Vater unser im Himmel - Der Mann in den Wolken?

Predigt über Matth. 6, 9-13
(7.6.15, Paul-Schneider, Dreifaltigkeitigkeit, Superintendent Thomas
Seibt)
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn
J.C. Amen
Liebe Gemeinde,
die Lankwitzer Pfarrerinnen und Pfarrer haben mich eingeladen, ihre
sommerliche Predigt- und Gottesdienstreihe mitzugestalten.
„Gottesglaube – Gottesbilder“ – unter dieser Überschrift versammeln sich
sieben verschiedene Predigten und Gottesdienste, gestaltet von sieben
Pfarrerinnen und Pfarrern und gefeiert in den vier Kirchen des Sprengels.
Sie alle eint das Nachdenken darüber, dass wir von Gott nicht anders
reden können, als in Bildern, in Denkgebilden und Sprachformen. Sie
prägen unseren Glauben. Sie geben Stütze und Halt. Sie engen aber
zugleich auch ein und legen uns fest. Darum ist es gut, sie hin und
wieder auf ihren Sinn und Gehalt hin zu befragen und dabei das
Bruchstückhafte, das Fragmentarische, das Vorläufige unserer
Gottesbilder und damit auch unseres Glaubens zu bedenken.
Wir wollen das nun auch in diesem Gottesdienst tun, indem wir uns dem
Vaterunser zuwenden, dem Grundgebet der Christenheit. Jesus selbst
hat es den Seinen gegeben, fußend auf älteren Traditionen und doch als
sein Gebet, in einer kürzeren Form im Lukas-Evangelium und in der uns
geläufigen Fassung bei Matthäus überliefert, so wie wir es heute als
Evangelium gehört haben.
Das Vaterunser-Gebet gehört zu den grundlegenden, den
unüberbietbaren Texten des Glaubens, vergleichbar mit dem Psalm 23
(dem Psalm vom Guten Hirten) oder der Weihnachtsgeschichte. Es ist
ein abgeschlossenes Gebet, dessen Aussagen und Bitten wir uns nicht
immer im Einzelnen und vollständig bewusst machen werden, wenn wir
es sprechen. Das Vaterunser ist dann eher einem Raum vergleichbar, in
dem wir uns bergen können, weil wir in ihm zu Hause sind. Manchmal
aber ist es doch gut, diesen Raum auszuschreiten, ihn auszuleuchten,
ihn neu anzuschauen, so wie heute im Zusammenhang der Lankwitzer
Predigtreihe zu Gottesbildern und Gottesglaube.
Was fällt als Erstes auf?
Das Vaterunser verbindet uns mit der weltweiten Christenheit aller
Zeiten, aller Kontinente, aller Konfessionen. Was für ein guter Gedanke:
Ob ich es sonntags mit der Gottesdienstgemeinde bete, ob ich es
verzweifelt in Zeiten innerer Not vor mich hin flüstere, ob ich es ganz
kenne oder nur stückweise einstimme, niemals bin ich allein. Immer und
ganz gewiss gibt es Menschen, die ebenfalls gerade in diesem Moment
und in dieser Zeit mit Jesu Worten beten: „Vater unser im Himmel.“
Und weiter: Was passiert da?
Jesus hat uns mit der Anrede „Unser Vater“ in das Vertrauen gezogen,
das wir mit ihm zu Gott haben dürfen. Wir dürfen Gott ansprechen. Wir
dürfen „Du“ zu ihm sagen. Vielleich haben Menschen früherer Zeiten
leichter erfassen können, was das bedeutet. Es ist ja nicht das eher
kumpelhafte „Du“ gemeint, das heute so weit verbreitet ist. Sondern es
ist die Anrede gemeint, die ein Zeichen besonderen Vertrauens und
kostbarer Nähe ist, vergleichbar vielleicht mit dem „Du“, zu dem sich
Menschen einladen und beschenken, wenn Vertrauen gewachsen ist
und zu Freundschaft wird. Vielleicht können Sie sich an solche
Übergänge erinnern und können von daher ahnen, was es bedeutet,
dass wir Gott so vertraut ansprechen dürfen: Vater unser im Himmel.?
