Prokrastination: Von Aufschiebern und Self-Trackern

Kostenloses Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe II
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Diese Arbeitsblätter sind ein kostenloser Service für
die Oberstufe und erscheinen jeden ersten Donnerstag
im Monat. Sie beleuchten ein aktuelles Thema aus der
ZEIT, ergänzt durch passende Arbeitsanregungen zur
praktischen Umsetzung im Unterricht.
In Zusammenarbeit mit:
www.scook.de
Thema im Monat Januar 2016
Prokrastination: Von Aufschiebern und Self-Trackern
Das Aufschieben von unangenehmen Pflichten wie dem Lernen ist ein weit verbreitetes Phänomen unter
Schülern und Studenten. Zwar gibt es Methoden, die Selbstorganisation zu stärken, dennoch scheitern
viele immer wieder an ihrem eingefleischten Prokrastinationsverhalten. Ein neuer Trend zur Selbstoptimierung als Motivation zu einem besseren Lebensstil ist die Selbstvermessung mittels Fitness-Tracker.
Doch ist der permanente Kampf gegen den inneren Schweinehund wirklich immer der beste Weg, um
Dinge geregelt zu kriegen?
In dieser Unterrichtseinheit analysieren Ihre Schüler typische Aufschiebe-Szenarien und erörtern ihre
wirksamsten Gegenmaßnahmen. Sie führen ein Prokrastinations-Tagebuch und setzen eine selbst erlebte
Erfahrung als Sketch um. Als Beispiel einer Maßnahme, um den inneren Schweinehund zu überlisten, wägen Ihre Schüler Chancen und Risiken von Fitness-Trackern ab und setzen sich mit kritischen Aspekten
dieser Selbstoptimierungsbewegung anhand von Leserkommentaren auseinander.
Inhalt:
2 Einleitung: Thema und Lernziele
3 Arbeitsblatt 1: Prokrastination – Liebe und Hass dem Schweinehund
5 Arbeitsblatt 2: Quantified Self – Die 10.000 Fragezeichen
10 Internetseiten zum Thema
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Prokrastination: Von Aufschiebern und Self-Trackern
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Einleitung: Thema und Lernziele
Noch eine Woche, und dann wird’s ernst: mit der Klausur, mit der Abi-Prüfung, mit der Abgabe der Hausarbeit, mit der Deadline für die Präsentation und, liebe Lehrer, für die Rückgabe der korrigierten Arbeiten. Statt
sich konzentriert an die Arbeit zu machen, checken Sie jedoch Ihren E-Mail-Account, erledigen einen Einkauf,
verlieren sich bei YouTube, schlendern zur Kaffeemaschine oder putzen die Wohnung. Falls Sie sich jetzt
wiedererkennen, sind Sie womöglich ein Prokrastinierer. Das sind Menschen, die unangenehme Pflichten vor
sich her schieben. »Aufschieberitis« sagt der Volksmund hierzu, manchmal auch »Studentensyndrom«, und
visualisiert wird dieses Verhalten durch einen imaginären inneren Schweinehund, der einen dazu verleitet,
scheinbar angenehmere Tätigkeiten einer lästigen Pflicht vorzuziehen. Zwar kennt fast jeder gelegentliche
Anwandlungen von Drückebergerei, doch chronische Prokrastination kann den schulischen oder beruflichen
Erfolg ernsthaft gefährden und zu psychischen oder psychosomatischen Beschwerden führen. Die Ursachen
der Prokrastination sind vielfältig und in Expertenkreisen umstritten. Gängige Erklärungsmuster sind eine zu
hohe Erwartungshaltung an sich selbst, überzogener Perfektionismus, Prüfungsangst, eine erlernte Selbstkonditionierung, Selbstzweifel, und im Extremfall wird sie als Symptom einer psychischen Erkrankung wie
Depression oder ADHS verstanden. Prokrastinationsgefährdet sind vor allem Menschen, die ihre Arbeitszeit
selbst koordinieren müssen: Schüler und Studenten etwa, Lehrkräfte oder Freiberufler. Für die meisten Prokrastinierer gibt es viele praktische Tipps und Tricks, die helfen sollen, seine Selbstorganisation in den Griff
zu bekommen. Manche Universitäten bieten professionelle Hilfe für pathologisches Aufschiebeverhalten an:
standardisierte Fragebögen, psychologische Beratung oder Selbsthilfegruppen.
