Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts markierten den Tiefpunkt

Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts markierten den Tiefpunkt
menschlicher Geschichte. Über 60 Millionen Tote in zwei Weltkriegen
und viele weitere Millionen Menschen, die seit 1945 in Hunderten von
Konflikten ihr Leben verloren haben: wir zählen die Opfer, aber die
Summen übersteigen unsere Vorstellungskraft.
Am heutigen Novembertag versammeln sich in vielen Gemeinden, auf
Friedhöfen und an Gedenkstätten Menschen, die der Opfer von Krieg
und Gewaltherrschaft aller Nationen gedenken. Wir erinnern an
barbarisches Unrecht und an die Verletzung aller Regeln der
Zivilisation. Wir erinnern daran im Namen der Humanität, der
Gleichheit und der Würde und im Namen der Menschenrechte, die uns
verpflichten und für deren Geltung wir eintreten.
Dieser Tag führt uns in der Trauer zusammen, verbunden mit dem
Bestreben, die Opfer vor dem Vergessen zu bewahren: denn wenn
niemand mehr an sie denkt, kann ihr Schicksal keinem mehr etwas
sagen. Erinnern erfordert Sichtbarmachen und Erinnern muss
konstruktiv sein, um aus der Vergangenheit Lehren zu ziehen.
Der Volkstrauertag ist ein Tag der Trauer und der Mahnung, aber auch
der Hoffnung auf Versöhnung und Verpflichtung für die Zukunft. An
diesem Tag fragen wir auch: wo stehen wir heute und welche Werte
sind uns wichtig? Welche Antworten haben wir auf Krieg und Terror
und was müssen wir für Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und
Menschlichkeit bei uns und in der Welt tun?
Der Volkstrauertag hat leider keineswegs an Aktualität verloren, denn
der Krieg ist nicht Geschichte, sondern ist auch im 21. Jahrhundert
noch immer Realität. Die Kriege und Konflikte dieser Welt werden uns
täglich mit den Nachrichten ins Haus geliefert, Menschen kämpfen um
ihr Leben oder sind in ihrer Freiheit bedroht, und aus vielen Ländern
sind Flüchtlingsströme unterwegs und machen eines deutlich: es ist
noch lange kein Frieden.
"Frieden und Freiheit, das sind die Grundlagen jeder
menschenwürdigen Existenz." Diese Worte von Konrad Adenauer,
dem ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, klingen
für uns so selbstverständlich, aber angesichts der weltpolitischen Lage
sind Frieden und Freiheit für viele Menschen unerreichbar.
Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges haben die Politiker und die
Menschen in Europa auf Annäherung und Versöhnung gesetzt. Es war
kein leichter Weg, aber er hat sich als gangbar und wirkungsvoll
erwiesen. Er hat zur Verständigung und einer immer größeren
Einigung geführt und dem europäischen Kontinent die längste
Friedensepoche seiner Geschichte gebracht.
Wir leben in Deutschland seit 70 Jahren in Frieden, Freiheit und
Wohlstand, und aus unserer Geschichte wissen wir sehr genau, dass
Freiheit und Demokratie nicht von allein entstehen und nicht von allein
erhalten bleiben.
Auch deshalb hat der Volkstrauertag nach wie vor einen hohen
Stellenwert. Ein Gedenken, um sich der Geschichte zu stellen, daraus
Rückschlüsse zu ziehen und sich kritisch mit Krieg und Gewalt
auseinanderzusetzen. Nur so sind wir dafür sensibilisiert, bedrohliche
Entwicklungen oder Verharmlosung von Gewalt rechtzeitig zu
erkennen, und Frieden und Freiheit hoch zu schätzen. Wir dürfen nicht
vergessen, wohin Arroganz, Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit, Hass
und Gewalt gegenüber Andersdenkenden oder Menschen anderer
Herkunft oder gegenüber Schwachen führen.
Der Volkstrauertag ermahnt uns, uns für Frieden einzusetzen und für
ein harmonisches und tolerantes Miteinander einzutreten. Zugleich
erinnert er aber auch an die Verpflichtung des Staates und aller seiner
Organe, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, und ein
menschenwürdiges und friedliches Leben für alle zu ermöglichen.