11.08.2015, Aargauer Zeitung: Portrait Josef Sachs

DIENSTAG, 11. AUGUST 2015
AARGAUER ZEITUNG
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Königsfelden war gar nicht vorgesehen
Forensik Der Gerichtspsychiater und neugierige Menschenforscher Josef Sachs geht Ende August in Pension
Er reiste ins Luzerner Hinterland, suchte
und fand die Bäckerei und alsbald dann
auch das Herz der Bäckerstochter.
VON JÖRG MEIER
Josef Sachs ist wohl der bekannteste Psychiater in der Schweiz. Wenn irgendwo
ein Verbrechen die Menschen erschüttert,
ist häufig sein Wissen gefragt. Von den
Medien oft konsultiert, erklärt er, ohne zu
behaupten, lässt offen, was nicht zu beantworten ist. Seine Sätze sind druckreif,
das, was er über unverständliche Taten
und menschliche Abgründe sagt, ist einfach und hilft zu verstehen.
«Komplizierte Zusammenhänge verständlich zu erklären, das liegt mir und
das mache ich gerne», sagt Sachs. Ja, Lehrer wäre auch eine Option gewesen. Oder
Physiker. Oder Hausarzt. Hätte er damals
genug Geld gehabt, dann wäre Josef Sachs
gar nicht Psychiater und kein Experte für
forensische Psychiatrie geworden. Sondern er wäre heute – wie man annehmen
darf – als allseits geschätzter und beliebter
Allgemeinpraktiker in Sedrun tätig.
Aufhören ist kein Thema
Von Sedrun nach Wohlen
Als ältestes von sechs Kindern ist Josef
Sachs in Beinwil in Freiamt auf einem
Bauernhof aufgewachsen. Dorfschule, Bezirksschule in Muri, Kantonsschule in Aarau. Wenn der Weg ins abgelegene Beinwil
zu lang war, übernachtete er in der «Kosthütte» in Aarau. In jenem Haus, in dessen
Garten zurzeit Asylbewerber in Zelten untergebracht sind. Er studiert Physik an der
ETH, merkt dann aber, dass ihm das zu
abstrakt ist. «Ich hatte keine Freude, und
ich wusste, dass ich ohne Freude nicht
gut sein konnte.» Also wechselt Sachs die
Studienrichtung. Er wägt ab, ob er Veterinär oder doch lieber Hausarzt werden
möchte. Er entscheidet sich für das Letztere, studiert Humanmedizin. Macht die
Zusatzausbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin, übersiedelt in die Surselva
und kann sich vorstellen, in diesem Tal
mit seiner Familie ein Leben als Hausarzt
zu verbringen. In Sedrun wird ihm eine
Praxis zum Kauf angeboten. Die Praxis gefällt ihm. Auch das Dorf. Sachs rechnet, er
kommt zum Schluss, dass er sich die Praxis nicht leisten kann. Doch was nun?
In Königsfelden suchen sie einen Assistenzarzt. Sachs meldet sich. Er braucht einen Job und er möchte seine medizinische Ausbildung komplettieren. Er erhält
die Stelle, die Familie verlässt das Bündnerland und zieht nach Wohlen. Vorübergehend, wie er glaubt.
Doch dann geschieht Dreierlei. Josef
Sachs kommt auf den Geschmack. Die
Psychiatrie gefällt ihm, fasziniert ihn. Er
absolviert berufsbegleitend während fünf
Jahren die Zusatzausbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie.
Die drei Kinder kommen ins schulpflichtige Alter und wollen gar nicht mehr weg
von Wohlen. Schliesslich stellen auch die
Eltern fest, dass sie sich in Wohlen wohlfühlen. «Ich bin ein bekennender Freiämter», sagt Sachs, er erlebe hier eine spezielle Mischung zwischen Bodenständigkeit
und Offenheit. «Der Freiämter hat die Berge im Rücken und sieht in die Weite.»
Das Brot der Bäckerstochter
So kommt es, dass die Familie Sachs in
Wohlen bleibt. Seit 26 Jahren pendelt
Sachs täglich zwischen Königsfelden und
Dr. med. Josef Sachs, abtretender Chefarzt Forensik, auf dem Gelände der Klinik in Königsfelden.
«Ich möchte wissen,
warum ein Mensch
so und so handelt,
woher das kommt,
und wohin es führen
könnte.»
Josef Sachs (66) Psychiater
Wohlen. «Auf den 17 Kilometern zwischen
Brugg und Wohlen bleiben jeweils die belastenden Gedanken zurück, von Kilometer zu Kilometer fühle ich mich freier.»
