Quelle : NZZ vom 03.02.16 EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE Vorwurf der Frauendiskriminierung Die Strassburger Richter kritisieren die Invaliditätsbemessung für Teilzeitbeschäftigte Das IV-System der Schweiz benachteilige die Frauen, die wegen der Familie Teilzeit arbeiteten. Der Strassburger Gerichtshof mischt sich damit in sozialversicherungsrechtliche Fragen ein. KATHARINA FONTANA Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wirft der Schweiz vor, Frauen in der Invalidenversicherung (IV) zu benachteiligen. Anlass war die Klage einer im Kanton St. Gallen wohnhaften 39-jährigen Italienerin. Die als Verkäuferin tätige Frau erhielt wegen Rückenproblemen ab 2002 eine halbe Invalidenrente. Nach der Geburt von Zwillingen 2004 wurde der Invaliditätsgrad neu berechnet, und zwar nach der Methode, die für teilzeitbeschäftigte Personen mit Haushaltspflichten zur Anwendung kommt. Nach dieser Berechnungsart betrug der Invaliditätsgrad nun nicht mehr 50, sondern lediglich noch 27 Prozent. Die Frau bekam in der Folge von der IV kein Geld mehr, da nur ein Invaliditätsgrad von mindestens 40 Prozent zu einer Rente berechtigt. Gesellschaftliche Realität Vor dem Strassburger Gerichtshof hat sich die Frau nun gegen die Schweiz durchgesetzt. Stein des Anstosses ist die in der IV angewandte gemischte Methode der Invaliditätsbemessung. Sie ermittelt den Invaliditätsgrad, indem sie die gesundheitsbedingten Einbussen im Beruf wie im Haushalt separat berechnet und kombiniert. Das führt dazu, dass bei Teilzeitlern häufig ein tieferer IV-Grad resultiert als bei Vollzeiterwerbstätigen, bei denen eine andere Berechnung - ein reiner Einkommensvergleich - durchgeführt wird. Das Bundesgericht hat die gemischte Methode stets verteidigt. Arbeite eine Person Teilzeit, so verzichte sie freiwillig auf einen Teil des möglichen Lohns. Es sei nicht Aufgabe der IV, hier einen Ausgleich zu schaffen - auch nicht bei Müttern, die wegen der Kinder ihr Arbeitspensum aus eigenem Antrieb reduzierten. Dass die gemischte Methode fast ausschliesslich bei Frauen angewandt wird (rund 98 Prozent aller nach dieser Berechnungsart ausgerichteten Renten entfallen auf Frauen), stelle keine Diskriminierung dar, sondern spiegle die gesellschaftliche Realität der Rollenverteilung in der Familie. Der EGMR kommt zu einem anderen Schluss. Er folgt mit 4 zu 3 Stimmen der Auffassung der Italienerin und erkennt in der Invaliditätsbemessung eine Diskriminierung der Frauen in ihrem Recht auf Familienleben. Für die grosse Mehrheit der Mütter, die nach der Geburt der Kinder ihre Berufstätigkeit reduzierten, erweise sich die gemischte Methode als Benachteiligung. Diese Berechnungsart sei in der heutigen Gesellschaft nicht mehr zeitgemäss und könne die Frauen in der Gestaltung ihres Familienlebens beeinflussen. Kein Versicherungsgericht Auch wenn die gemischte Methode vielleicht tatsächlich angepasst werden sollte - der Bundesrat hat letztes Jahr punktuelle Änderungen angekündigt -, kann das EGMR-Urteil nicht befriedigen. Der Strassburger Gerichtshof ist kein Sozialversicherungsgericht; die Schweiz hat das europäische Zusatzprotokoll, das sich mit Sozialleistungen befasst, nicht ratifiziert. Dass der EGMR der Schweiz nun trotzdem in sozialversicherungsrechtliche Fragen hineinredet, indem er einfach das in der Menschenrechtskonvention statuierte Recht auf Familienleben entsprechend weit auslegt, ist stossend und wird von der Minderheit des Richtergremiums denn auch kritisiert. Nach dieser Auffassung reicht es bereits, dass eine Sozialversicherungsrente sich irgendwie auf das Familien- und Privatleben auswirkt (was praktisch immer der Fall ist), damit der EGMR eine Konventionsverletzung prüfen kann. Jeder ablehnende sozialversicherungsrechtliche Entscheid könnte folglich unter diesem Titel in Strassburg angefochten werden. Die Schweiz sollte sich deshalb ernsthaft überlegen, ob sie den Fall nicht an die Grosse Kammer des EGMR weiterziehen möchte. In einem ersten Schritt erhält die siegreiche Klägerin von der Schweiz nun 29 000 Euro (Genugtuung und Auslagen); die Frau will zudem eine Rentennachzahlung fordern. Offen ist, ob das Strassburger Urteil bei der IV grössere Anpassungen erfordern würde. Eine Ausweitung der IV-Deckung für Teilzeitangestellte dürfte in jedem Fall spürbare Mehrkosten verursachen und das nach wie vor hochverschuldete Sozialwerk zusätzlich belasten. Urteil 7186/09 vom 2. 2. 16.
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