„Arbeit oder individueller Lebensrhythmus

„Arbeit oder individueller Lebensrhythmus - Wer gibt den Takt vor? Optionen
für eine lebensphasenorientierte Arbeitszeitgestaltung“
Experten-Workshop im Kontext des Dialogprozesses „Arbeiten 4.0“
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat im Jahr 2015 den Dialogprozess „Arbeiten
4.0“ in Gang gesetzt, um zu erörtern, welche Gestaltungschancen es vor dem Hintergrund des
technologischen und kulturellen Wandels für die Zukunft der Arbeit gibt. Zur Beschreibung der
Ausgangslage wurde ein „Grünbuch“ erstellt, das in sechs Handlungsfeldern insgesamt 30
Leitfragen stellt. Am Ende des Prozesses ist eine Aufbereitung der Ergebnisse in einem „Weißbuch“ geplant. Nach einer Auftaktveranstaltung am 22. April 2015 unter dem Motto „Arbeit
weiter denken!“ wird der Dialogprozess auch im Rahmen eines Fachdialogs geführt, der als
Workshop-Reihe unter Beteiligung von Experten aus Wissenschaft und Praxis konzipiert ist.
Der erste Workshop fand am 12. Juni 2015 im Bundesministerium für Arbeit und Soziales in
Berlin zum Thema „Arbeit oder individueller Lebensrhythmus – Wer gibt den Takt vor? Optionen für eine lebensphasenorientierte Arbeitszeitgestaltung“ statt. Etwa 30 Vertreterinnen und
Vertreter aus Unternehmen (Management und Betriebsräte) und Wissenschaft sowie weitere
Vertreterinnen und Vertretern der Ministerialverwaltung nahmen daran teil. Das Ziel des Workshops war, unterschiedliche Verständnisse von „Flexibilisierung“ zu klären, unterschiedliche
Interessen der Arbeitszeitgestaltung zu analysieren und geeignete Gestaltungsoptionen für
Unternehmen, Beschäftigte, Sozialpartner und Politik zu erörtern. Die Leitfrage war, wie die
Chancen der Digitalisierung so genutzt werden können, dass der wirtschaftliche Erfolg von
Unternehmen und ein selbstbestimmtes Leben von Beschäftigten noch besser miteinander
vereinbar werden. Zehn Referentinnen und Referenten stellten in Kurzvorträgen ihre Forschungsergebnisse und Überlegungen zur Diskussion.
Teil 1: Deskription und Analyse
Im ersten Teil des Workshops wurden Arbeitszeitwünsche der Beschäftigten, Arbeitszeitbedarfe der Unternehmen und die derzeit praktizierten Arbeitszeitregelungen dargestellt. Aus der
Arbeitsmarktforschung wurde berichtet, dass die Arbeitszeitwünsche der Beschäftigten von
den Arbeitszeitrealitäten abweichen. Nach Ergebnissen der Arbeitskräfteerhebung wünschten
sich 2014 rund 3 Millionen Erwerbstätige im Alter von 15 bis 74 Jahren mehr Arbeit, während
knapp 1 Million Erwerbstätige lieber weniger arbeiten würden. Am deutlichsten ausgeprägt ist
der Wunsch nach einer Ausweitung der Arbeitszeit bei Beschäftigten in (niedriger) Teilzeit und
geringfügiger Beschäftigung, während viele Vollzeitbeschäftigte sich eine Reduktion ihrer Arbeitszeit wünschten. So präferieren 56 Prozent der vollzeitbeschäftigten Männer und 62 Prozent der vollzeitbeschäftigten Frauen eine um mindestens zwei Stunden verkürzte Arbeitszeit
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und wären zu proportionalen Einkommenseinbußen bereit.1 Zudem werden die Arbeitszeitbedarfe von Arbeitnehmern zunehmend komplexer: Neben der Wählbarkeit von Dauer, Lage und
Verteilung der Arbeitszeit werden auch eine Abstimmung der Arbeitsintensität auf unterschiedliche Lebensphasen und geförderte Zeitkontingente für persönliche und gesellschaftliche Zeitbedarfe gewünscht.
Aus Sicht der Unternehmen sind einige der diskutierten Arbeitszeitmodelle (wie Kurzzeitkonten, Gleitzeit, Vertrauensarbeit) schneller umzusetzen als andere. Nach dem IW-Personalpanel 2013 boten rund 76 Prozent der Unternehmen flexible Arbeitszeitmodelle an (davon ca. 48
Prozent für den Großteil der Beschäftigten und ca. 28 Prozent nur für ausgewählte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter), während Lebensarbeitszeitmodelle nur in etwa 13 Prozent (davon ca.
