Perspektivenwechsel: Kinder sehen es anders

Perspektivenwechsel: Kinder sehen es anders
Umgangssprachlich wird gesagt, dass jedes Ding zwei Seiten hat. Um aber eine Perspektive
zu bekommen, muss ein Standpunkt eingenommen werden. Von einer Position aus kann
man jedoch meistens nicht zwei Seiten sehen. Vom eingenommenen Standpunkt aus
erschließt sich eine von mehreren (mindestens zwei) Perspektiven. Sie stellt immer die
subjektive Sichtweise einer Person auf einen Sachverhalt dar. Konflikte bzw. Konkurrenz
zwischen Perspektiven sind daher wahrscheinlich.
Eine Recherche zum Perspektivenwechsel erbringt zunächst unterschiedliche Verwendungen
dieses Begriffes:
In der Literatur finden sich drei Formen des Wechsels: Das kann von einem Erzähler in der
ersten Person zu einem Erzähler in der dritten Person oder umgekehrt passieren Auch kann
die Zeitperspektive verändert werden. Man sieht etwas aus der Perspektive der
Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Allerdings wird die Gegenwart nie wirklich
verlassen.
Auch in der Architektur ist der Perspektivenwechsel bekannt: von der freien Form (zeichnen,
so wie etwas gesehen wird) zur geometrischen (zeichnen auf dem Hintergrund theoretischer
Kenntnisse)
In der Theaterwissenschaft findet ein Wechsel in der Perspektive dann statt, wenn etwas
wahrgenommen, aber verändert wieder dargestellt wird. Das kann durch den Wechsel der
Personen (z.B. Yasmin Reza: Drei Mal Leben) oder durch die Veränderung der räumliche
Position geschehen. So verändert sich der Blickwinkel auf ein bestimmtes Objekt.
Und schließlich wird in der Kommunikationswissenschaft darauf hingewiesen, dass
verschiedene Perspektiven auf ein Thema durch Argumentation gewechselt werden können.
Dabei stellt eine Perspektive eine Spezialisierung dar, in dem ausgewählte Aspekte bei
gleichzeitiger Vernachlässigung anderer hervorgehoben werden.
Dieser die Disziplinen übergreifende Blick lässt schon deutlich werden, dass der Kern des
Perspektivenwechsel die Veränderung ist. Der Akteur verändert seine Position im physischen
Raum oder er nimmt eine andere gedankliche Position ein. Zu der bekannten Sicht kommt
eine weitere hinzu. Sie erschließt sich durch eigene Veränderung oder durch die Hinzunahme
der Sicht des/der Anderen.
Perspektivenwechsel bewirkt anscheinend eine andere Qualität. Eine sozialwissenschaftliche
Recherche zeigt unterschiedliche Aspekte auf:
Perspektivenübernahme
Es geht um das Verhältnis, das zwischen dem Selbst des Individuums und der Welt besteht.
Im Kern stellt sich die Frage: Was ist Objekt und was ist Subjekt? Einerseits werden neue
Erfahrungen dem schon vorhandenen Wissen angeglichen (Assimilation), andererseits wird
das vorhandene Wissen an die neuen Erfahrungen angeglichen (Akkomodation). Nach Piaget
(1975) verläuft dieses Wechselspiel nicht kontinuierlich. Vielmehr werden Phasen des
Gleichgewichts von Phasen der Instabilität und einem qualitativ neuen Gleichgewicht
abgelöst. Jede Neuorganisation des Verhältnisses von Objekt und Subjekt ist eine Form des
Wissens über die Welt.
Die Übernahme von Perspektiven ist als Teil von Entwicklung zu sehen, zum Beispiel
hinsichtlich Kultur und Gender. Aber auch die Perspektive auf Kindheit heute und die
Perspektive auf Kindheit morgen als eingelagerte Erwartungen gehören dazu.
