Skript 1

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Urs Kindhäuser
Skript zur Vorlesung Strafrecht BT
1. Teil: Straftaten gegen Persönlichkeitsrechte
§ 1: Straftaten gegen das Leben
A) Allgemeines
I. Schutzbereich
1. Straftaten gegen das (menschliche) Leben: Tötungsdelikte i.e.S. (§§ 211 bis 213, 216, 222),
Schwangerschaftsabbruch (§§ 218 bis 219b), Aussetzung (§ 221).
2. Beginn des Lebens als Mensch
Mit dem Geburtsakt (vgl BGHSt 32, 194): Einsetzen der sog. Eröffnungswehen; bei
Kaiserschnitt Beginn des ärztlichen Eingriffs (hM, Arzt/Weber BT § 2/85; Merkel,
Früheuthanasie, 2001, 100 ff.; krit. NK-Paeffgen § 223 Rn 4 ff.; aA Herzberg/Herzberg JZ
2001, 1106 ff.)
Geburtsvorgang als Stadium erhöhter Gefahr für das Kind.
Überlebensfähigkeit nicht erforderlich.
Zivilrechtlich ist der Mensch mit „Vollendung der Geburt“ rechtsfähig (§ 1 BGB).
Fall 1: Bei einer Abtreibung in der 20. Woche der Schwangerschaft wird ein etwa 25 cm langes
Wesen mit bereits ausgeprägten Körperformen ausgestoßen, das sich bewegt und piepst. Der
Ehemann E der Schwangeren hält das Kind für lebend und drückt es etwa 2 Minuten lang in die
Matratze, bis er keine Regungen mehr spürt (BGHSt 10, 291).
3. Maßgeblicher Todeszeitpunkt für das Strafrecht: Eintritt des sog. Hirntods, dh irreversibler
totaler Funktionsausfall des Gesamthirns (vgl § 3 II Nr. 2 TPG), also weder völliger Ausfall aller
biologischen Lebensregungen noch Stillstand von Herz- und Atmungstätigkeit entscheidend.
Problem der Sterbehilfe stellt sich nur vor Eintritt des Hirntods.
Organentnahmen richten sich nach dem TPG; hier auch besondere Straf- und
Bußgeldvorschriften, vgl §§ 18 ff. TPG.
4. Pränatale Eingriffe
Entscheidend ist der Zeitpunkt, in dem sich die Handlung schädigend auf den Betroffenen
auszuwirken beginnt:
Bei Auswirkung noch vor Geburtsbeginn (zB Auslösen der Fehlgeburt eines lebensunfähigen,
wenn auch ggf. noch kurzzeitig lebenden Kindes): nur § 218 einschlägig (BGHSt 31, 348 [351
ff.]).
Bei Auswirkungen nach Geburtsbeginn: §§ 211 ff. (zB eine vor Geburt der Mutter beigebrachte
Infektion wird nach der Geburt durch Körperkontakt auf das Kind mit Todesfolge übertragen).
Wird durch den Eingriff ein lebensfähiges Kind geboren und nach der Geburt getötet: nach hM
versuchte Abtreibung und Totschlag in Tatmehrheit (BGHSt 13, 21 [23]).einheit.
Die Abgrenzung ist wichtig bei fahrlässigen Handlungen, da §§ 218 ff. Vorsatzdelikte sind
(BVerfG NJW 1988, 2945; BGHSt 31, 348 [352]).
II. Gesetzessystematik
1. Systematisches Verhältnis von § 211 und § 212
a) Nach ganz hL ist § 212: Grundtatbestand der vorsätzlichen Tötungsdelikte; § 211
Qualifikationstatbestand; § 216 Privilegierung. § 213 ist Strafzumessungsvorschrift (= nur teilweise
benannter Strafmilderungsgrund, § 12 III), Strafmilderung für (insbesondere) provozierte Tötungen
(im Gutachten regelmäßig nicht anzusprechen).
b) Rechtsprechung des BGH: § 211 und § 212 sind zwei selbständige Tatbestände mit jeweils
unterschiedlichem und abschließend umschriebenem Unrechtsgehalt (BGHSt 1, 368; 22, 375; 30,
105). Mord als delictum sui generis, das die Strafbarkeit selbständig begründet, keine Qualifikation
zu § 212.