Zugleich stoßen wir schon hier an die Grenzen unserer Bilder, unserer
Vorstellungen, unserer Sprache: Dass wir Gott mit „Du“ ansprechen
dürfen, als Person, als Gegenüber ist Ausdruck seiner Zuwendung, ist
Zeichen seiner Liebe, mit der er uns ernstnimmt und bejaht. Es darf mich
aber nicht dazu verleiten, nun zu meinen, ich hätte Gott verstanden und
ergriffen, weil ich ihn ansprechen und Vater nennen darf. Gott bleibt
immer auch Geheimnis. Gott übersteigt immer auch unser Begreifen.
Und gerade darin macht er es möglich, dass auch unser Glaube und
unsere Hoffnung menschliches Maß und menschliche Einsicht
übersteigen können und dürfen. Warum? Weil wir uns ja auf Gott hin
ausrichten, den Unvergleichlichen und Einzigartigen!
Vater unser – einen Moment verweilen wir noch bei dieser eröffnenden
Anrede, der dann die sieben Bitten des Vaterunser-Gebetes folgen.
Keine Frage, unser Glaube ist von dieser Anrede geprägt: Gott als Mann.
Gott als Vater. Unser Glaube ist von tiefliegenden Vorstellungen
mitbestimmt, die dieser Anrede anhängen, von althergebrachten
Attributen, die ein Mann idealerweise haben sollte: kraftvoll, klar,
aufrichtig, gerade, beschützend. Aber laufen wir nicht darin Gefahr, Gott
klein zu machen, ihn auf menschliches Maß zu reduzieren, noch dazu
auf das Maß einer vergangenen Zeit? „Gottesglaube-Gottesbilder“: Gut,
dass wir uns diesen Themen innerhalb der Lankwitzer Predigtreihe
zuwenden! Die sogenannte „feministische Theologie“ hat zu Recht
darauf aufmerksam gemacht, dass das biblische Zeugnis von Gott
ebenso viele Eigenschaften kennt, die traditionellerweise Frauen
zugeschrieben werden: Gott, der als Ursprung das Leben in sich trägt,
Gott, der sich mütterlich seinen Kindern zuwendet, Gott, der tröstet, der
liebt, der leidet und mitfühlt. Wir können also zusammen-fassend sagen:
Gott wendet sich uns zu, wie sich liebevolle Eltern ihrer Kinder
annehmen – und zugleich immer noch weit mehr als wir es je begreifen
und in Worte fassen können.
Wenn wir das Bedachte im Sinn behalten, dann können wir getrost
mitbeten: Vater unser / im Himmel, und wandern darin schon zum
nächsten Sprach- und Vorstellungsbild. In nur vier Worten ist hier
angedeutet, was die unterschiedlichen Dimensionen Gottes ausmacht,
zumindest, wie wir sie uns hilfsweise zurechtlegen. Der Gott, den wir
Vater nennen und mit Du ansprechen dürfen, der ist zugleich der
allumfassend Herrschende. Der ist der Schöpfer und Erhalter des
Himmels, also all dessen, was ist, innerhalb und außerhalb unseres
Fassungsvermögens. Von dort fällt noch einmal ein besonderes Licht auf
das Wunder, dass eben dieser Gott, der alles in allem ist, dass der sich
uns zuwendet mit seiner ganzen, ungeteilten Liebe, wie wir sie in Jesus
Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen erfahren. Paul Gerhardt
hat genau dieses, in den ersten vier Worten des Vaterunsers enthaltene
Wunder poetisch nachvollzogen und ausgedeutet, indem er dichtete:
„Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch
Wege finden, da dein Fuß gehen kann.“
Liebe Gemeinde,
wenn wir den Dimensionen nachspüren, die sich für den Glauben mit
dem Bild des Vaters im Himmel verbinden können, dann erkenne ich
noch einen weiteren Bezug, eine Richtung, die wir besonders im
Zusammenhang mit dem noch nicht lange zurückliegenden
Himmelfahrtsfest bedenken: In der Sprachwelt des Glaubens hat der
