Bräu, K. & Schlickum, C. (Hrsg.) [2015] Soziale Konstruktionen in Schule und Unterricht Zu den Kategorien Leistung, Migration, Geschlecht, Behinderung, Soziale Herkunft und deren Interdependenzen Opladen, Berlin, Toronto: Babara Budrich 322 S. € 39,90 ISBN 978-3-8474-0689-1 Der Band besteht aus 22 Beiträgen und ist in drei Hauptteile gegliedert: I. Einführung, II. Hervorbringung schulischer Ordnung und III. Herstellung von Differenz. Der dritte Teil bekommt dabei das Hauptgewicht, mit etwa 200 der Seiten macht er zwei Drittel des Gesamtbandes aus und ist entsprechend noch einmal in fünf Kapitel untergliedert: Migrationshintergrund, Geschlecht, Behinderung, Soziale Herkunft und Intersektionalität – Interdependenz. Die Einführung besteht aus zwei Beiträgen von den Herausgeberinnen. Einer gibt einen Überblick über den Band und seine Grundannahme, "dass soziale Differenzen nicht vorgängig und naturalistisch vorhanden sind, sondern dass sie in den Interaktionen und im sozialen Feld hergestellt und reproduziert werden" (S. 11). Es wird angemerkt, dass hier auf Schule fokussiert werde, von der angenommen wird, dass sie selbst "als soziales Feld mit ihren Interaktionsformen [...] zur Hervorbringung und Reproduktion von Differenzen beiträgt" (S. 12). Als Adressat_innen des Bandes werden die Akteure der Schul- und Unterrichtsforschung sowie der Lehrer_innenausbildung genannt (S. 12). Der zweite einführende Beitrag von Karin Bräu gibt einen theoretischen Überblick über die Thematik. Sehr gelungen stellt Bräu hier den für die Schul- und Unterrichtsforschung relevanten Diskurs um die soziale Konstruktion von Differenzen im Überblick dar. Sie verhandelt dabei zunächst, welche für diesen Bereich relevanten Beiträge vier Diskurslinien liefern: Erkenntnis- und Lerntheorien, Ethnomethodologie, Wissenssoziologie und Poststrukturalismus. Dann erläutert sie zentrale Begriffe: binäre Ordnung, Normalität und Abweichung, Trans*Identität, Doing Difference und Essentialisierung. Am Beispiel einer Szene aus dem Film „Almanya – Willkommen in Deutschland“ von Yasemin Şamdereli (2011) rekonstruiert sie, wie in der darin dargestellten Szene zwischen einer Lehrerin und ihren Schüler_innen Differenz konstruiert wird. "Statt Gemeinsamkeiten zwischen den Schüler*innen oder auch den Lehrer*innen hervorzuheben, wird Differenz konstatiert - mal verbunden mit Defizitzuschreibungen, mal mit der Betonung auf positive Vielfalt und Pluralität." (S. 28). Dieser Beitrag führt nicht nur schlüssig in den Band ein, er ist auch in der Lehrer_innenausbildung oder in einem bildungswissenschaftli- chen Studiengang sehr geeignet, um z.B. fortgeschrittenen Studierenden eine fundierte Einführung in die komplexe Thematik der sozialen Konstruiertheit von Differenzen zu geben oder könnte ihnen als Vorbereitung für einschlägige Prüfungen dienen, weil er sehr klar und kompakt das Wesentliche darstellt und es auf konkrete Schulsituationen bezieht. Den zweiten Abschnitt des Bandes über die „Hervorbringung schulischer Ordnung“ leitet ein Beitrag von Hedda Bennewitz ein, in dem das „doing school“ in ein „doing student“, „doing teacher“ und „doing lesson“ untergliedert und aus praxeologischer Sicht reflektiert wird. Sie kommt darin zu der Erkenntnis, dass der „‘Lehrerjob‘ […] mit einer – vermutlich unauflösbaren – Verstrickung in die Herstellung von Differenz zu