2. Systematisches Verhältnis von § 211 und § 216
Nach der Rechtsprechung ist § 216 ein selbständiger Tatbestand (BGHSt 13, 165), nach hL eine
Privilegierung gegenüber § 212.
3. Konkurrenz von § 211 und § 216
Gesetzeskonkurrenz: § 212 wird von § 216 verdrängt (hM).
***
B) Totschlag
Fall 2: Arzt A behandelt den Sterbenden S mit einem schmerzlindernden Mittel, dessen Einnahme
zwar mit keinem das Leben verkürzenden Risiko, wohl aber mit einer Bewusstseinstrübung
verbunden ist. Bei S beschleunigt das Mittel den Sterbensprozess.
I. Grundtatbestand (§ 212)
Bedeutung des Ausdrucks „ohne Mörder zu sein“
Keine Strafbarkeit des Suizids, trotz Formulierung „einen Menschen“
„töten“: (kausale) Realisierung eines vom Täter zu verantwortenden Todesrisikos, sei es, dass
der Täter das Todesrisiko durch Begehen pflichtwidrig geschaffen, sei es, dass er seine
Abwendung pflichtwidrig unterlassen hat.
Abgrenzung zwischen (bedingtem) Vorsatz und Fahrlässigkeit (§ 222). Wichtige
Entscheidungen: BGHSt 36, 1 (ungeschützte Sexualkontakte eines Aidsinfizierten); BGHSt 57,
183 (189 ff) (Abkehr von der Hemmschwellentheorie); BGH NStZ-RR 1996, 97 (Durchbrechen
einer Polizeisperre mit PKW); BGH NStZ 1994, 483; 1994, 584; NStZ-RR 1996, 35
(Brandanschläge).
besonders schwerer Fall des Totschlags iSv § 212 II (BGH MDR 1977, 638).
II. Minder schwerer Fall des Totschlags (§ 213)
Teilweise benannter Strafmilderungsgrund, der für die tatbestandlich umschriebene erste
Tatvariante zwingend einen milderen Strafrahmen vorsieht.
III. Fahrlässige Tötung (§ 222)
Voraussetzungen der Strafbarkeit.
***
C) Mord (§ 211)
I. Allgemeines
1. Rechtsgeschichtliche Entwicklungslinien des Mordtatbestandes
Deutsch-rechtliche Entwicklungslinie: Mord als sozialethisch besonders verwerflicher Totschlag;
Unehrlichkeit und Heimlichkeit der Tatbegehung als strafschärfendes Kriterium
Vor Neufassung des Tatbestands (1941): römisch-rechtliches Kriterium der Tatausführung mit
Überlegung (vgl Art. 137 CCC).
2. Systematik
verbrechenssystematische Einordnung der Mordmerkmale (BGHSt 1, 368 [371]; 22, 375 [377];
Paeffgen GA 1982, 255)
verfassungsrechtliche Problematik des § 211 (BVerfGE 45, 187 [259 ff.]; BVerfGE 54, 100
[109]).
Lösungsvorschläge:
Rechtsfolgenlösung (BGHSt 30, 105; vgl auch BGH JZ 1983, 967 mit Anm. Hassemer)
Typenkorrektur (Geilen JR 1980, 309)
restriktive Auslegung der einzelnen Mordmerkmale (hL)
Beachte auch: Mord (§ 211) verjährt nicht (§ 78 II)
II. Tatbestandsmerkmale
1. „aus Mordlust“: „aus Mordlust“ tötet, wem es in erster Linie darauf ankommt, einen Menschen
sterben zu sehen. Typisch ist ein Handeln aus Langeweile, Angeberei oder Mutwillen, vor allem
aber ohne einen (in der Person des Opfers oder der Situation liegenden) Tatanlass (BGH NStZ 1994,
239).
Fall 3: A hielt sich gegen 19.00 Uhr in einer fast menschenleeren Bahnhofshalle auf. Er erinnerte
sich an einen Zeitschriftenartikel, in dem über die Tötung einer alten Frau durch zwei Jugendliche
berichtet worden war, und dachte bei sich, wenn er einmal so etwa mache, dann mache er es so,
dass man ihn nicht erwische. Als A am Ende dieser Überlegungen gerade von der Bank aufstehen
wollte, ging die 21jährige W an ihm vorbei zur Toilette. Als er diese sah, dachte er bei sich, jetzt
oder nie, und meinte dabei bei sich selbst, entweder bringe er diese Frau jetzt um oder lasse es
überhaupt bleiben. Er entschloss sich dann, die W zu töten, wobei er sich ausschließlich von dem
Willen leiten ließ, einen Menschen vom Leben zum Tode zu befördern. Er wartete einen
Augenblick und ging dann ebenfalls die Treppe zur Toilette hinunter. In der Damentoilette packte
er die am Waschbecken stehende W mit beiden Händen fest am Hals, um sie zu erwürgen. Der W
gelang es, den Angriff abzuwehren und zu entkommen (BGHSt 34, 59).
