Deutschlands Spitzenverdiener schwächeln

Oberstes Prozent – Deutschlands Spitzenverdiener schwächeln
Der Einkommensanteil des reichsten Prozents der Bevölkerung ist hoch, er fällt aber zurück.
Die Finanzkrise hat die deutschen Top-Verdiener Einkommen gekostet.
04.01.2016, von Patrick Bernau (FAZ online)
Deutschlands Superreiche werden immer reicher? So ist es nicht ganz. Im vergangenen
Jahrzehnt haben die Spitzenverdiener sogar über mehrere Jahre an Einkommen verloren.
Bislang unveröffentlichte Studien des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), die
dieser Zeitung vorliegen, zeigen, dass die Einkommen des obersten Prozents der deutschen
Steuerzahler zwischen 2008 und 2011 durchschnittlich zurückgegangen sind.
Es handelt sich dabei um diejenigen, die als einzeln oder gemeinsam Steuerveranlagte mehr als
rund 150.000 Euro im Jahr verdient haben. Auch die Einkommensanteile des obersten
Tausendstels (mehr als 500.000 Euro Einkommen im Jahr) und des obersten Zehntausendstels
(mehr als 2 Millionen Euro) sind zurückgegangen.
Das reichste Prozent der Deutschen hatte 2008 noch einen Einkommensanteil von 14,5 Prozent
– im Jahr 2009 waren es nur noch rund 13 Prozent, und dort verharrte der Einkommensanteil
bis zu den jüngsten verfügbaren Zahlen für 2011. Das liegt daran, dass in den Jahren nach der
Finanzkrise die Kapitalgewinne besonders gelitten haben. Unternehmen machten Verluste und
schütteten kaum noch Dividenden aus, Aktienkurse sanken, auch die Zinsen fielen. Das drückte
das Einkommen der Reichen in vielen Ländern.
In Deutschland dauerte dieser Trend allerdings offenbar länger an als in den Vereinigten
Staaten, wo die Einkommen des obersten Prozents schon 2011 fast wieder ihren historisch
hohen Vorkrisenstand erreicht hatten und so den Anlass für die Demonstrationen der „Occupy
Wall Street“-Bewegung gaben.
Die Spitzenverdiener haben immer noch relativ viel
Studien-Mitautorin Charlotte Bartels betont, dass Deutschlands Reichste in den Jahren vor der
Finanzkrise ihr Einkommen besonders stark gesteigert hätten. „Von 2004 bis 2008 ist der
Einkommensanteil der Spitzenverdiener rapide gestiegen“, sagt die DIW-Forscherin. Auch
nach dem Rückgang in der Finanzkrise sei der Anteil im historischen Vergleich noch relativ
hoch. Ihren Rechnungen zufolge hatten die Spitzenverdiener zuletzt während des
Wirtschaftswunders in den sechziger Jahren so einen großen Anteil am Einkommen der
Deutschen.
Die neuen Untersuchungen stärken eine These über die Schere zwischen Arm und Reich, die
unter Experten schon seit einigen Jahren diskutiert wird: Zwar haben sich Arm und Reich in
Deutschland vor allem in den Zeiten hoher Arbeitslosigkeit Anfang des vergangenen Jahrzehnts
weit auseinanderentwickelt. Doch seit einigen Jahren geht die Schere nicht weiter auf, vor allem
seit viele arme Deutsche in Folge von Gerhard Schröders „Agenda 2010“ wieder Arbeit
gefunden haben. Zudem schlug die Finanzkrise auf die Einkommen der Reichen.
Insgesamt wächst die wirtschaftliche Ungleichheit, gemessen an dem sogenannten „GiniKoeffizienten“ der Bruttoeinkommen, den aktuellsten Berechnungen zufolge seit 2005 nicht
mehr. Den Rekordwert aus jenem Jahr hat sie nicht mehr erreicht.
Dass der Trend der Spitzeneinkommen erst nach mehreren Jahren deutlich wird, liegt an
Statistikproblemen. Einkommensstatistiken werden häufig durch Umfragen ermittelt. Die
wichtigste ist das sogenannte Sozio-ökonomische Panel (SOEP) am DIW, für das jährlich mehr
als 20.000 Menschen befragt werden. Doch trotz aller Bemühungen fehlen Teilnehmer aus dem
reichsten Prozent. Nachdem Gewerkschaften und einige Ökonomen das kritisiert hatten,
verglichen SOEP-Forscher jetzt ihre Daten mit denen der Einkommensteuerstatistik. Dort sind
alle Steuerzahler erfasst, auch die Spitzenverdiener. Dafür fehlen viele arme Deutsche, die
mangels Geld gar keine Steuern zahlen. Die Steuerdaten kommen erst mit einigen Jahren
Verspätung, wenn Steuererklärungen und Einsprüche erledigt sind.
Was die steigenden Aktienkurse der vergangenen Jahre für die Ungleichheit bedeuten, ist
unsicher. Gegen eine wachsende Ungleichheit spricht, dass nach wie vor immer mehr
Menschen Arbeit haben und die Löhne im vergangenen Jahr so schnell gestiegen sind wie seit
Jahren nicht mehr. In jedem Fall aber bleibt die wirtschaftliche Ungleichheit weit unter dem
Niveau, mit dem die meisten Deutschen rechnen. Schon vor einigen Monaten hat eine Umfrage
des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft gezeigt, dass die Deutschen vor allem
das Ausmaß der Armut deutlich überschätzen.
Quelle: F.A.Z.