5 Prozent für den Großteil der Beschäftigten und ca. 8 Prozent für ausgewählte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter) existierten. Grundsätzlich sind für die Unternehmen Wünsche zur Erweiterung der Arbeitszeit leichter erfüllbar als zur Reduktion der Arbeitszeit. Familienfreundliche
Regelungen praktizierten schon viele Unternehmen. Nach den Daten des IW-Personalpanels
2012 boten 84 Prozent der Unternehmen Teilzeit und 64 Prozent flexible Tages-/Wochenarbeitszeit an. Vertrauensarbeitszeit existierte in 51 Prozent der Unternehmen, während Telearbeit und flexible Jahres-/Lebensarbeitszeit nur in jeweils etwa 20% der Unternehmen angeboten wurden, wobei auch die Unternehmensgröße und der Grad der Digitalisierung der Arbeit
eine Rolle spielen. Job Sharing-Modelle und Sabbaticals wurden nur von 11 bzw. 10 Prozent
der Unternehmen angeboten.
Aus Sicht der Genderforschung bestehen erhebliche Unterschiede in der Arbeitszeitorganisation von Männern und Frauen und bei diesen zwischen West- und Ostdeutschland. In beiden
Teilen Deutschlands arbeiten Frauen häufiger in Teilzeit als früher, im Osten lag nach einer
Untersuchung des DIW der tatsächliche Arbeitsumfang von in Teilzeit beschäftigten Frauen
mit knapp 28 Wochenstunden aber deutlich höher als im Westen mit etwa 22 Wochenstunden.
Mütter arbeiteten in Ostdeutschland zu 55,7 Prozent Vollzeit (1996: 76,7 Prozent), in Westdeutschland hingegen nur zu 25,2 Prozent (1996: 37,5 Prozent). 2 Vor allem in der Familienphase verfestigen sich die Unterschiede in den Arbeitszeiten zwischen den Geschlechtern,
und ein Großteil der Paare wählt das „Zuverdienermodell“ mit vollzeitbeschäftigtem Mann und
teilzeitbeschäftigter Frau.3 Dieses Modell hat in beiden Teilen Deutschlands an Gewicht gewonnen, in Westdeutschland auf Kosten des Modells „Vater Vollzeit / Mutter nicht erwerbstätig“, im Osten auf Kosten des Modells „beide Vollzeit“. Unterbrechungen der Erwerbsarbeit
sowie Teilzeitarbeit wegen der Übernahme der Familienarbeit einschließlich der Betreuung
von Kindern und Pflegebedürftigen führen insbesondere bei westdeutschen Frauen zu einer
Minderung der Berufserfahrung mit nachteiligen Langzeiteffekten, wie Lohneinbußen, aus denen sich geringere Rentenansprüche ergeben, oder eine geringere Weiterbildungsbeteiligung.
Die Nutzung flexibler Arbeitszeitmodelle im Einklang mit anderen Aufgaben gestaltet sich für
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Seifert, Hartmut (2014): Renaissance der Arbeitszeitpolitik: selbstbestimmt, variabel und differenziert. WISO-Diskurs - Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, S. 18.
Holst, Elke; Wieber, Anna (2014): Bei der Erwerbstätigkeit der Frauen liegt Ostdeutschland vorne,
DIW Wochenbericht Nr. 40.
Wagner, Susanne (2015): Frauen und Männer am Arbeitsmarkt. Traditionelle Erwerbs- und Arbeitszeitmuster sind nach wie vor verbreitet. IAB-Kurzbericht 4/2015.
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diese ebenso schwierig wie die Karriereplanung nach einer familienbedingten Auszeit. Aus
gesellschaftspolitischer Sicht wirkt sich die zunehmende zeitliche und räumliche Entgrenzung
der Arbeit belastend auf Familien aus, die dies kompensieren müssen. Beschäftigten sollten
Optionsmöglichkeiten eingeräumt werden, Zeitanteile der Erwerbsarbeit für gesellschaftlich
wichtige Zwecke (Bildung, Gesundheit, Elternschaft, Ehrenamt) umwidmen zu können.
In der Diskussion dieses Themenblocks wurde darauf hingewiesen, dass auf betrieblicher
Ebene unterschiedliche Arbeitszeitregelungen weit verbreitet sind, aber die Zahl der Beschäftigten, die diese Möglichkeiten nutzen, vergleichsweise gering ist. Insbesondere langfristige
Arbeitszeitmodelle, die eine lange Ansparphase voraussetzen, werden weniger in Anspruch
genommen. Außerdem werden neue Arbeitszeitmodelle weniger von Beschäftigten mit niedrigem Qualifikationsniveau und niedriger Vergütung sowie von Frauen mit Kindern genutzt.
Faktoren auf betrieblicher Ebene für die Vielfalt von Arbeitszeitmodellen sind der Grad der
Digitalisierung (Unternehmen, die IT-Technologie in großem Umfang für Produktions-, Vertriebs- und Organisationsprozesse nutzen) und die Unternehmensgröße, eher große Unternehmen als kleine und mittlere Unternehmen (KMU) nutzen dies. In der Belegschaft ist ein
Konsens über die Nutzung flexibler Arbeitszeitmodelle notwendig, da die Zeitsouveränität des
einen zu Lasten der Zeitsouveränität des anderen gehen kann. Betriebsräte können zu dieser
Abstimmung beitragen.