2. „zur Befriedigung des Geschlechtstriebes“: „zur Befriedigung des Geschlechtstriebes“ tötet,
wer sich durch den Tötungsakt als solchen oder an der Leiche sexuelle Befriedigung verschaffen
will oder mit dem Tod des Opfers bei einer Vergewaltigung rechnet (BGHSt 19, 101 [105]).
Entscheidend ist, dass die Person, auf die sich das sexuelle Begehren bezieht, mit dem Tötungsopfer
identisch ist.
Fall 4: Angeregt durch einen Film, fasste A den Plan, an einsamer Stelle ein Mädchen „still“ zu
machen und mit der Bewusstlosen dann geschlechtlich zu verkehren. Er steckte ein Beil ein, schlug
im Ddunkeln eine Rad fahrende Frau nieder, schleppte die Bewusstlose beiseite, tötete sie, weil sie
sich noch bewegte und er es deshalb für nötig hielt, mit weiteren kräftigen Beilschlägen und
befriedigte sich sodann an der Leiche (BGHSt 7, 353).
3. „aus Habgier“: „Habgier“ ist ein rücksichtsloses Streben nach materiellen Gütern zu verstehen,
also ein Gewinnstreben „um jeden Preis“ (BGHSt 10, 399; 29, 317; BGH NStZ 1993, 385). Der
Gewinn muss nicht beträchtlich sein und kann im Zuwachs von Vermögenswerten oder in der
Ersparung von Aufwendungen (zB Befreiung von einer Unterhaltspflicht) als unmittelbarer
Tötungsfolge liegen.
Fall 5: F vergiftet ihren Ehemann E, um sich mit dessen hoher Lebensversicherung ein schönes
Leben zu machen.
4. Aus sonstigen „niedrigen Beweggründen“: Beweggründe in diesem Sinne sind Motive, die als
besonders verwerflich erscheinen.
BGH: Motive, die nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen, durch
hemmungslose, triebhafte Eigensucht bestimmt und deshalb besonders verwerflich, ja verächtlich
sind (BGHSt 3, 132; BGH NJW 2002, 382 [383]).
Erforderlich ist eine Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des
Täters maßgeblichen Faktoren (Umstände der Tat, die Lebensverhältnisse des Täters und vor allem
das Missverhältnis zwischen Tatanlass und -zweck maßgeblich).
Vor allem zwei Aspekte maßgeblich:
Die Tat erscheint nicht mehr als verständliche Reaktion auf die Situation. Neid, Rache oder
Wut sind dann als niedrige Motive anzusehen, wenn die konkreten Lebensumstände keinen
begreiflichen Anlass zur Tat bieten. Wichtig auch: Eifersucht (falls nicht aus Verzweiflung),
Ausländerfeindlichkeit und Rassenhass. Ursprünglich waren Entlastend sind Wertvorstellungen
entlastend, die durch andere Kulturen geprägt sind (BGH JZ 1980, 238; NJW 1995, 602; StV
1997, 565 [566]: Blutrache bei gekränkter Familienehre). Nun gelten aber die Anschauungen
und Wertvorstellungen der Bundesrepublik als Maßstab für die Annahme niedriger
Beweggründe, es sei denn, der Täter kannte diese Wertungen nicht oder konnte diese nicht
nachvollziehen (vgl BGH NStZ 2002, 369 f; NStZ-RR 2004, 361 [362]).
Täter instrumentalisiert aus krasser Eigensucht das Leben anderer zur Erreichung seiner Ziele,
zB Tötung eines Unbekannten zur Identitätstäuschung (BGH NStZ 1985, 454). Politisch
motivierte Tötungen, die im vermeintlichen Allgemeininteresse erfolgen, sind regelmäßig
mangels der für den niedrigen Beweggrund typischen Eigensucht nicht einschlägig.
