Anwendung sozialwissenschaftlicher Theorien und Befunde

Innovative Forschung – Theorien, Methoden, Konzepte
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Branscheidt
Die Anwendung sozialwissenschaftlicher Theorien und Befunde ist in der Praxis zwar üblich, sie folgt
aber regelmäßig keiner expliziten Methodik. Die wissenschaftliche Methodenlehre stellt auch keine
entsprechende Methode zur Verfügung, sie beschränkt sich im Wesentlichen auf das Testen von
Theorien und die Theorienentwicklung. In diesem Band wird eine Methode zur Anwendung sozialwissenschaftlicher Theorien und Befunde vorgestellt. Die Methode basiert auf den Ausführungen
von Peirce zum hypothetischen Schlussfolgern und zur Abduktion sowie der Zweistufenkonzeption
Carnaps und dem wissenschaftstheoretischen Strukturalismus. Sie findet ein besonderes Anwendungsfeld in der sozialpsychologischen Reinterpretation rechtlicher Normen, da hier das in der
Sozialpsychologie übliche experimentelle Vorgehen fehlschlagen würde. Exemplarisch angewendet
wird sie auf Teile des Arbeitsrechts. Weitere Anwendungsfelder werden aufgezeigt.
Anwendung sozialwissenschaftlicher Theorien und Befunde
Lars Branscheidt
Anwendung sozialwissenschaftlicher
Theorien und Befunde
Sozialpsychologische Reinterpretation rechtlicher Normen
3
ISBN 978-3-8487-2248-8
Nomos
BUC_Branscheidt_2248-8.indd 1
23.04.15 08:45
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Die Schriftenreihe bietet ein Forum für vielversprechende NachwuchswissenschaftlerInnen, die mit innovativen Methoden und Konzepten neue
Forschungsansätze in den Sozialwissenschaften verfolgen und etablieren
möchten. Ziel der Reihe ist es insbesondere, Best-Practice Beispiele für die
Anwendung neuer Theorien, Methoden und Konzepte aufzuzeigen. Dabei
dienen die Bände auch denjenigen Wissenschaftlern als Nachschlagewerke,
die sich mit innovativen Forschungsdesigns beschäftigen oder selbst neue
Forschungswege beschreiten möchten.
Publikationen der Schriftenreihe richten sich explizit an Vertreter aller Sozial­
wissenschaften und erscheinen in englischer, deutscher oder französischer
Sprache.
Innovative Forschung – Theorien, Methoden, Konzepte
Band 3
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09.04.15 15:58
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Lars Branscheidt
Anwendung sozialwissenschaftlicher
Theorien und Befunde
Sozialpsychologische Reinterpretation rechtlicher Normen
Nomos
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Zugl.: München, Univ., Diss., 2015
ISBN 978-3-8487-2248-8 (Print)
ISBN 978-3-8452-6340-3 (ePDF)
1. Auflage 2015
© Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2015. Printed in Germany. Alle Rechte, auch
die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Danksagung
Inspiriert zu dieser Arbeit wurde ich durch die Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Öffentliche Gemeingüter, in denen in unterschiedlicher Weise argumentiert wird, dass die Erkenntnisse der Sozialwissenschaften und hier
besonders die der Psychologie für die Rechtwissenschaft ergiebig sein können.
Mit dem Zusammenhang von Recht und Psychologie hatte sich auch bereits Herr Professor Dr. Hermann von der Juristischen Fakultät der LudwigMaximilians-Universität München befasst. Nach intensiven Gesprächen sind er
und ich zu der Auffassung gelangt, dass mein Vorschlag, das Recht aus psychologischer Perspektive zu interpretieren, eine eingehende Untersuchung Wert ist.
Für die Ermutigung zu diesem Vorhaben, für seine enge und sehr persönliche
Begleitung sowie seine juristische Betreuung möchte ich ihm ganz besonders
danken.
Ebenfalls sehr bedanken möchte ich mich bei Herrn Professor Dr. Eckert
von der Fakultät für Psychologie und Pädagogik für die sozialwissenschaftliche
Betreuung und damit auch für die Ermöglichung der Einreichung dieser fakultätsübergreifenden Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Meine ursprüngliche Herangehensweise zu diesem Thema lässt sich am
ehesten als ein intuitiver Interpretationszugang begreifen. Interessiert an einer
fundierten Methodik begann ich mich während der Bearbeitung des Themas zunehmend mit Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie zu beschäftigen. In
dieser Zeit lernte ich auch Herrn Dr. Andreas von der Philosophischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München kennen und schätzen (jetzt
Professor an der University of British Columbia). Er hat mir den qualifizierten Zugang zur Wissenschaftstheorie erst ermöglicht und mein Vorhaben, eine
einfache und praktisch handhabbare Methode zur Anwendung von Theorien zu
entwickeln, sehr gefördert. Dafür möchte ich mich ganz außerordentlich bei
ihm bedanken.