Konfrontation durch Perspektivenwechsel
Die Gegenüberstellung der subjektiv erfahrenen Ich-Identität und dem antizipierten
Fremdbild kann zu einem Konflikt führen, der in der Person ausgetragen wird. Was passt zu
mir? Was passt nicht zu mir?
Perspektivenwechsel vs. Perspektivenwissen
Eine Untersuchung an der EHD kommt zu dem Schluß, „dass es sich bei den
Übereinstimmungen der Erwachsenen- mit der Kinderbewertung mehr um ein
Perspektivenwissen als um einen Perspektivenwechsel handelt, die Erwachsenen die
Kindersicht also wiedergegeben, nicht eingenommen haben.“
Perspektivenwechsel hat also nicht die Aufgabe oder Ausblendung einer Perspektive als
Grundlage, sondern während der andauernden Präsenz einer Perspektive wird ergänzend
eine weitere Perspektive aufgesucht, bezw. das Wissen um eine andere Perspektive
integriert. Durch den Vergleich unterschiedlicher Perspektiven werden die Besonderheiten
sichtbar.
Die Bereitschaft andere Perspektiven aufzusuchen, diese der eigenen Perspektiven
beizuordnen, setzt zunächst Lernbereitschaft voraus. Diese ist dann insofern mit einer
Risikobereitschaft gepaart, als das Ergebnis auch sein kann, die eigene Anfangsperspektive
aufzugeben.
Wechseln Sie mal die Perspektive !?
Sich in ein Kind hineinzuversetzen, etwas mit Kinderaugen sehen- ja, geht das denn? Die
meisten Erwachsenen werden diese Frage positiv beantworten. Natürlich, denn sie waren ja
auch mal Kind. Und wenn man in die Hocke geht, erreicht man auch die Sichthöhe von
Kindern. Und schon sind Erwachsene in zwei Fallen getappt.
Die Erinnerungsfalle
Wer sich an seine Kindheit erinnert, geht zurück in einen gesellschaftlichen und kulturellen
Entwicklungsstand, der heute überholt ist. Gab es schon das Internet, das Smartphone? Wie
sah es im Kinderzimmer aus? Wo waren die heimlichen Orte der Kindheit? Gab es noch nicht
definierte Flächen? Orte und Gegenstände der eigenen Kindheit unterscheiden sich von den
Kindererfahrungen heute. Sich erinnern hilft nicht. Außer für die Erinnerungen bei der
Feuerzangenbowle.
Die Verkleinerungsfalle
Natürlich sind wir gelenkig genug, um uns klein zu machen. Aber was sehen wir da? Oder
was glauben wir da zu sehen und zu hören? In dem wir uns klein gemacht haben, ist unser
Gehirn nicht geschrumpft. Das Kind am Straßenrand nimmt das Auto wahr, wenn es zu
sehen ist. Wir hören bereits das nahende Auto und können das Fahrgeräusch identifizieren.
Auch wenn es in manchen Filmen vorkommt: wir können uns nicht in die Vergangenheit
zurückbeamen. Insofern sind unsere Deutungsmuster für das, was wir sehen und hören, die
eines erfahrenen Erwachsenen. Sich klein zu machen, hilft nicht.
Neugierig auf das Perspektivwissen
Wenn wir also nicht mehr werden können wie die Kinder, dann bleibt nur ein Weg, nämlich
dass wir uns das Perspektivwissen der Kinder erschließen. Wir können als Fremde in die
Kinderwelt hinzuziehen. Wir sind die Ausländer in einer neuen Welt, die so anders ist als
unsere eigene Kinderwelt. Für unsere eigene Rolle bedeutet das, das wir Lernende sein
wollen, nicht Deuter, schon gar nicht Besserwisser. Das Perspektivwissen wartet auf unsere
Neugier.
Bernhard Meyer: Perspektivenwechsel und demokratisches Lernen, Aachen 2009, Shaker-Verlag