Fall 6: E vergiftet seine Ehefrau E, weil er erfahren hat, dass diese schon seit längerer Zeit eine
Liebesbeziehung zu seinem Chef unterhält.
5. „heimtückisch“: heimtückisch tötet, wer in feindseliger Willensrichtung die Arg- und
Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tötung ausnutzt (BGHSt 9, 385; 11, 139; 30, 105 [116]; 37,
376; 39, 353 [368]).
Opfer ist arglos, wenn es keinen Angriff auf Leib und Leben befürchtet (BGH NStZ 1991, 233).
Problem: Schlafende, Bewusstlose, Kleinkinder (BGHSt 4, 11; 8, 216; 23, 119; 33, 363; BGH
NStZ 1995, 230; 1997, 490 [491]).
Opfer ist wehrlos, wenn es aufgrund seiner Arglosigkeit in seiner Verteidigungsfähigkeit
zumindest erheblich eingeschränkt ist (BGH GA 1971, 113).
Kausalzusammenhang
feindselige Willensrichtung (BGHSt 37, 376 mit Anm. Roxin NStZ 1992, 35).
Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers (BGH NStZ 1987, 173; 1987, 554).
Maßgeblicher Zeitpunkt
Zusätzliche Kriterien im Schrifttum:
tückisch-verschlagene Vorgehensweise (Spendel JR 1983, 271)
Vertrauensbruch (Hassemer JuS 1971, 626 [630]; Jakobs JZ 1984, 444; S/S-Eser § 211 Rn. 26).
Fall 7: A ergriff während eines nächtlichen Streits mit seiner Ehefrau E, in dessen Verlauf er ihr
eine Ohrfeige gegeben und sie mit einem Griff an ihren Hals zurückgestoßen hatte, ein auf einem
Stuhl in der Wohnküche liegendes Handtuch und warf es blitzschnell der rückwärts in das
Schlafzimmer ausweichenden Frau in der Absicht, sie zu töten, über den Kopf und um den Hals,
verknotete es und zog es fest zusammen. Dann warf er die E auf ihr Bett. Sie starb sogleich infolge
der Strangulation (BGHSt 20, 301).
6. „grausam“: „grausam“ tötet, wer dem Opfer aus gefühlloser und unbarmherziger Gesinnung
besondere Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art zufügt, die nach Stärke oder
Dauer über das für die Tötung unvermeidliche Maß hinausgehen.
Problem: Zeitpunkt der Grausamkeit (BGHSt 37, 40 [41]).
Fall 8: A hat seine Tochter trotz und gerade auch wegen ihrer schweren, unheilbaren Erkrankung
(Epilepsie), der unvermeidlich damit verbundenen Wesensveränderung und zeitweiligen
Hilflosigkeit wochenlang hindurch eingesperrt und der Verwahrlosung, dem Hunger und der Kälte
ausgesetzt, nachdem er sie vorher gemeinsam mit seinem Sohn aufs schwerste misshandelt hatte.
Dies hat A getan, damit seine Tochter rascher sterbe und ihm nicht mehr zur Last falle. Die mit
alledem verbundenen Schmerzen und Qualen waren in ihrer Dauer und Häufung weit schwerer zu
ertragen als die mit der Todeszufügung an sich meist unvermeidlich verbundenen Schmerzen
(BGHSt 3, 264).
7. „mit gemeingefährlichen Mitteln“: Gemeingefährlich ist ein Tötungsmittel, bei dessen
konkretem Einsatz der Täter nicht ausschließen kann, eine Mehrzahl von Menschen an Leib und
Leben zu gefährden (BGH NJW 1985, 1477; 1993, 210). Kennzeichnend für die
Gemeingefährlichkeit ist also die mangelnde Kontrollierbarkeit der Wirkungsweise des Mittels
durch den Täter. Exemplarisch: Brandstiftung, Gefährdung beliebig vieler Personen durch die
Verwendung von Gift oder Sprengstoff, Steinwürfe von einer Autobahnbrücke.
Fall 9: Auf einem Jahrmarkt deponiert A eine Bombe mit Zeitzünder in einem Abfallbehälter. Trotz
dichten Gedränges wird bei der Explosion nur eine Person tödlich verletzt.
8. „um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken“
„Straftat“ im (BGHSt 28, 93).
Die andere Tat braucht objektiv nicht begangen zu sein („Absicht“); es genügt, wenn sie eine
Straftat wäre, falls die Vorstellungen des Täters von ihr zutreffend wären (BGHSt 11, 226; BGH
bei Holtz MDR 1991, 1021).
vom Täter oder einem Dritten (BGHSt 9, 180; BGH NJW 1996, 939).