verbinden ist“ (S. 40). Es folgt ein Beitrag von Karin Bräu und Laura Fuhrmann, in dem sie anhand eines Ausschnitts aus einem Transkript aus einem Unterrichtsvideo zeigen, wie schulische Leistung und Leistungsbewertung sozial konstruiert wird. Sie betonen, wie wichtig es ist, diese Konstruiertheit und z.B. die hieraus resultierenden Noten für die Schülerinnen und Schüler zu reflektieren. Michael Meier befasst sich mit den Praktiken des Schulerfolgs. Uwe Gellert betont in seinem Beitrag, dass – obwohl „sich das Vorurteil, mathematische Kompetenz könne ziemlich objektiv festgestellt und mathematische Leistung fehlerfrei attestiert werden“ (S.79) sehr beharrlich halte – auch im Mathematikunterricht sozialen Konstruktion von Leistung eine Rolle spiele. Den großen dritten Abschnitt, in dem es um die Herstellung von Differenz geht, leitet ein Beitrag von Jürgen Budde zur Konstruktion von Gleichheit und Differenz im schulischen Feld ein. Er legt darin theoretisch reflektiert dar, inwiefern sich Schule in einem paradoxen Spannungsfeld befinde, indem einerseits das „doing difference“ im Bereich der Leistungsbewertung zu ihren zentralen Funktionen gehöre und sie andererseits herausgefordert sei, soziale Ungleichheit zu minimieren – wiewohl „Leistungs- und soziokulturelle Differenzen […] grundlegend ineinander verwoben“ (S. 104) seien. Mit dem Schwerpunkt Migration befassen sich die Beiträge von Paul Mecheril / Saphira Shure, Thomas Geier und Yalız Akbaba. Die Einleitung in den Abschnitt „Geschlecht“ leistet Hannelore Faulstich-Wieland zum Thema „Doing und Undoing Gender in der Schule“. Sie zeigt darin zunächst auf, wie ein „doing gender“, eine Reproduktion von Geschlechterstereotypen auf drei Ebenen stattfindet: der Zuordnung zur sex category „männlich“ oder „weiblich“, dann ein „Assessment“, bei dem man selbst entscheiden könne, wie „geschlechtsadäquat“ man sich auf der Ebene der individuellen Performation geben wolle und die dritte Ebene seien dann die Konsequenzen aus diesen Entscheidungen auf der Ebene der Interaktion. Sie argumentiert, dass dieser Prozess auf klaren gesellschaftlichen Regeln dessen beruhe, was als geschlechtsadäquat gelten würde und verweist darauf, dass dies gesellschaftlichen Änderungen unterworfen sei, wie man z. B. in Deutschland im historischen Vergleich sehen könne (S. 156). Als Beispiel für Programme, die gezielt ein „Undoing Gender“ zum Ziel haben, für sie das „Secondary Education Programme – Sistema de Aprendizaje Tutorial (SAT)“ von Erin Murphy-Graham an (S. 161), in dem es darum geht, Schüler_innen von 7-12 Jahren in mittel- und südamerikanischen und afrikanischen Ländern für Genderfragen zu sensibilisieren. Dieser Beitrag betont die Bedeutung der „Balance zwischen Dramatisierung und Entdramatisierung von Geschlecht“ (S. 163), die zwar auch schon in – im Beitrag zitierten – früheren Texten Faulstich-Wielands zum Ausdruck kommt, doch auch in Bezug auf andere Differenzkonstruktionen nach wie vor aktuell und relevant bleibt. Weitere Beiträge folgen von Jürgen Budde zur „Herstellung passförmiger Männlichkeit in der Schule“, von Andrea Menze-Sonneck zum Sportunterricht, von Andreas Krätzig/Markus Prechtl zum Chemieunterricht, und von Helene Decke-Cornill/Bettina Kleiner zu „Geschlecht und Begehren im Schulalltag“. Das Kapitel „Behinderung“ leitet ein Beitrag von Tanja Sturm zur „Herstellung und Bearbeitung von Differenz im inklusiven Unterricht“ ein. Hierin zeigt sie anhand einer rekonstruierten Gruppendiskussion, wie Differenzen auf der Leistungsebene in einem inklusiven Setting von den Lehrkräften implizit in „grundsätzliche“ und in „temporäre“ Differenzen unterschieden werden, für die sie sich unterschiedlich zuständig fühlen: „Die Lehrerinnen selbst fühlen sich für jene Gruppe von Schüler/innen verantwortlich, die temporär hinter dem Stand der Klasse zurückfällt; nicht aber für jene, die grundsätzliche Schwierigkeiten hat, sich die Lerngegenstände anzueignen […]“ (S. 231). Sie erkennt darin, dass die Lehrerinnen ihre Zuständigkeit nach wie vor „in Relation zu den schulischen Bildungsgängen der Grundschule, mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf, gesehen wird “ (S. 231). Damit, so kritisiert Sturm, werde das Bezugssystem, das mit dem Anspruch schulischer Inklusion überwunden werden soll, reproduziert. Es folgen Beiträge von Clemens Dannenbeck zur Konstruktion von Behinderung im hegemonialen Inklusionsdiskurs und Julia Ernst/Carolin Katzer zu „Aushandlungen von Schüler_innen in inklusiven Klassen“. Das Thema „soziale Herkunft“ bearbeiten die Beiträge von Thorsten Hertel/Nicolle Pfaff und Anne Niessen. Während Hertel und Pfaff einen Forschungsüberblick über das Feld der Bildungsungleichheitsforschung liefern, untersucht Niessen das „doing difference“ auf sozialer Ebene im Rahmen des Programms „Jedem Kind ein Instrument“ an nordrheinwestfälischen Grundschulen. Mit dem Schwerpunkt „Intersektionalität – Interdependenz“ befassen sich die Beiträge von Katharina Walgenbach und Marc Thielen. Walgenbach führt einerseits die vorangegangenen Diskurse in ihrem Beitrag zusammen, indem sie die These von der sozialen Konstruiertheit der Differenzen zunächst bestätigt und dann konstatiert, dass die „zentrale These des Paradigmas Intersektionalität ist, dass diese Differenzen nicht isoliert voneinander betrachtet werden können“ (S. 291). Sie zeigt in ihrem Beitrag mittels verschiedener Modelle auf, wie diese Differenzen auch in ihrer Verwobenheit wissenschaftlich untersucht werden können. Am Ende grenzt sie allerdings auch einige der Differenzen aus dem Feld der Intersektionalität aus, indem sie es thematisch auf „Macht und Verteilungskämpfe“ begrenzt und das Ziel intersektionaler Studien in der „Demontage von Diskriminierung“ sieht (S. 302). “Leistungsheterogenität“ und „Fachkompetenz“ zählt sie dabei nicht zu den Untersuchungsfeldern der Intersektionalität (S. 302). Dies könnte, gerade auch mit Blick auf einige der Beiträge des vorliegenden Bandes (vor allem Bräu F uhrmann; Meier; Gellert; Sturm) durchaus in Frage gestellt werden. Insgesamt liefert der Band einen bunten Überblick über die verschiedenen Dimensionen der sozialen Konstruktionen in Schule und Unterricht mit sowohl theoretischen als auch qualitativ-empirischen Beiträgen. Er ist sowohl eine sehr gute Grundlage für die Lehre in diesen unterschiedlichen Bereichen als auch Ausgangspunkt für weitere Forschungsvorhaben in diesem Kontext. Er überzeugt durch qualitativ hochwertige, dabei durchaus kompakte und gut aufeinander abgestimmte Beiträge, die neben vielen unterschiedlichen Ansätzen auch zahlreiche Querverweise aufeinander beinhalten. Dr. Catrin Siedenbiedel
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