Josef Sachs hat sich die Neugier aus den
Kindertagen bewahrt. Zu seinen Eigenheiten gehört sein besonderes Interesse für
Orte. Er muss jeden neuen Ort, an dem er
sich aufhält – und sei es nur für kurze Zeit
– gründlich erkunden. Bei seinem ersten
Praktikum im Landspital fiel er auf, weil
er alle Patienten bei der Visite zuerst fragte, aus welchem Dorf sie stammten.
«Vielleicht hat das mit meiner ländlichen Herkunft zu tun», sagt er. «Der Ort,
wo man lebt, ist für mich auch der Ort,
wo man sich engagiert.» Was er denn
auch tat und immer noch tut. Er präsidierte die Wohler Schulpflege, arbeitete in
Kommissionen und Stiftungen mit, enga-
SANDRA ARDIZZONE
gierte und exponierte sich für die offene
Jugendarbeit. Als der Begriff «Outdoor»
noch neu und unbekannt war und ein
Lehrer mit seiner Klasse das Abenteuer
ausprobieren wollte, gefiel Schulpfleger
Sachs das Projekt so gut, dass er spontan
fragte, ob er da auch mitmachen dürfe. Er
durfte – und so kam es, dass der Psychiater im Wald übernachtete.
Und wäre er nicht so neugierig gewesen, hätte er womöglich seine Frau nicht
gefunden: Als Sachs als junger Arzt in der
Klinik St. Urban arbeitete, war da auch
Krankenschwester Margrit aus dem Luzerner Hinterland. An ein Fest brachte sie
Brot mit. Das Brot schmeckte Sachs dermassen gut, dass er zu recherchieren begann: Und siehe da: Die Krankenschwester war auch Bäckerstochter. Da nahm es
Sachs wunder, woher diese Margrit kam.
1991 übernimmt Josef Sachs den Bereich
Forensische Psychiatrie der Psychiatrischen Dienste Aargau. 2012 wird er Chefarzt. Unter seiner Leitung wird der Bereich der Forensischen Psychiatrie durch
die Schaffung von drei forensischen Stationen und eines Forensischen Ambulatoriums aus der bestehenden Gutachtenstelle
aufgebaut. «Als ich hier anfing», erzählt
Sachs, «bestand die Abteilung aus drei Angestellten.» Heute beschäftigt das Zentrum für Forensische Psychiatrie mit seinen vier Bereichen über 100 Mitarbeitende. Auch auf nationaler Ebene hat Sachs
die Forensik stark weiterentwickelt und
geprägt. Etwa als Gründungspräsident der
Schweizerischen Gesellschaft für Forensische Psychiatrie sowie als Mitglied zahlreicher fachspezifischer Arbeitsgruppen und
Kommissionen wie auch als Autor diverser Fachpublikationen und Bücher.
«Ja», sagt er, ein bisschen stolz sei er
schon auf das Erreichte; es falle ihm auch
nicht ganz leicht, jetzt zu gehen. Obschon
er doch bereits ein Jahr über die ordentliche Pensionierung hinaus gearbeitet hat;
man hatte sich darauf geeinigt, dass er
bleibt, bis mit Peter Wermuth der passende Nachfolger gefunden ist.
Zum Schluss noch die Frage, auf die
Sepp Sachs doch eine Antwort haben
müsste. Wer denn, wenn nicht er, der
schon Hunderte von Gutachten über psychisch kranke Menschen verfasst hat: Ist
der Mensch böse?»
«Nein», sagt Sepp Sachs, «das ist er
nicht. Aber er hat Böses in sich. Jeder
Mensch hat beides in sich: Gutes und Böses. Aber das sind nicht meine Kriterien.
Ich möchte wissen, warum ein Mensch so
und so handelt, woher das kommt und
wohin das führen könnte.»
Ende August wird Sachs das von ihm
aufgebaute Zentrum für Forensische Psychiatrie verlassen. Aber ans Aufhören
denkt er noch lange nicht. Dafür liebt er
seinen Beruf viel zu sehr; die Neugierde
auf das Leben, das Interesse für die Menschen sind ungebrochen. Deshalb wird
Sachs in einer psychiatrischen Praxis in
Brugg weiterarbeiten, er wird beraten, behandeln, Gutachten erstellen – und er
wird weiterhin versuchen, uns via Medien
die Abgründe der menschlichen Seele etwas verständlicher zu machen.
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