Absicht: zielgerichtetes Wollen: Finalzusammenhang zwischen Tötung und anderer Tat (BGH
NStZ 1996, 81)
außerstrafrechtliche Konsequenzen (BGHSt 41, 8; zust. S/S-Eser § 211 Rn. 34; abl. Küper JZ
1995, 1158 ff.).
zeitliches Verhältnis von Tötung und zu verdeckender Tat (grundlegend BGHSt 35, 116)
Verdeckung von Tat oder Täterschaft (BGH NJW 1992, 584)
Töten durch Unterlassen zur Verdeckung einer anderen Straftat (BGHSt 41, 358 [362])
Fall 10: A und B hatten den Drogenhändler D durch das wahrheitswidrige Versprechen, Haschisch
zu besorgen, zu einer Vorauszahlung von 10.000 DM veranlasst. Obwohl sie nicht mit einer
Strafanzeige durch ihn rechneten, töteten sie ihn, um die 10.000 DM behalten zu können und (in
ihren Kreisen) nicht als „Betrüger“ entlarvt zu werden (BGHSt 41, 8)
***
D) Vertiefung: Beteiligung und Systematik der Tötungsdelikte
Für die Strafbarkeit des Beteiligten am Mord gilt, sofern es sich um besondere persönliche
Merkmale handelt, nach der Rechtsprechung § 28 I, nach der hL § 28 II.
Die Rechtsprechung verfolgt ihren Ansatz jedoch nicht konsequent und kommt weitgehend zu
denselben Ergebnissen wie die hL:
Möglich, dass von zwei ein Mittätern (wechselseitige Zurechnung!), der eine einen Mord, der
andere einen Totschlag begeht (BGHSt 36, 231); setzt Anwendbarkeit von § 28 II voraus.
Möglich, dass der Täter andere Mordmerkmale verwirklicht als der Teilnehmer (sog. „gekreuzte
Mordmerkmale“); setzt ebenfalls Anwendbarkeit von § 28 II voraus.
Neueste Rechtsprechung bezeichnet Mordmerkmale im Allgemeinen als Mordqualifikationen
(BGHSt 41, 358 [362]) und die Verdeckungsabsicht im Besonderen als Qualifikationsgrund
(BGHSt 41, 8 [9]).
Fall 11: O leidet unter ihrem Ehemann T, der sie permanent misshandelt. Sie beauftragt deshalb den
Lohnmörder L, T zu töten und verspricht ihm ihre gesamten Ersparnisse. L handelt ausschließlich
um des ihm versprochenen Lohnes willen.
Habgier ist ein täterbezogenes besonderes persönliches Merkmal iSv § 28.
Fall 12: M will seine Frau F von Killer K töten lassen, weil sie seinem Liebesverhältnis mit G im
Wege steht. K handelt ausschließlich um des ihm versprochenen Lohnes willen.
Habgier und ein sonstiger niedriger Beweggrund sind täterbezogene besondere persönliche
Merkmale iSv § 28.
Problem der gekreuzten Mordmerkmale.
Fall 13: E will seinen Onkel O vergiften, um noch in jungen Jahren dessen großes Vermögen zu
erben. Das erforderliche Gift verschafft ihm sein bester Freund, der Apotheker A, aus purer
Gefälligkeit.
Heimtücke ist ein tatbezogenes besonderes persönliches Merkmal, keine Anwendung von § 28.
***
E) Vertiefung: Euthanasie, Tötung auf Verlangen (§ 216) und Beteiligung am Suizid
I. Euthanasie/Sterbehilfe/Behandlungsabbruch
jede gezielte aktive Lebensverkürzung zur Herbeiführung eines schmerzlosen Todes
(Euthanasie) ist grds untersagt (BGHSt 37, 376; 40, 457; Langer JR 1993, 133).
vgl Fall 2: im Rahmen des erlaubten Risikos: medizinisch indizierte Schmerzlinderung mit der
vom Patienten (unter verständiger Würdigung seiner Lage) gebilligten Gefahr einer
Lebensverkürzung; bei Entscheidungsunfähigkeit: Kriterien mutmaßlicher Einwilligung
maßgeblich (vgl zur Problematik BGH NJW 1997, 807; S/S-Eser Vor § 211 Rn. 26 mwN).