Man kann der Prokrastination aber auch positive Aspekte abgewinnen. Die Autoren Kathrin Passig und Sascha Lobo plädieren für einen »Lifestyle of Bad Organisation« und sehen in der Aufschieberitis eine kreative
Kraft. Diese im Menschen verankerte naturgegebene Faulheit diene als Abwehrmechanismus gegen den
permanenten Druck durch die Anforderungen Dritter und den Zwang zur Effektivität.
Die Quantified-Self-Bewegung ist ein Beispiel für einen umstrittenen Selbstoptimierungstrend. Sogenannte
Fitness-Tracker, am Körper getragene Geräte oder Smartphone-Apps, zeichnen dabei die getätigten Schritte, Laufstrecken, den Puls, Kalorienverbrauch oder den Schlafrhythmus der Nutzer auf. Die Anhänger dieser
Selbstüberwachung versprechen sich hiermit eine bessere Übersicht über ihr Fitnessverhalten, um sich zu
einem gesünderen Lebensstil zu motivieren. Doch es gibt Zweifel an der Aussagekraft der gesammelten
Gesundheitsdaten, Probleme mit der Datensicherheit und die Gefahr, dass Arbeitgeber oder Krankenkassen
mit den gesammelten Daten eine Kontrolle über die private Lebensführung der Self-Tracker ausüben.
Arbeitsblatt 1 enthält einen Drohbrief und einen Liebesbrief an den inneren Schweinehund. Die Schüler
sammeln Beispiele für typische Schüler-Prokrastinations-Szenarien und recherchieren Erklärungsmodelle
zum Phänomen Prokrastination. Sie beleuchten selbstreflexiv ihr eigenes Aufschiebeverhalten, arbeiten an
Lösungsstrategien und setzen eine selbst erlebte eigene Prokrastinationsgeschichte als Sketch um.
In Arbeitsblatt 2 wägen die Schüler Chancen und Risiken von Fitness-Trackern ab. Sie erörtern ihre Erfahrungen mit Self-Tracking-Apps, rezensieren eine dieser Anwendungen und setzen sich mit kritischen Aspekten der Quantified-Self-Bewegung anhand von Leserkommentaren auseinander.
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Arbeitsblatt 1
Prokrastination – Liebe und Hass dem Schweinehund
Er ist das Haustier jedes Studenten, vor allem in der Hausarbeitenzeit. Mancher pflegt
seinen Schweinehund, andere verjagen ihn. Eine Liebeserklärung und ein Drohbrief
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Semesterferien sind keine Ferien, sagen Studenten oft. Denn am Ende wartet die Deadline für ein, zwei,
drei Hausarbeiten. Noch liegt sie in weiter Ferne, noch ist die Zeit der Prokrastination, auch Aufschieberitis
genannt. Schuld am ewigen Aufgaben-vor-sich-herschieben ist der innere Schweinehund, den es zu überwinden gilt. Doch ist das Tier in uns wirklich so böse? Tatsächlich schützt es uns manchmal vor uns selbst.
Eine Liebeserklärung und ein Drohbrief.
Der Liebesbrief
Lieber Schweinehund,
danke für herrlich weiße Dokumente, die im Ordner »Hausarbeiten« abgespeichert sind. Danke für 24
Jahre ohne Sixpack. Danke für die Abende mit billigen Romanen, in denen geliebt, geweint und geheiratet
wird. Immer in dieser Reihenfolge. Danke, lieber Schweinehund, für die vielen faulen Stunden voll sinnvollem Nichtstun.
