18.01.2016 Repetitorium Strafrecht und Strafprozessrecht Einheit 5 – Irrtümer im Strafrecht Jakob Tschachler; Angelika Zotter Überblick I. Einführung a) b) c) d) Tatbildirrtum § 8 Irrtum § 10 Abs 2 Irrtum § 9 Irrtum II. Fälle III. Zusammenfassung 1 18.01.2016 I. Einführung a) Tatbildirrtum - Meist Tatsachenirrtum - Auch möglich: Irrtum über den sozialen Bedeutungsgehalt eines normativen TBMerkmals - Folge: Bestrafung wegen Vorsatztat ausgeschlossen, aber doppelt bedingte Fahrlässigkeitshaftung 2 18.01.2016 b) Irrtümliche Annahme eines rechtfertigenden Sachverhalts § 8 - Täter nimmt zusätzlich Sachverhaltselemente an, die zu Rechtfertigung führen würden - Folge: Bestrafung wegen Vorsatztat ausgeschlossen, aber doppelt bedingte Fahrlässigkeitshaftung c) Irrtümliche Annahme eines entschuldigenden Sachverhalts - Täter nimmt zusätzlich Sachverhaltselemente an, die zu Entschuldigung führen würden - Folge: Bestrafung wegen Vorsatztat ausgeschlossen, aber doppelt bedingte Fahrlässigkeitshaftung 3 18.01.2016 d) Verbotsirrtum § 9 - direkter/indirekter Verbotsirrtum Täter fehlt aktuelles Unrechtsbewusstsein Aber: Vorsatz vorhanden Folgen: Wenn vorwerfbar (§ 9 Abs 2), strafbar wegen Vorsatztat! II. Fälle 4 18.01.2016 Fall 1 Nach einer langen Nacht nimmt A irrtümlich statt seines eigenen Mantels den des X an sich. Erst zu Hause merkt er, dass die hineingestickten Initialen nicht zu seinem Namen passen. Strafbarkeit A § 127? Objektiver TB ✔ Subjektiver TB X => Tatbildirrtum Es gibt kein FL-Delikt, daher straflos (evt § 134 Abs 2 StGB)! 5 18.01.2016 Fall 2 A hat bei B einen Bildband bestellt und bezahlt. Als er in das Geschäft kommt, ist B nicht da, der Bildband allerdings schon. Er nimmt ihn an sich, weil er denkt, ohnehin bereits Eigentümer zu sein. Strafbarkeit A § 127? Objektiver TB ✔ Subjektiver TB: Irrtum über normatives TB Merkmal (Tatbildirrtum) Doppelt bedingte FL Prüfung: Es gibt kein FL Delikt! =>Straflos! 6 18.01.2016 Fall 3 A will B ums Eck bringen. Er lauert ihm und seiner Gattin X beim Nachhauseweg in einem Park auf. Als sich A mit seiner Frau X nähert a) zielt B auf A, trifft aber X. X stirbt. b) drückt B ab und zielt auf X, die er aus der Entfernung für A hält. X stirbt. Variante a) Strafbarkeit B? Aberratio ictus: Strafbar §§ 15 Abs 1, 75 StGB gegen A, § 80 gegen dessen Frau. 7 18.01.2016 Variante b) Strafbarkeit B § 75? => Unbedeutender Error in persona, strafbar wegen § 75 StGB! Fall 4 Der Jogger X will A in einem dunklen Park nach der Uhrzeit fragen. Von seinem Abendlauf noch ganz außer Atem, kommt er hechelnd und keuchend auf A zu. A glaubt, X wolle sich an ihr vergehen, daher schlägt sie ihn nieder und verletzt ihn. a) Da es schon mitten in der Nacht ist und sich X tatsächlich recht ungeschickt verhält, hat die Situation wirklich einen bedrohlichen Anschein. 8 18.01.2016 Variante a) Strafbarkeit A § 83 Abs 1? Keine Notwehrsituation Aber: Putativnotwehr § 8 iVm § 3 StGB Putativnotwehrsituation ✔ Putativnotwehrhandlung ✔ Irrtum beruht nicht auf Fahrlässigkeit ✔ =>Straflos (gerechtfertigt/entschuldigt)! b) Es wäre leicht erkennbar, dass hier lediglich ein Jogger in seinem Sportoutfit unterwegs ist. 9 18.01.2016 Variante b) Strafbarkeit A § 83 Abs 1? Putativnotwehr § 8 iVm § 3 StGB Putativnotwehrsituation ✔ Putativnotwehrhandlung ✔ =>Irrtum beruht auf Fahrlässigkeit, strafbar nach § 88 Abs 1 StGB! c) Zwar ist erkennbar, dass X bloß ein einfacher Jogger ist, A ist jedoch kurzsichtig und aufgrund schlechter Erfahrungen höchst ängstlich. 10 18.01.2016 Variante c) Strafbarkeit A § 83 Abs 1? Putativnotwehr § 8 iVm § 3 StGB Putativnotwehrsituation ✔ Putativnotwehrhandlung ✔ =>Irrtum ist zwar objektiv sorgfaltswidrig, aber nicht subjektiv sorgfaltswidrig (körperliche vs emotionale Defekte)! => straflos! d) X setzt sich zur Wehr, indem er A einen Faustschlag verpasst. A erleidet eine leichte Kopfverletzung. 