„passive Sterbehilfe“: Verzicht auf Maßnahmen zur Lebensverlängerung nur möglich, wenn dies
mit tatsächlicher oder mutmaßlicher Einwilligung des Patienten geschieht (vgl BGHSt 11, 111
[114]; BGHSt 40, 257; BGH NStZ 1983, 118).
einseitiger, nicht von einer (mutmaßlichen) Einwilligung gedeckter Behandlungsabbruch: Pflicht
des Arztes zur Heilung endet, wenn der Patient jegliche Reaktions- und
Kommunikationsfähigkeit und damit die Fähigkeit zu personaler Selbstverwirklichung
unwiderruflich verloren hat (vgl BGHSt 32, 367 [380]).
technischer Behandlungsabbruch, z. B. Abschalten eines Reanimators (vgl BGHSt 40, 257).
Nach dem BGH kann auch eine unmittelbar auf die Lebensbeendigung abzielende Handlung
nach den Kriterien der Einwilligung gerechtfertigt sein. Er hält ausdrücklich nicht an einer
Abgrenzung von strafbarem zu straflosem Verhalten anhand der äußeren Erscheinungsformen
von Tun und Unterlassen fest (BGH NJW 2010, 2963 ff).
II. Tötung auf Verlangen (§ 216)
Grund der Privilegierung: Minderung von Unrecht (Rechtsgutsverzicht des Lebensmüden) und
Schuld (Mitleidsmotivation).
Problematik der Vorschrift (Eingriff in die Dispositionsfreiheit), hierzu Hoerster ZRP 1988, 4,
185; Jakobs Kaufmann, Arth.-FS 470.
Tatbestandsverwirklichung durch Unterlassen? – bejahend: BGHSt 13, 162; 32, 367; verneinend:
hL, vgl Sowada Jura 1985, 75.
Tatbestandsmerkmale:
„durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen“: unmissverständlich (verbal, gestisch) und
im Bewusstsein der Bedeutung und Tragweite des Entschlusses (BGH NJW 1981, 932).
Verlangen entscheidender, wenn auch nicht alleiniger Tatantrieb.
Täter nur derjenige, an den das Opfer sein Sterbeverlangen (nicht notwendig persönlich)
gerichtet hat.
Verlangen unter bestimmten Bedingungen.
Verlangen tat- oder täterbezogenes Merkmal? Auswirkungen: § 28 II.
Opfer als notwendig Beteiligter.
Fall 14: A leidet an einer qualvollen tödlichen Krankheit im Endstadium. Er will sich mit einer
Überdosis an Schlafmitteln das Leben nehmen, bittet aber seinen Freund F, einen Krankenpfleger,
im Nebenzimmer anwesend zu sein und ihm, wenn er nach einer halben Stunde noch lebe, eine
bereitliegende Ampulle Insulin zu spritzen. F handelt im Sinne von A.
III. Beteiligung
1. Teilnahme (Anstiftung, Beihilfe) an einer (eigenverantwortlichen) Selbsttötung ist mangels
Haupttat straflos (hM, vgl nur BGHSt 32, 267 [371]).
2. Kriterien der Eigenverantwortlichkeit, str.:
entsprechende Anwendung der Exkulpationsregeln (§§ 19, 20, 35 StGB, 3 JGG), LKSchünemann § 25 Rn. 119, 121.
entsprechende Anwendung der Regeln für die Wirksamkeit einer Einwilligung (LK-Jähnke 11.
Aufl., Vor § 211 Rn. 25 f.; Mitsch JuS 1995, 787, 891; Neumann JuS 1985, 677 mwN).
c) Unterlassene Hilfe im Stadium zwischen beendetem Selbsttötungsversuch und Todeseintritt:
Rechtsprechung: grds. Strafbarkeit (bei Garantenstellung nach §§ 212, 13, ohne Garantenstellung
nach § 323c), wenn der Suizident nach dem beendeten Selbsttötungsversuch
handlungsunfähig (bewusstlos) geworden ist (BGHSt 32, 367 [374]; BGH NJW 1960, 1821).
hL: keine Pflicht, einen eigenverantwortlich handelnden Suizidenten zu retten (Gallas JZ 1960,
649, 689; LK-Jähnke 11. Aufl., Vor § 211 Rn. 24 mwN).