Und schon wieder schaust du mich mit deinen traurigen Kulleraugen an. Der Text sei lang genug, bellst
du. Ich solle mal früher nach Hause gehen. Heute nicht. Und jetzt Ruhe, ich muss mich auf den weniger
kitschigen Teil konzentrieren. Also: Früher habe ich dich gehasst, wie es so viele andere Menschen tun.
Du zerrst uns weg vom Schreibtisch, immer willst du spielen. Das wäre nicht schlimm, aber da ist dieser
Gegenspieler. Das schlechte Gewissen möchte kämpfen. Es schickt sich schließlich nicht, nichts zu tun.
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Lange versuchte ich, dich zu besiegen. Ich erfand das Belohnungsprinzip und das Bestrafungsprinzip:
Räumte beispielsweise genauso lange auf, wie eine »Big Bang Theory«-Folge dauert, die ich danach
schauen durfte. Ich las so lange keine Nachrichten auf meinem Smartphone, bis eine halbe Seite geschrieben war. Ich erstellte Playlists mit Namen von Uni-Kursen. Klingt alles albern. Hat auch nichts genützt.
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Du bist kein Schoßhund, den wir an die Leine legen können. Oder ins Körbchen. Du nervst. Und dafür liebe
ich dich. Du sagst mir, wann es sinnlos ist, weiterzuarbeiten. Weil ich müde bin. Weil die Sonne scheint.
Weil Dienstag ist. Du, lieber Schweinehund, bist mein Filter. Auch am Wochenende. Du zerrst an mir, wenn
ich mich wieder gezwungen fühle, lozulaufen. Zur nächsten Party, zu jedem Geburtstag und im Sommer
unbedingt zum See. Wir könnten etwas verpassen.
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Aber das tun wir nur bei den besten Freunden, den großen Projekten und den kleinen Träumen. Ansonsten
ist nichts produktiver als Nichtstun. Wann wurde schon einmal eine geniale Idee während einer Hausarbeit
geboren? Du lehrst mich Effizienz, und deshalb überlege ich nun keine weiteren drei Stunden, was diesen
Text noch besser, runder, voller macht und welches Ende er haben muss. Sondern mache einfach einen
Punkt.
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Der Drohbrief
Hau doch ab, elender Sauhund!
Komm raus! Du Hund! Du Sau! Tief drinnen verschanzt du dich, zwischen mühseligen Vorsätzen und auswendig gelernten Phrasen über Stressbewältigung. Was hast du da verloren? Du bist wie schlechter Besuch! Du frisst Zeit und Energie, nistest dich da ein, wo ich allein sein möchte, und bist mir vor meinem
Umfeld peinlich. Einer dieser Fälle, über den Freunde sagen: »Ja, dann schmeiß ihn doch raus, wenn er dich
stört!« Also gut, ich raffe mich auf. Wir müssen reden.
Schweinehund, mit uns beiden klappt es nicht. Such dir ein anderes Frauchen. Ich weiß dank dir, was ich
ohne dich sein könnte. Eine ausgeschlafene Studentin kurz vor der Bachelorarbeit, die weder Zigaretten
noch Ausreden braucht. Ich würde Texte vorbereiten, die mich interessieren, und Texte mutig ignorieren,
in denen ich keinen Sinn sehe. Ich könnte programmieren. Und ich könnte endlich auf den Konjunktiv verzichten.
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Schweinehund, hier geht es um noch viel mehr. Ich möchte keine arbeitsmarktoptimierte Super-Bildungsbürgerin werden. Dass du mir mit deinem dicken Popo die eine oder andere Note nach unten drückst,
stört mich nicht. Faul sein ist wunderbar. Faul sein, weil man Angst hat, ist entsetzlich. Du verniedlichst die
Angst vor dem Versagen.