Für die zügigen und sorgfältigen Lektorate bedanke ich mich bei Frau Dr.
Hangen und Herrn Dr. Manz sowie für die Verlegung der Arbeit und die angenehme Zusammenarbeit beim Nomos Verlag.
Die Entstehung einer berufsbegleitenden Dissertation berührt stets auch das
Private. Sie ist Belastung und Herausforderung zugleich. Für die stetige Unterstützung möchte mich auch ganz herzlich bei meiner Frau Marianna bedanken.
München, 2015
Lars Branscheidt
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
13
Erstes Kapitel: Grundlagen und Fragestellung
A. Experimente
I.
Auslese und Alltagstheorien
II.
Experimentelle Wissenschaften
B. Auslegung und Dogmatik
I.
Auslegungsmethoden
II.
Rechtsdogmatik und Systemtheorie
C. Ansatz und Grenzen
I.
Herleitung des Ansatzes
II.
Empirisches und metaphysisches Recht
15
15
15
17
20
20
22
24
24
25
Zweites Kapitel: Methode
A. Wissenschaftstheoretische Grundlagen
I.
Hypothetisches Schlussfolgern bzw. selektive Abduktion
II.
Kreative Abduktion
III. Beobachtungssprache und theoretische Sprache
IV. Strukturalistisches Theorienverständnis
B. Umsetzung
I.
Wissenschaftstheoretische Aspekte
II.
Fachwissenschaftliche Aspekte und Themeneingrenzung
26
26
26
28
29
34
42
42
47
Drittes Kapitel: Kündigungsschutz
A. Darstellung des Rechts
I.
Rechtsnatur von Kündigungen
II.
Schriftformerfordernis
III. Betriebsratsanhörung
IV. Arbeitsverhältnis und Arbeitnehmereigenschaft
V.
Ordentliche Kündigung
VI. Außerordentliche Kündigung
VII. Kündigung nach dem Kündigungsschutzgesetz
VIII. Anwendbarkeit des KSchG
IX. Interessenabwägung und Ultima-Ratio-Prinzip
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7
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Inhaltsverzeichnis
X.
Kündigungseinspruch und Feststellungsklage
B. Darstellung der Theorien und Interpretation
I.
Gerechtigkeit
1.
Darstellung
2.
Interpretation
3.
Schlussbetrachtung
II.
Kontrolle
1.
Darstellung
2.
Interpretation
3.
Schlussbetrachtung
III. Attribution
1.
Darstellung
2.
Interpretation
3.
Schlussbetrachtung
IV. Selbstaufmerksamkeit
1.
Darstellung
2.
Interpretation
3.
Schlussbetrachtung
65
66
66
67
73
79
81
81
85
87
89
89
93
95
97
97
99
101
Viertes Kapitel: Betriebliche Mitbestimmung
A. Darstellung des Rechts
I.
Grundsatz der betrieblichen Mitbestimmung
II.
Allgemeine Regelungen
III. Mitwirkungs- und Beschwerderecht des Arbeitnehmers
IV. Soziale Angelegenheiten
V.
Gestaltung von Arbeitsplatz, -ablauf und -umgebung
VI. Personelle Angelegenheiten
VII. Wirtschaftliche Angelegenheiten
B. Darstellung der Theorien und Interpretation
I.
Gerechtigkeit
1.
Darstellung
2.
Interpretation
3.
Schlussbetrachtung
II.
Kontrolle
1.
Darstellung
2.
Interpretation
3.
Schlussbetrachtung
III. Kooperation
1.
Darstellung
2.
Interpretation
3.
Schlussbetrachtung
103
103
103
105
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109
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113
115
115
115
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132
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8
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Inhaltsverzeichnis
Fünftes Kapitel: Schluss
A. Zusammenfassung
I.
Grundlagen und Fragestellung
II.
Methode
III. Kündigungsschutz
IV. Betriebliche Mitbestimmung
B. Ausblick
I.
Diskussion der Ergebnisse
II.
Anwendung im Recht
III. Anwendung in sozialwissenschaftlichen Handlungsfeldern
140
140
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Tabellenverzeichnis
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26
10
Unterscheidung von Deduktion, Induktion und Hypothese
Equity-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kontrolltheoretischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . .
Interpersonale Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . .
Informationale Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . .
Equity-Theorie und Sozialauswahl . . . . . . . . . . . . .
Kontrolltheoretischer Ansatz und Kündigungsrecht . . . .
Kontrollstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kontrollstrategien und Kündigungsrecht . . . . . . . . . .
Zuschreibungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kovariationsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kausalattribution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Attributionale Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Attributionale Theorie und Kündigungsgründe . . . . . . .
Attributionale Theorie und Kündigungsgründe: Informationsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Selbstaufmerksamkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . .
Selbstaufmerksamkeitstheorie und Schriftform . . . . . .
Equity-Theorie und Mitbestimmung . . . . . . . . . . . .
Kontrolltheoretischer Ansatz und Mitbestimmung . . . . .
Informationale Gerechtigkeit und arbeitnehmerspezifische
Informationsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kontrollstrategien und Mitbestimmung . . . . . . . . . . .
Kooperations-Konkurrenz-Theorie . . . . . . . . . . . . .
Matrix des Dual-Concern-Modells . . . . . . . . . . . . .
Dual-Concern-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kooperations-Konkurrenz-Theorie und BetrVG . . . . . .
Dual-Concern-Modell und Betriebsrat . . . . . . . . . . .
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27
69
71
72
73
75
78
83
85
90
91
91
92
94
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95
98
100
117
122
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129
133
134
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Sigel
AP
Arbeitsrechtliche Praxis, Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts.
APS
Ascheid, Reiner /Preis, Ulrich /Schmidt, Ingrid (Hrsg.), Kündigungsrecht: Großkommentar zum gesamten Recht der Beendigung von Arbeitsverhältnissen.
BT-Drs.
Drucksache des Deutschen Bundestages.
DKKW
Däubler, Wolfgang u. a. (Hrsg.), Betriebsverfassungsgesetz.
Dreier
Dreier, Horst (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar.
ErfK
Müller-Glöge, Rudi /Preis, Ulrich /Schmidt, Ingrid (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht.
EzA
Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht.
GK-BetrVG
Wiese, Günther u. a. (Hrsg.), Gemeinschaftskommentar Betriebsverfassungsgesetz.
HKK-BGB
Schmoeckel, Mathias /RÜckert, Joachim /Zimmermann, Reinhard (Hrsg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB. Bd.
1.
KR
Gerhard, Etzel u. a. (Hrsg.), Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsschutzgesetz und zu sonstigen kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften.
Maunz-Dürig Herzog, Roman u. a. (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar.
MüArbR
Richardi, Reinhard u. a. (Hrsg.), Münchener Handbuch zum
Arbeitsrecht.
MüKoBGB
Säcker, Franz J. /Rixecker, Roland /Oetker, Hartmut (Hrsg.),
Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch.
NJW
Neue Juristische Wochenschrift.
NZA
Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht.
RBetrVG
Richardi, Reinhard (Hrsg.), Betriebsverfassungsgesetz mit Wahlordnung.
RdA
Recht der Arbeit.
Staudinger
Staudingers, Julius von (Hrsg.), Kommentar zum Bürgerlichen
Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen.
vHHL
Hoyningen-Huene, Gerick von /Linck, Rüdiger (Hrsg.), Kündigungsschutzgesetz.
vMKS
Starck, Christian (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar.
11
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Symbolverzeichnis
λ
R
G
I
I0
K
L
M
M pp
Mp
P
Q
S
SB
ST
T
Z
12
Band
reelle Zahlen
Gewicht
intendierte Anwendung bzw. Interpretation
erste intendierte Anwendung bzw. Interpretation
Theoriekern
Längenabstand
Modell
partielles potenzielles Modell
potenzielles Modell
Partikel
Querverbindung
Wissenschaftssprache
Beobachtungssprache
theoretische Sprache
Theorie bzw. Theorieelement
Zuordnungsregel
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Einleitung
Was ist Recht? Eine gebräuchliche Antwort auf diese Frage lautet: Recht ist
das, was in den Gesetzen steht und an den Gerichten durchgesetzt wird. Ob
die Durchsetzung von Recht und damit Macht ein notwendiges Kriterium von
Recht ist, lässt sich kritisch hinterfragen. Jellinek kommt zu dem Ergebnis, dass
eine dauerhafte Aufrechterhaltung von Recht ausschließlich durch Macht unmöglich ist.1 Auch für den Rechtsphilosophen Bierling kann „die Anwendbarkeit von Zwangsmitteln [...] unmöglich ein wesentliches Merkmal alles Rechts
sein“2 . Die Ablehnung von Zwang erinnert an Habermas, nach dem genau die
Normen gültig sein sollen, denen möglichst alle Betroffenen in zwangloser
Kommunikation zustimmen können.3 Für Habermas ist ein „Rechtsstaat ohne
radikale Demokratie nicht zu haben und nicht zu erhalten“4 .