Beachte: Unstr. Hilfspflicht, wenn Suizident erkennbar (zB durch Hilferufe) vom Freitod Abstand
nehmen will.
d) Voraussetzungen einer Fremdtötung in mittelbarer Täterschaft durch das Opfer als Werkzeug
Fall 15: Arzt A stellt für den Patienten P die (bewusst) falsche Diagnose, dieser habe nur noch
kurze Zeit zu leben. P nimmt sich, womit A rechnet, das Leben.
Fall 16: H war Hausarzt der 76jährigen Witwe U, die nach dem Tode ihres Ehemanns in ihrem
Leben keinen Sinn mehr sah und gegenüber H und Dritten öfter die Absicht geäußert hatte, aus dem
Leben zu scheiden. Sie hatte sich intensiv mit der Problematik des Suizids beschäftigt und wollte
im Zustand der Hilflosigkeit weder in ein Krankenhaus noch in ein Pflegeheim eingewiesen werden.
Ihren entsprechend Willen hatte sie, was H wusste, auch schriftlich formuliert. Anlässlich eines
Hausbesuchs fand H, nachdem er mit Hilfe eines Zweitschlüssels die Wohnung geöffnet hatte, die
U bewusstlos vor. Sie hatte einen Zettel in der Hand, auf dem vermerkt war "an meinen Arzt - bitte
kein Krankenhaus". Anhand zahlreicher Medikamentenpackungen und des Abschiedsbriefs
erkannte H, dass U eine Überdosis Morphium und Schlafmittel in Selbsttötungsabsicht zu sich
genommen hatte. H ging davon aus, dass U nicht, jedenfalls nicht ohne Dauerschäden zu retten sein
werde. H unternahm deshalb nichts, sondern blieb bis zum Eintritt des Todes der U in der deren
Wohnung (BGHSt 32, 367).
***
F) Aussetzung (§ 221)
I. Erste Tatvariante (Abs. 1 Nr. 1)
1. Gefahrerfolg: Lebensgefahr oder schwere Gesundheitsschädigung
schweren Gesundheitsschädigung: wenn das Opfer im Gebrauch seiner Sinne, seines Körpers
oder seiner Arbeitskraft erheblich beeinträchtigt ist
konkrete Gefahr
2. versetzen in eine hilflose Lage (Nr. 1)
hilflose Lage: Opfer ist nicht in der Lage, sich aus eigner Kraft vor der Gefahr zu schützen
versetzen: jede Veränderung der Sicherheitslage des Opfers, die vom Täter bestimmt wird; keine
räumliche Veränderung erforderlich
3. im Stich lassen (Nr. 2)
Opfer befindet sich in hilfloser Lage
im Stich lassen: Täter erbringt nicht die zur Abwendung der Gefahr gebotene Hilfe;
Täterkreis auf Garanten beschränkt;
„Obhut“ ist ein bestehendes allgemeines Schutzpflichtverhältnis („Beschützergarantenstellung“)
keine räumliche Trennung („verlassen“) vom Opfer erforderlich; auch Unterlassen der gebotenen
Rückkehr.
4. Kausal- und Risikozusammenhang zwischen Gefahrerfolg und hilfloser Lage erforderlich
5. Vorsatz
6. Qualifikationen (Abs. 2, 3)
Fall 17: Die A ließ ihre drei Kinder allein in der verschlossenen Wohnung zurück, um mit einem
Freund ungestört feiern zu können. Bei ihrem Weggehen hatte sie das 10 Monate alte jüngste Kind
für die Nacht versorgt und ihren 8jährigen Ältesten beauftragt, dem Säugling am nächsten morgen
Milch zuzubereiten, falls sie bis dahin noch nicht heimgekehrt sein sollte. Am nächsten Tag
beschloss die A jedoch, obwohl sie keinerlei Vorsorge für eine längere Abwesenheit getroffen hatte,
die Kinder weiter sich selbst zu überlassen. Als sie 4 Tage später in ihre Wohnung zurückkehrte,
fand sie in dem völlig verwahrlosten und ungeheizten Raum, den Säugling tot und die beiden
älteren Söhne in einem mitgenommenen Zustand mit Anzeichen von Unterkühlung vor (BGHSt 21,
44).
***
G) Schwangerschaftsabbruch (§§ 218 - 219b)
Überblick über die Rechtsentwicklung und einige zentrale Fragen; Kindhäuser BT I § 6; ferner NKMerkel Vor § 218.