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Die größten Prokrastinierer sind die größten Perfektionisten. Wir schieben nichts nach hinten, weil wir
keine Lust haben. Wir vertagen den Arbeitsaufwand, um uns hinterher ein Bier aufzumachen, betont
lässig mit den Schultern zu zucken und zu sagen: »Eine 2,5? Ich hab drei Tage vorher angefangen, läuft!«
Unsere Freunde finden das cool. Wow, 2,5 ist total okay, und dann ist die auch noch so entspannt. Und
du, Schweinehund, prostest uns zu und kratzt dir den borstigen Bauch. Was bleibt, sind ein angenehmer
Kater und das unangenehme Gefühl, es eigentlich besser gekonnt, aber nicht versucht zu haben. Weil ich
ja versagen könnte.
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Du spielst dich als Rechtfertigung für mein persönliches Scheitern auf. Damit vermiest du mir die Erfolge.
Pack dein Beutelchen voller Schuldgefühle und mach die Tür von hinten zu!
Anne-Kathrin Gerstlauer, Muriel Reichl, ZEIT ONLINE, 6.8.2014, http://www.zeit.de/studium/uni-leben/2014-07/
schweinehund-prokrastination-liebesbrief-drohbrief
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Aufgaben
1. Die Textbeispiele auf die eigene Situation als Schüler übertragen
Die vorliegenden Beispiele für Prokrastination im Artikel beziehen sich auf Studierende, dennoch ist
das Phänomen auch unter Schülern weit verbreitet. Sammeln Sie im Plenum typische Situationen, in
denen Sie als Schüler wichtige Aufgaben vor sich her schieben.
2. Erklärungsmodelle zur Prokrastination recherchieren und gegeneinander abwägen
a. Entscheiden Sie, ob Sie der Liebesbrief oder der Drohbrief an den inneren Schweinehund eher
anspricht. Tragen Sie als Befürworter des Liebesbriefes die im Text genannten Vorteile für das Aufschieben von Pflichten zusammen. Falls Ihnen eher der Drohbrief zusagt, bearbeiten Sie die Nachteile der Prokrastination. Ergänzen Sie Ihre Liste durch eigene Überlegungen.
b. Recherchieren Sie für Ihre Zusammenstellung weitere psychologische oder strategische Erklärungsansätze für Prokrastination. Mögliche Stichpunkte für Ihre Ermittlungen könnten sein:
Schutzmechanismus gegenüber Erwartungshaltungen Dritter, Perfektionismus, Leidensdruck,
Probleme bei der Selbstorganisation, psychosomatische Beschwerden, Stress, Leistungsrückstand, Freiräume schaffen, Prüfungsangst, Protest gegen Aufgaben, die als sinnlos empfunden
werden, Angst vor dem Scheitern.
c. Vergleichen Sie im Plenum Ihre Erklärungsmodelle, und erörtern Sie, wo die Grenze verlaufen
könnte zwischen harmloser gelegentlicher Vermeidung von unangenehmen Aufgaben und Prokrastination im Sinne einer psychisch belastenden Störung.
d. »Prokrastination ist Faulheit, alle anderen Erklärungsmodelle sind Ausreden.« Erörtern Sie diese
verbreitete These im Plenum.
3. Selbstreflexion: Das eigene Aufschiebeverhalten beleuchten und Lösungsansätze erarbeiten
a. Führen Sie zwei Wochen lang ein Tagebuch, in dem Sie Situationen festhalten, bei denen Sie
wichtige Aufgaben oder Vorhaben vor sich her schieben. Schildern Sie die Arbeit, vor der Sie sich
drücken möchten, was Sie anstelle dessen tun, welche Gefühle Ihr Verhalten bei Ihnen auslöst
und wie sich dieser Konflikt am Ende auswirkt und auflöst.
b. Fassen Sie zusammen, welche Gegenmaßnahmen Sie anwenden, um gegen Ihre eigene Aufschieberitis anzugehen, und als wie wirksam sich diese Strategien bisher erwiesen haben. Tragen
Sie im Plenum anschließend Ihre besten Anti-Prokrastinations-Maßnahmen zusammen.
c. Recherchieren Sie weitere Strategien gegen das Aufschieben. Ergänzen Sie Ihre Aufstellung aus
Aufgabe b, und erstellen Sie ein persönliches Handout mit 15 der vielversprechendsten Tipps und
Tricks gegen Prokrastination.
d. Testen Sie jede einzelne Maßnahme aus Ihrem Handout aus, sobald Sie merken, dass sie prokrastinieren. Halten Sie in Ihrem Tagebuch fest, ob und wie sich die Strategie jeweils bewährt hat.