Wird der Auffassung dieser Autoren gefolgt, so lässt sich erwarten, dass dem
Recht eine soziale Komponente innewohnen sollte. Während Habermas in seinen Schriften auf den Prozess der Kommunikation abstellt und von gemeinsamen Interessen spricht5 , müssen sich bei Bierling Normen „an den Willen
der Menschen“6 ausrichten, und auch für Jellinek gilt eine Norm dann, „wenn
sie die Fähigkeit hat, motivierend zu wirken, den Willen zu bestimmen“7 . Das
Recht soll nach ihm „auf rein psychologischen Elementen ruhen“8 . Auch für
Petrażycki ist Recht das Ergebnis eines psychischen Prozesses.9
In der gegenwärtigen Literatur lassen sich vereinzelt Anregungen zur Erforschung psychologischer Zusammenhänge im Recht finden. Analog zum Vorgehen in der angewandten Psychologie können sie zwei unterschiedlichen Forschungsstrategien zugeordnet werden. Während auf der einen Seite versucht
wird, eine eigene Psychologie des Rechts zu entwickeln, ist es auf der anderen Seite das Ziel, bekannte psychologische Zusammenhänge im Recht zu erkennen.10 Beispielsweise versucht Fittipaldi auf intuitiver Grundlage ein eige-
1
2
3
Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 342.
Bierling, Juristische Prinzipienlehre, S. 51.
Habermas, Faktizität und Geltung, S. 138; ders., Theorie des kommunikativen Handelns,
S. 133; vgl. auch Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 155.
4 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 13.
5 Ders., Theorie des kommunikativen Handelns, S. 133; ders., Faktizität und Geltung, S. 139.
6 Bierling, Juristische Prinzipienlehre, S. 19.
7 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 333.
8
Ebd., S. 334.
9 Petrażycki, Law and morality, S. 324.
10 Diese Unterscheidung lässt sich beispielsweise auch in der Arbeits- und Organisationspsychologie wiederfinden. So versuchen manche Forschungsarbeiten eigene themenspezifische
13
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Einleitung
nes psychologisches Rechtsverständnis zu entwerfen.11 Auch Hommers geht
in seiner Juristenpsychologie vom Recht aus und entwickelt ein eigenes psychologisches Modell.12 Engel schlägt hingegen vor, die im Wissenschaftsfach
Psychologie bekannten Verhaltenserkenntnisse in die Rechtsdiskussion zu integrieren.13 Er geht davon aus, dass sich die Psychologie rechtswissenschaftlich
etablieren kann, wenn sie hilft, das Recht zu interpretieren.14 Die vorliegende
Arbeit lässt sich der letzteren Forschungsstrategie zuordnen. Es wird versucht,
psychologische Zusammenhänge im Recht zu erkennen und somit das Recht
mithilfe der Psychologie zu interpretieren. Damit geht es nicht um Normauslegung nach der klassischen juristischen Methodologie, sondern um die psychologische Bedeutung von Normen.
Obwohl das Erkennen von psychologischen Zusammenhängen und damit
die Anwendung und Nutzung psychologischer Theorien in der Praxis üblich
ist (z. B. im Personal- und Organisationskontext, in der Beratung etc.), folgt
dieser Prozess regelmäßig keiner fundierten Methodik. Von wissenschaftlicher
Seite wird den Anwendern auch kein genauer bestimmtes Vorgehen empfohlen.
Die Methodenlehre beschränkt sich hinsichtlich des Umgangs mit Theorien im
Wesentlichen auf deren Entwicklung und Überprüfung.
Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Arbeit eine Methodik für das
Erkennen psychologischer Zusammenhänge und damit für das Anwenden von
Theorien ausformuliert. Diese Methodik basiert auf Peirce’ hypothetischer
Schlussfolgerung (selektiver Abduktion), auf Carnaps Unterscheidung von
beobachtbaren und theoretischen Begriffen und den Erkenntnissen des wissenschaftstheoretischen Strukturalismus. Mit der exemplarischen Anwendung
dieser Methodik auf das Arbeitsrecht wird gezeigt, wie sich Recht psychologisch interpretieren lässt.
Theorien zu entwickeln, während in anderen Arbeiten beispielsweise klassische sozialpsychologische Theorien themenspezifisch angewendet werden.
11 Fittipaldi, Everyday legal ontology.
12 Hommers, Die Juristenpsychologie als Heuristik für die empirische Psychologie: Gesamtschau
und Einzelabwägung.
13 Engel, Verhaltenswissenschaftliche Analyse: eine Gebrauchsanweisung für Juristen, 363–405
(S. 364, 378).
14 Ebd., 363–405 (S. 379); vgl. Emge, Akademie der Wissenschaften und der Literatur 1954.
14