11 18.01.2016 Variante d) Strafbarkeit X § 83 Abs 1? Hängt davon ab, ob A gerechtfertigt oder entschuldigt ist. Bei Entschuldigung: Rechtfertigung d X möglich. => strittig! Fall 5 Der Bankräuber X flüchtet nach einem Raub zunächst mit der Beute, wirft diese jedoch während der Flucht weg, als er bemerkt, dass er sonst bald eingeholt wird. A schießt ihm nach und verletzt ihn, a) weil er glaubt, X hat die Beute noch bei sich. b) weil er glaubt, dies sei im Rahmen der Notwehr erlaubt. Variante: X verliert A während der Verfolgung kurz aus den Augen und verwechselt ihn mit einem Passanten, der gerade einer Straßenbahn nachläuft. A schießt und trifft den Passanten P. 12 18.01.2016 Variante a) Strafbarkeit A § 83 Abs 1? Notwehrsituation objektiv nicht mehr gg § 8? Putativnotwehrsituation ✔ Putativnotwehrhandlung ✔ Fahrlässiger Irrtum? SV unklar! Variante b) Strafbarkeit A § 83 Abs 1? Notwehr X §8X § 9 indirekter Verbotsirrtum? => Grenzen der Notwehr leicht erkennbar, vorwerfbar nach § 9 Abs 2 => Strafbar § 83 Abs 1! 13 18.01.2016 Variante Strafbarkeit A § 83 Abs 1? Notwehr X § 8 iVm § 3? Putativnotwehrsituation ✔ Putativnotwehrhandlung ✔ Aber: Irrtum beruht auf Fahrlässigkeit! => Strafbar gem § 88 Abs 1! Fall 6 Der Ausländer A täuscht in Österreich einen Bankangestellten und es kommt zu einer Auszahlung von 500 Euro. Er wird angeklagt und wendet ein, dass er nie gedacht hätte, einen Betrug zu begehen. In seinem Heimatsstaat gäbe es für solche Fälle keine explizite Regelung. 14 18.01.2016 Strafbarkeit A § 146? Objektiver + subjektiver TB ✔ Rechtswidrigkeit ✔ § 9? Aktuelle Verbotskenntnis bzw vorwerfbarer Rechtsirrtum => Strafbar nach § 146! Variante: A hat bei sich zu Hause einen Kilogramm Kokain (Reinheitsgehalt 50 %) gebunkert, um es später weiterzuverkaufen. Eines Tages klopft die Polizei an die Tür. Als A vor Gericht steht, ist er entsetzt. In seinem Heimatland sind Drogendelikte nur noch nach Verwaltungsstrafrecht strafbar. 15 18.01.2016 Strafbarkeit A § 28 Abs 1, Abs 2 SMG? Vorsatz auf Inverkehrsetzung 500 Gramm Reinsubstanz Grenzmenge 15 Gramm nach SGV Qualifikation nach § 28 Abs 2 SMG => Sogar positive Verbotskenntnis! Fall 7 Der Chef eines kleinen Unternehmens A erkundigt sich bei seinem Rechtsanwalt B, ob es erlaubt sei, seinen Mitarbeiterinnen gegen deren Willen den Hintern zu tätscheln, wenn er mit ihrer Arbeit zufrieden ist. Der Rechtsanwalt sagt, dass das überhaupt kein Problem sei. A „lobt“ eine Mitarbeiterin bei der nächsten Gelegenheit. 16 18.01.2016 Strafbarkeit A § 218 Abs 1a StGB? „Tätscheln“ ausreichend? SV unklar! Wie würde man weiter prüfen? Rechtsirrtum § 9? Erkennt das Unrecht der Tat nicht wegen Rechtsirrtum Ist Rechtsirrtum vorwerfbar? => hM: Trotz Beratung vorwerfbar, da Kernbereich des Strafrechts Fall 8 X ist schwerer Kettenraucher. An das Rauchverbot in der Juridicum Mensa hält er sich äußerst selten. A ist da ganz anders. Als militanter Nichtraucher hält er es für seine Pflicht, für Recht und Ordnung zu sorgen. Als er den hustenden X mit einem Glimmstängel in der Hand sieht, zieht er seinen Revolver und sagt ihm, dass er sitzenbleiben soll, bis ihn die Polizei übernimmt. Er ist sich sicher, dass ihm die Rechtsordnung dieses Verhalten erlaubt. 17 18.01.2016 Strafbarkeit A § 105 Abs 1(evt 106 Abs 1 Z 1)? Rechtfertigung durch § 80 Abs 2 StPO scheidet aus => § 9? Indirekter Verbotsirrtum, aber vorwerfbar § 9 Abs 2 => Strafbar § 105 Abs 1 Fall 9 In der Chemiefabrik ist ein Gasbehälter undicht geworden. Da die Schutztüren automatisch schließen, sind die beiden Chemiker A und X eingeschlossen. Es gibt nur eine Gasmaske, A schlägt den X daher nieder und nimmt ihm die Maske weg: Er glaubt, dass die ausströmenden Gase tödlich sind. In Wahrheit sind sie aber völlig harmlos. X ist leicht verletzt. 18 18.01.2016 Strafbarkeit A §§ 83 Abs 1 (bzw 15, 75 StGB?) Notstand X Entschuldigender Notstand X Irrtümliche Annahme d. entschuldigenden Notstands? Fahrlässiger Irrtum? Bei Chemiker: Wohl ja! => Strafbar nach § 88 Abs 1 StGB! Fall 10 X fragt mitten in der Nacht den völlig betrunkenen A nach der Uhrzeit. In seinem Vollrausch glaubt A überfallen zu werden, schlägt X mit einem gezielten Faustschlag nieder und bricht ihm den Kiefer. 19 18.01.2016 Strafbarkeit A §§ 83 Abs 1, 84 Abs 4? § 287 StGB da vollkommen betrunken (§ 11) § 8 rauschbedingter Annahme eines rechtfertigenden SV? =>strittig (Entweder strafbar nach §§ 287, 83 Abs 1, 84 Abs 4 oder nach anderer Meinung - wenn fahrlässig §§ 287, 88 Abs 1, Abs 4 StGB) ! 20
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