4. Eine eigene Schweinehund-Geschichte künstlerisch umsetzen
Was ist Ihre komischste, absurdeste, traurigste oder erfolgreichste Prokrastinations-Erfahrung?
Erzählen Sie in der Rolle eines Stand-up-Comedian Ihr Leiden, Ihren Triumph, Ihr Scheitern oder Ihre
Tricks im Kampf mit dem inneren Schweinehund.
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Arbeitsblatt 2
Quantified Self – Die 10.000 Fragezeichen
Schlanker, fitter, ausgeruhter: Wer sich vermisst, will sich optimieren. Nutzer und Sportwissenschaftler sind von den Daten fasziniert. Sie können sie bloß nicht lesen.
Sie haben 3.000 Fuel points verdient, Gratulation! Dafür haben Sie bis 16 Uhr drei Kaffee zu viel getrunken,
Schluss damit! 7.568 Schritte haben Sie heute gemacht, da geht noch was! Und Vorsicht: Ihre Nacht war
nur zu 60 Prozent effizient, brauchen Sie Tipps zum Einschlafen?
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Der Ratgeber hier ist nicht der Arzt, auch spricht nicht das Gewissen. Es ist das Smartphone. Quantified
Self heißt die Vermessung des Menschen mit Apps und Wearables, das »Ich in Daten«. Laut einer aktuellen
Onlineumfrage haben rund 40 Prozent der Deutschen mindestens eine Selbstvermessungsapp auf ihrem
Smartphone, drei Viertel davon nutzen sie auch. Ihr Ziel: sich selbst besser verstehen, als es der Hausarzt
tut, aktiver werden, fitter werden, bewusster oder gesünder leben – und dafür vielleicht als vorbildlicher
Kunde von der Krankenkasse belohnt werden.
Die entscheidende Frage dabei ist, ob sich Leistung, Gesundheit oder auch Glück mittels Kalorien-Schlafrhythmus-Schrittzähler- und Wie-oft-habe-ich-zum-Keks-gegriffen-Apps vermessen lassen – und was die
Nutzer aus ihren Daten herauslesen können.
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Viel ist es nicht. »Wir sammeln im Augenblick Tausende Daten, ohne zu wissen, welche Relevanz sie haben«, sagt der Sportwissenschaftler Ingo Froböse von der Deutschen Sporthochschule Köln. Das zentrale
Problem ist nicht die Technik, sondern der menschliche Körper: »Wir kennen den Menschen und seine
Reaktionen größtenteils noch gar nicht«, sagt Froböse.
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Die Wege etwa, die die Nährstoffe im menschlichen Körper nehmen, sind komplex. Was wann und wo
genau passiert und mit welchen Folgen, ist nicht geklärt. »Wir sehen oft nur das Ergebnis. Wie es dazu
gekommen ist, kann dennoch rätselhaft sein«, sagt Froböse. So könne das Gewicht zwar ein Indikator für
ein Gesundheitsrisiko sein, »es ist aber zunächst auch nur ein Symptom«. Ein erhöhter Puls könne ebenfalls
auf ein Problem hindeuten, doch was ist die wahre Ursache?
Eines zumindest weiß Froböse: Nicht alles, was die Anbieter von Quantified-Self-Gadgets versprechen,
können sie halten. Denn Aktivität ist nicht das Gleiche wie Fitness oder gar Gesundheit.
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Wer täglich 10.000 Schritte macht, lebt nicht zwingend gesünder als jemand, der nur 5.000 schafft. Vielleicht nicht einmal aktiver. Die Zahl zeigt an, dass jemand sich bewegt; nicht aber, wie intensiv. Darüber
kann zwar die Herzfrequenz während einer Belastung Auskunft geben, und die mag beim Treppensteigen
auffallend hoch sein, was aber sagt das aus? »Und wenn ich meine Schlafzeiten aufzeichne und feststelle,
dass ich für meine Altersklasse und das Geschlecht zu wenig geschlafen habe, mich aber verdammt ausgeschlafen fühle, was dann?«, fragt Froböse.
