ich floh nach Harran. Dies sollte meine letzte
Flucht sein.“
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Anmoderation Reportage 5 – Neue Hoffnung
Syrien ist nach den Palästinensischen Autonomiegebieten, Israel und dem
Libanon das am dichtesten besiedelte Land im Nahen Osten. Vor Beginn des
Bürgerkrieges lebten 22 Millionen Menschen in Syrien, die ihre
Zugehörigkeit über ihre Sprache oder ihre Religion definieren. Araber,
Kurden, Armenier, Turkmenen, Tscherkessen, Aramäer oder Assyrer. Sie
sprechen Hocharabisch, kurdische Dialekte, Westarmenisch oder Syrisch,
sind Sunniten, Schiiten, Alawiten, Christen oder Jesiden.
In der Türkei sind sie schlicht: Syrer. Für die türkische Bevölkerung, aber
auch sie selbst definieren sich oft so. Die Flucht in die Fremde hat viele
syrische Flüchtlinge zusammengeschweißt und auch eine Gruppe Frauen in
Gaziantep enger zusammenrücken lassen.
Das Taxi gleitet durch den dichten Verkehr von Gaziantep, der
Fahrer blinzelt über das Lenkrad und wechselt bei jeder sich
bietenden Lücke auf die andere Spur. Die Rückenlehne hat er
weit nach hinten gestellt, er liegt fast in seinem Auto. Und
ganz
entspannt
spricht
er
auch
über
die
syrischen
Neuankömmlinge in seiner Stadt.
„Die Syrer haben meiner Meinung nach Vor- und Nachteile. Auf
der einen Seite laufen die Geschäfte wegen ihnen ja besser.
Auch für uns Taxifahrer. Aber auf der anderen Seite sind zum
Beispiel die Mieten gestiegen. Die werden auch nicht wieder
sinken, wenn die Syrer morgen wieder nach Hause gehen.
Schlechte Menschen gibt es überall. Auch unter uns Türken gibt
es Kriminelle. Man sollte das nicht einem ganzen Volk
vorwerfen.“
Ankunft in einer Seitenstraße. Auch hier haben syrische
Flüchtlinge ein Café eröffnet, auf der Terrasse stehen braune
Stühle auf Kunstrasenmatten. An drei nebeneinander gestellten
Tischen
sitzen
ein
Dutzend
Frauen
jenseits
der
50
und
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unterhalten sich aufgekratzt. Ein einziges Kopftuch ist zu
sehen, alle anderen Damen tragen kurzärmelige Kleider und viel
Goldschmuck. Einkaufstüten stehen neben den Stühlen, einige
habe ihre Enkelkinder mitgebracht. Sie alle gehören zum
syrischen Frauenchor von Gaziantep.
„Wir kommen aus allen 13 Provinzen Syriens. Wir kannten uns
vorher nicht. Wir singen Lieder aus den Heimatprovinzen der
Chormitglieder und wir singen auch Lieder der Nicht-arabischen
Minderheiten, der assyrischen Christen, Kurden, Armenier oder
Turkmenen. Ich bin Christin, die beiden Damen dort gehören zur
Minderheit der Ismaili, daneben sitzt eine Sunnitin. Wir sind
alle Syrer! So sieht das syrische Mosaik aus!“
Hala Hayek ist die Chorleiterin. Sie trägt ihre silbergrauen
Locken hochgesteckt, dazu ein wallendes lila Kleid.
„Nach der Revolution sind wir erst nach Dubai gegangen. Aber
ich hatte Gaziantep ein paar Mal besucht und finde, es ist der
richtige
Ort,
um
sich
auf
eine
Rückkehr
nach
Syrien
vorzubereiten. Der Geruch, die orientalische Mentalität... Ich
könnte auch in Deutschland leben, meine Kinder sind dort, aber
ich bleibe lieber hier.“
Der Kellner stellt kleine Imbisse auf den Tisch, dazu gibt es
Tee und Limonade. Rajaa Nabbout reicht eine bunte Karte herum.
Alle sollen unterschreiben; ein Chormitglied verlässt Gaziantep
Richtung Europa. Nabbout hat glänzend rot getönte Haare und
eine ärmellose Bluse über der Jeans. Eine moderne Frau aus dem
Geschäftsviertel von Aleppo.
„Indem wir hier zusammenkommen und singen, versuchen wir
unseren Schmerz und unsere Trauer zu vergessen. Die Chorproben
sind uns heilig. Wir lassen alles stehen und liegen, um
zusammen zu singen und auch zu tanzen. Und nun haben wir auch
begonnen, den Mitgliedern Kurse anzubieten. Ich biete zum
Beispiel Kurse in Gesprächsführung an, die Freundin dort ist
Psychologin und bietet psychologische Beratung. Wir Frauen
wollen uns gegenseitig stärken.“
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Die Frauen wiegend sich auf ihren Stühlen im Takt, sie schauen
ihrem Gegenüber beim Singen aufmunternd in die Augen. Hier und
da fließt eine Träne. In dem Lied geht es um Liebe und um die
schöne Blume Jasmin. Damaskus ist die Stadt des Jasmin und der
Liebe.
„Mit
der
Musik
sprechen
wir
eine
andere
Sprache
als
die
Politik, wo es immer nur um die Dinge geht, die uns trennen.“
Absage
Das Beispiel Gaziantep – Leben mit den Flüchtlingen
Das waren „Gesichter Europas“ mit Reportagen von Gunnar Köhne.
Die
Literaturauszüge
stammten
aus Yeşim Dormans Kurzgeschichte
„Vollmond über Harran“, erschienen im Sammelband „Von Istanbul nach
Hakkâri. Eine Rundreise in Geschichten“ im Unionsverlag Zürich. Gelesen
von Edda Fischer.
Musikauswahl und Regie: Babette Michel.
Ton und Technik: Hendrick Manook und Angelika Brochhaus
Am Mikrofon war Anne Raith
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