Teil 2: Gestaltungsoptionen – Neuer Flexibilitätskompromiss
Im zweiten Teil des Workshops wurden Gestaltungsoptionen und Möglichkeiten einer lebensphasenorientierten Arbeitszeitpolitik thematisiert.
Aus Sicht der Beschäftigten wäre es wünschenswert, wenn die Arbeitszeit sich stärker den
jeweiligen Lebensphasen anpassen könnte, also unterschiedliche stärker lebensphasenorientierte Arbeitszeitmodelle angeboten werden. Im Hinblick auf die Nutzung von Teilzeitbeschäftigung wurde festgestellt, dass diese für Führungskräfte noch wenig akzeptiert wird. Dagegen
würden geringqualifizierte Berufsgruppen oft gerne länger arbeiten, was ihnen aber nicht angeboten wird.
Am Beispiel eines Unternehmens, das ein neues Schichtmodell in gemeinsamen Workshops
mit Arbeitgeber, Betriebsrat sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unter Berücksichtigung
arbeitsmedizinischer Erkenntnisse entwickelt hat zeigt sich exemplarisch, dass die Einbeziehung der Beschäftigten ein wichtiger Erfolgsfaktor für die erfolgreiche Implementierung von
Flexibilisierungsoptionen ist.
Optionale Langzeitkonten erweisen sich als voraussetzungsreich und scheinen für bestimmte
Betriebe und Beschäftigte eher geeignet zu sein als für andere. Freistellungsansprüche müssen über längere Zeiten angespart werden, was Geringverdiener überfordert, und bei einem
Unternehmenswechsel muss deren Portabilität gesichert sein. In der Praxis hat sich häufig
eine Nutzung für den Vorruhestand durchgesetzt (als Ersatz für die frühere Altersteilzeit).
Grundsätzlich können optionale Langzeitkonten sehr flexibel auch für weitere Zwecke eingesetzt werden. Hinderliche Faktoren sind geringe Einkommen, die ein Ansparen von Zeitansprüchen verhindern, sowie Kostensprünge bei Arbeitszeitvariationen (z. B. bei betrieblicher
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Vorsorge oder vermögenswirksamen Leistungen). Auch eine Qualifikation der Belegschaft für
spezifische Funktionen, die bei Ausfall von Beschäftigten mit dieser Qualifikation durch andere
übernommen werden müssen, sowie deren Bereitschaft, Ausfälle zu kompensieren, sind erforderlich. Steuerliche Fehlanreize wie das Ehegattensplitting, das eine ungleiche Arbeitsverteilung zwischen Ehepartnern honoriert, sind zu beseitigen und Infrastrukturangebote (Kinderbetreuung, Pflege) bedarfsgerecht zu entwickeln.
Die Inanspruchnahme optionaler Langzeitkonten kann durch Rahmenbedingungen verbessert
werden, die Optionsmöglichkeiten garantieren und die die Arbeitnehmer/innen unterstützen,
die bisher solche Angebote kaum nutzen (z. B. untere Einkommensgruppen, Frauen mit Kindern, Beschäftigte in KMU). Die Organisation und Verwaltung von Langzeitkonten muss wenig
aufwändig gestaltet werden, damit KMU nicht überfordert werden. Eine stärkere Inanspruchnahme neuer Arbeitszeitmodelle kann durch Informations- und Überzeugungsarbeit gefördert
werden. Beschäftigte, die solche Modelle nutzen, können als „Leuchttürme“ wirken und deren
Akzeptanz erhöhen.
Ein Vorschlag zur rechtlichen Gestaltung von Wahlarbeitszeit zielt darauf ab, Gestaltungsoptionen auf kollektivrechtlicher Ebene zu garantieren, statt sie nur ad hoc auf individueller Ebene
umzusetzen. Dabei ist Bürokratie zu vermeiden, und Gestaltungsspielräume sollten auf betrieblicher Ebene belassen werden.
In der Diskussion dieses Themenblocks wurde angemerkt, dass neue Arbeitszeitmodelle sowohl von der Führungsebene akzeptiert als auch von der Belegschaft genutzt werden müssen.
Außerdem müssen die Tarifverträge entsprechend flexibel sein, um neue Arbeitszeitregelungen ausprobieren und umsetzen zu können. Auf eine gendergerechte Gestaltung von Arbeitszeitoptionen im Lebenslauf mit flexiblen Angeboten für einen späteren Karriereeinstieg sollte
geachtet werden.
Zeitpolitik ist nicht zuletzt eine umfassende gesellschaftspolitische Gestaltungsaufgabe, die
normative Entscheidungen erfordert. Diese können in einem „Leitbild“ systematisiert werden,
das die Akzeptanz neuer Arbeitszeitmodelle fördert und neue Vorstellungen von „Normalarbeitszeit“ formuliert.
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