Himmel nicht nur die eben bedachte kosmische Dimension, sondern ist
zugleich auch Ausdruck der lebendigen, nahen, erfahrbaren Gegenwart
Gottes. Die Theologin Dorothee Sölle hat dazu ein Gedicht geschrieben
und ihm die Überschrift gegeben: „Den Himmel erden“. Wo Menschen
zusammenkommen, um ihren Glauben, ihr Vertrauen, aber auch ihre
Ratlosigkeit, ihr Suchen, ihr Trauern zu teilen, wo Menschen anfangen zu
spüren, dass Gott ihnen nachgeht, dass er sie begleitet und hält, trotz
allem, was dagegen zu sprechen scheint, wo Menschen beginnen aus
diesen Erfahrungen zu leben und zu handeln, da fängt der Himmel an,
da wird der Himmel geerdet. Da ereignet sich unter uns Gottes Wille,
oder, um es in einem weiteren Sprachbild unseres Glaubens und des
Gebetes Jesu zu sagen, da beginnt Gottes Reich hier und heute und
mitten unter uns. „Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im
Himmel, so auf Erden.“
Unversehens sind wir während unserer Wanderung durch den Raum des
Vaterunser-Gebetes an einer Bitte vorübergegangen, die es doch wert
ist, dass wir noch einen Moment bei ihr verweilen.
Ich meine die Bitte „Den Namen werde geheiligt.“ Wie heiligen wir Gottes
Namen? Ganz gewiss nicht, indem wir raffinierte Riten und Gebräuche
entwickeln oder unsere Kirchen besonders kostbar ausstatten. Gegen
die Gefahr, den lebendigen Glauben zum kalten Kult erstarren zu lassen,
zur theatralischen Selbstdarstellung, haben schon die Propheten des
Alten Bundes Stellung bezogen. So heißt es beim Propheten Amos: „Ich
hasse eure Feste und eure fetten Brandopfer will ich nicht sehen,
sondern das Recht ströme wie Wasser.“ So also heiligen Glaubende,
Christen wie Juden, den Namen ihres Herrn, wenn sie sich um
Gerechtigkeit und Frieden bemühen und wenn Gottes Reich unter ihnen
beginnt.
In der Stadt, in der heute der 35. Deutsche Evangelische Kirchentag zu
Ende geht, in Stuttgart, wurde mitten im Krieg in einer Gottesdienstreihe
das Vaterunser ausgelegt. Als sich nach einem verheerenden
Bombenangriff, der die gesamte Innenstadt zerstörte, die Gemeinde in
den Chormauern der eingestürzten Stuttgarter Hauptkirche wieder
zusammenfand, da eröffnete der Pfarrer seine Predigt mit den Worten:
„Wir fahren fort in der Betrachtung des Vaterunsers. Was gibt es
Tröstlicheres in dieser Zeit des Todes und des Endes zu sagen, als eben
dies: Wir fahren fort. Denn zwischen Gott und uns hat sich nichts
geändert. Gott ist der Vater. Sein Name werde geheiligt. Sein Wille
geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.“
Was damals in der aberwitzigen Not des Krieges überdeutlich war, das
gilt immer noch und immer weiter: Nicht unser, sondern sein, Gottes
Wille geschehe, hier auf Erden wie im Himmel. Wir heiligen Gottes
Namen, indem wir uns nicht zur Ruhe setzen, sondern indem wir mit ihm
im Kontakt bleiben. Wir beten zu Gott mit den Bitten des Gebetes, in das
uns sein Sohn mit einbezogen hat. Wir bitten ihn darum, dass er uns
instand setze, seinen Willen zu erkennen, nach ihm zu leben und ihn zu
tun, immer wieder neu, beschenkt mit seiner Vergebung und eingehüllt in
seine Liebe. „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von
dir fordert, nämlich Gottes Wort halte und Liebe üben und demütig sein
vor deinem Gott.“
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure
Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserm Herrn. Amen