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Verhalten lässt sich besser messen als Gesundheit
Ein anderes Beispiel: Wer eine Strecke besonders schnell läuft, ist nicht unbedingt fit. Zur Fitness gehören
nach Angaben des Sportwissenschaftlers auch Beweglichkeit, Schnelligkeit, Kraft, Ausdauer, Koordination, Anpassungsfähigkeit, Orientierungsfähigkeit und einiges mehr. Viele mögen sich nach dem Laufen
besonders gut fühlen, weil sie sehr schnell – also schneller als der Rest – gelaufen sind. Sie schlafen dann
aber vielleicht unruhig, weil der Körper eigentlich überfordert war, zudem verschlechtert sich der Harnsäurespiegel, weil die Muskeln ständig übersäuert sind. »Das Äußere war in solchen Fällen viel dominanter
als die Signale des Körpers, das kann dann sogar schädlich sein«, sagt Froböse.
Wer Höchstleistungen vollbringt, lebt also nicht automatisch gesund. »Gesundheit mit Algorithmen zu
erfassen, ist unmöglich«, sagt der Sportwissenschaftler. »Außer man versucht, sie auf verschiedene physiologische Funktionen zu reduzieren.« Genau das tun viele Apps und Fitness-Tracker. Sie reduzieren den
Körper auf das Messbare. Sport ist damit gleich Leistung. »Der eigentliche Effekt von Bewegung aber liegt
im Inneren: Die Stimulation der Organe etwa, die Stressabwehr und eine Optimierung des Wohlbefindens
– darüber gibt mir eine App keine Auskunft.«
Andere sehen einen größeren Nutzen in Quantified-Self-Werkzeugen. »Self-Tracking ermöglicht es, neue
Fähigkeiten wahrzunehmen, die den bisherigen Sinnen verborgen bleiben«, schreibt etwa die Philosophin Melanie Swan. Richtig genutzt, werde der individuelle Körper dadurch bekannter, berechenbarer und
behandelbarer. Bislang, davon ist auch sie überzeugt, sagen die Messwerte der meisten Apps allerdings
wenig über unsere Gesundheit aus. Sie verraten nur etwas über unser Verhalten, das aus medizinischer
Sicht oft zu wünschen übrig lässt.
Quantified Self kann kranken Menschen helfen
Die Probleme der deutschen Bevölkerung lassen sich so zusammenfassen: zu viele Kalorien, zu wenig
Bewegung. Rund 85 Prozent der Deutschen sind »zu inaktiv«, wie ein aktueller Bericht der Deutschen
Krankenversicherung unter wissenschaftlicher Leitung der Deutschen Sporthochschule in Köln besagt.
In den vergangenen Jahren hat das im Schnitt zu einem steten Anstieg des Körpergewichts beigetragen,
was zuletzt Zahlen des Statistischen Bundesamts bestätigt haben. Ist es da nicht hilfreich, wenn Apps zu
mehr Bewegung anregen?
»Zu wenig Bewegung kann krank machen. Insofern ist es gut, wenn Apps uns dafür sensibilisieren«, sagt
Franz-Joseph Bartmann, Vorsitzender des Ausschusses Telematik der Bundesärztekammer. Die Anwendungen zeichneten ein leicht verständliches Bewegungsdiagramm und zeigten so die ganz persönlichen
Schwächen. »Darin liegt ihre Stärke.« Doch kurzfristige Motivation ist das eine, langfristige etwas ganz
anderes. Studien darüber, ob Nutzer auf Dauer öfter zum Apfel greifen oder ob die gerade angesagte
»Plank Challenge« – die lange Haltung im Unterarmstütz – zum Morgenritual wird, gibt es nicht. »Dafür ist
das Ganze noch zu neu«, sagt Bartmann.
Je spezialisierter die App sei, desto sinnvoller das Angebot, davon sind Bartmann und Froböse überzeugt.
Gezielt gesteuert, lasse sich Gesundheit verbessern. »Da sprechen wir dann aber nicht mehr von FitnessApps. Wir sprechen von Entwicklungen, die einen direkten Nutzen für Patienten haben«, sagt Bartmann.
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Menschen also, »die nicht vermeintlich unfit, sondern nachweislich krank sind«. Für Diabetiker beispielsweise gibt es ein neues Gerät, mit dem sie ihre Blutzuckerwerte lückenlos prüfen können. »Die Therapie ist
dadurch weit besser zu steuern, das ist segensreich«, sagt Bartmann.
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Es gibt also Parameter, die – gezielt angewendet – durchaus etwas über den Gesundheitszustand aussagen. Die Masse der Daten jedoch tut es nicht. Noch nicht. »Wenn man bedenkt, wie viele Menschen
bereits Wearables und Apps nutzen, so bietet sich hier die einmalige Möglichkeit, mehr über ihr Verhalten
herauszufinden«, sagt Froböse.
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Er ist überzeugt, dass in all den Daten, die Menschen derzeit weltweit mit Fitness-Apps sammeln, aussagekräftige Informationen stecken. Sie vollends zu verwerfen, wäre fahrlässig – dafür ist ihr Potenzial zu
groß. Sie jetzt schon zu interpretieren und vom Einzelnen auf alle zu schließen aber auch. »Wir müssen uns
eingestehen, dass wir die Informationen noch nicht lesen können.« Die Aufgabe der Wissenschaft besteht
nun darin, den menschlichen Körper so weit verstehen zu lernen, dass aus einzelnen Daten eine verständliche Sprache wird.
Alina Schadwinkel, ZEIT ONLINE, 20. April 2015, http://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2015-04/quantified-selffitness-gesundheit-wissenschaft
Aufgaben
1. Erfahrungen mit Fitnessanwendungen und -geräten zusammenführen und erörtern
a. Listen Sie auf, welche Self-Tracking-Geräte oder -Apps Sie selbst nutzen oder besitzen (Sport/
Bewegung, Ernährung/Kalorien zählen, Schlafrhythmus). Erläutern Sie die Funktionen des Gerätes oder der App in einem kurzen Abriss.
b. Schildern Sie Ihre Erfahrungen mit Self-Tracking, indem Sie folgende Fragen beantworten und
Ihre Einschätzung begründen:
• Hat das Self-Tracking Sie dazu motiviert, einen gesünderen Lebensstil umzusetzen?
• Ist das Gerät/die App Ihrer Erfahrung nach ein geeignetes Mittel gegen Prokrastination bzw.
Überwindung des inneren Schweinehundes?
• Fühlen Sie sich durch das Fitness-Tracking unter Druck gesetzt?
• Fühlen Sie sich durch Ihre Freunde unter Druck gesetzt, mit solchen Anwendungen mitzuhalten und diese zu nutzen?
• Nutzen Sie die Anwendung/das Gerät über einen längeren Zeitraum, oder hatten Sie bald das
Interesse daran verloren?
c. Schreiben Sie eine Rezension mit mindestens 1.500 Zeichen über ein Self-Tracking-Gerät bzw.
eine -Anwendung. Falls Sie keinen Zugang zu einer solchen Anwendung bekommen können,
recherchieren Sie im Netz zu einer beliebigen App oder einem Gerät, und halten Sie die durchschnittliche Experten- oder Kundenbewertung fest.
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Prokrastination: Von Aufschiebern und Self-Trackern
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2. Die Vor- und Nachteile des Self-Trackings erörtern
a. Tragen Sie in einer Liste die im Artikel genannten Pro- und Kontra-Argumente zur QuantifiedSelf-Bewegung zusammen.
b. Arbeiten Sie anhand der Liste die Kernthese der Autorin sowie ihren Standpunkt zu diesem
Selbstoptimierungstrend heraus.
c. Die Autorin konzentriert sich in ihrem Artikel auf die Aussagekraft der erhobenen Daten beim
Self-Tracking. Recherchieren Sie weitere Aspekte zum Thema, und ergänzen Sie Ihre Pro-undKontra-Liste aus Aufgabe a). Erschließen Sie aus Ihren Arbeitsergebnissen die Risiken und die
Chancen des Quantified-Self-Trends.
3. Einen begründeten Standpunkt in der Debatte um die Quantified-Self-Bewegung beziehen
Verfassen Sie einen abwägenden Kommentar zu einer der unten aufgeführten Lesermeinungen zum
Artikel. Recherchieren Sie im Vorfeld Hintergrundinformationen zum Sachverhalt. Entwickeln Sie in
Ihrem Fazit einen begründeten eigenen Standpunkt, der die These des Lesers stützt oder entkräftet.
User Wilhelm Klaus, Kommentar #4:
»Weltweit haben vor allem Versicherer ein Höchstmaß Interesse an diesen Daten. Die Menschen
schaffen sich freiwillig ein neues Gefängnis und machen sich freiwillig zu willfährigen, in Echtzeit
überwachten Opfern der Versicherungsindustrie.«
User zxy987, Kommentar #9:
»Wer sich vermisst, will sich optimieren. Wie wär‘s mal als ersten Schritt damit: sich selbst so akzeptieren, wie man ist. Ohne Geräte. Es hat schon etwas Krankhaftes, sein Selbstbild an den Algorhitmen einer Maschine zu orientieren. Und die Wenigsten, auch der Autor merken es: Die kapitalistische
Optimierungsdenke bestimmt in sehr vielen Bereichen schon das gesellschaftliche Bewusstsein und
wird noch zum Mantra erhoben. Man möchte den Optimierungsfetischisten raten: einfach mal wieder
ein paar Stunden in einen Wald gehen und die Natur wahrnehmen.«
User numbers, Kommentar #10:
»Die deutsche Bevölkerung (und insbesondere Smartphone-Nutzer) kann jeden Anreiz zur Bewegung gut gebrauchen. Diese Apps sind ein Segen!«
User Suchbaumzünsler, Kommentar #1
»Man muss schon gewaltig ein Rad abhaben, wenn man sich neben allen anderen Zwängen des Alltags auch noch so einem Ding unterordnet.«
Leserkommentare zum Artikel »Quantified Self – Die 10.000 Fragezeichen«, ZEIT ONLINE, 20. April 2015,
http://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2015-04/quantified-self-fitness-gesundheit-wissenschaft (gekürzt)
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Prokrastination: Von Aufschiebern und Self-Trackern
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Internetseiten zum Thema:
Prokrastination: Von Aufschiebern und Self-Trackern
ZEIT ONLINE: Wir jagen die Diebe der Zeit. Bald!
http://www.zeit.de/studium/2014-09/prokrastination-studium-online-kurs
ZEIT ONLINE: Thema Quantified Self – Vermessen, verbessern, verkaufen
http://www.zeit.de/thema/quantified-self
ZEIT ONLINE: Zehn Tipps zum Anfangen
http://www.zeit.de/campus/2012/04/prokrastination-tipps
ZEIT ONLINE: Wenn das Vermessen des Selbst zur Kunst wird
http://www.zeit.de/video/2015-03/4123352694001/quantified-self-wenn-das-vermessen-des-selbst-zurkunst-wird
Prokrastination.com: »Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin«
http://prokrastination.com/
Westfälische Wilhelms-Universität Münster: Prokrastination – Ambulanz/Selbsttest
https://www.uni-muenster.de/Prokrastinationsambulanz/prokrastination.html
Freie Universität Berlin: Prokrastination Selbsttest
http://www.fu-berlin.de/sites/studienberatung/prokrastination/selbsttest/index.html
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Projektleitung: Katja Grafmüller, Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG
Projektassistenz: Alisa Ritter, Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG
Didaktisches Konzept und Arbeitsaufträge: Susanne Patzelt, Wissen beflügelt