Rede OB Kessing zum Volkstrauertag - Bietigheim

Rede von Oberbürgermeister Jürgen Kessing
zum Volkstrauertag am 13. November 2016
Liebe Bürgerinnen und Bürger!
Zu unserer Gedenkstunde am heutigen Volkstrauertag hier auf dem Friedhof St.
Peter/ dem Friedhof in Bissingen heiße ich Sie herzlich willkommen.
Ich möchte dem Stadtorchester Bietigheim, dem Sängerkranz sowie der
Chorvereinigung Bietigheim, dem Böhmerwaldbund Bietigheim-Bissingen, den
Schülerinnen und Schülern der Gymnasien im Ellental / dem Musikverein
Bissingen, dem Kammerchor Bietigheim sowie den Schülerinnen und Schülern
der Realschule Bissingen danken, die dazu beitragen, unserer Gedenkstunde
einen würdigen Rahmen zu verleihen.
Meine
Damen
und Herren,
kann man
Trauern
verordnen?
Ich
kann
nachvollziehen, dass der staatliche Volkstrauertag mit seinem Gebot des stillen
Gedenkens heute bei manchen Bürgerinnen und Bürgern Unbehagen oder
bestenfalls Achselzucken hervorruft. Schließlich sollte es in einer freiheitlichen
Gesellschaft doch dem Einzelnen überlassen bleiben, wann und in welcher Form
er sich mit der Vergangenheit beschäftigt – oder nicht?
Gewiss: Niemand sollte zum Gedenken gezwungen werden. Auf der anderen
Seite halte ich es für einen wichtigen Auftrag des Staates, Bürgerinnen und
Bürger dazu zu ermuntern, sich mit den dunkelsten Kapiteln unserer jüngeren
1/8
Geschichte zu befassen. Und genau in diesem Sinne verstehe ich den
Volkstrauertag: als Einladung zum Nachdenken darüber, was die unzähligen
Kriegstoten und Gewaltopfer, derer wir an diesem Tag gedenken, uns für die
Jetztzeit lehren können.
Ich
bin
überzeugt:
Dieser
Blick
zurück
ist
wichtig,
um
das
Heute
verantwortungsvoll und friedlich miteinander zu gestalten. Der Philosoph Karl
Jaspers hat einmal gesagt: „Die Vergangenheit beleuchtet das Gegenwärtige.“
Das sind weise Worte. Ich verstehe sie so, dass wir das Erbe unserer Geschichte
annehmen und es als Wegweiser in die Zukunft begreifen sollten.
Die beiden Weltkriege und die menschenverachtende Gewaltherrschaft der
Nationalsozialisten liegen inzwischen Jahrzehnte zurück. Aber ihre Schatten sind
lang. Die Spuren, die sie hinterlassen haben, prägen noch heute viele Familien –
auch hier bei uns in Bietigheim-Bissingen. In den Erzählungen von Verlust und
Todesgefahr, von Flucht und Vertreibung sind die Schrecknisse auch nach so
langer Zeit noch präsent, wie ich aus persönlichen Begegnungen weiß.
Und auch in den Menschen selbst wirkt das Erlebte nach. Viele aus der
Generation der damaligen Kriegskinder haben seelische Narben davongetragen,
mit denen sie, bewusst oder unbewusst, bis heute kämpfen. Und Psychologen
wissen, dass sogar etliche Kriegsenkel noch unter den Folgen dieser
unverarbeiteten Traumata ihrer Eltern leiden.
Umso wichtiger ist es, miteinander darüber zu reden, was mörderische Kriege –
nicht nur äußerlich sichtbar – mit den Menschen anrichten. Der heutige
Volkstrauertag ist ein guter Anlass, um diesen Faden aufzunehmen. Um zum
Beispiel die Mutter, den Vater, die Groß- oder Urgroßeltern zu fragen: Wie war
2/8
das damals? Was habt ihr empfunden? Was macht euch heute Angst? Noch gibt
es sie, die Zeitzeugen im Familien- und Freundeskreis, die aus erster Hand vom
Leid des letzten Weltkriegs erzählen können. Nutzen wir also die Gelegenheit,
sprechen wir miteinander über das, was war.
Dazu gehört auch, sich die historischen Zusammenhänge zu vergegenwärtigen.
In diesem Jahr hat sich zum 75. Mal der Überfall Deutschlands auf die
Sowjetunion
gejährt.
Was
als
„Unternehmen
Barbarossa“
in
die
Geschichtsbücher eingegangen ist, war der Beginn eines unvorstellbar
grausamen Vernichtungskrieges. Dieser wahnhafte Feldzug im Osten brachte 27
Millionen Sowjetbürgern den Tod, nicht nur Soldaten, sondern auch zahllosen
Zivilisten.
2016 ist auch das Jahr, in dem die Schlacht um Verdun genau ein Jahrhundert
zurückliegt. Ein Ort, der wie kein anderer für die Gräuel des Ersten Weltkriegs
steht. Hunderttausende deutsche wie französische Soldaten ließen 1916 auf den
blutgetränkten Feldern ihr Leben – in einem monatelangen und letztlich
ergebnislosen Stellungskrieg. Verdun ist damit zum Inbegriff der Sinnlosigkeit
bewaffneter Auseinandersetzungen geworden.
Zugleich ist Verdun heute ein Symbol für die Überwindung von Feindschaft
zwischen den Völkern und der Aussöhnung über den Gräbern. Die Botschaft
lautet: Frieden ist möglich, selbst wenn beide Seiten einander unermessliches
Leid zugefügt haben. Auch Bietigheim-Bissingen verbindet seit fast 50 Jahren
eine enge Freundschaft mit Sucy-en-Brie in Frankreich.
Meine Damen und Herren, auch wenn hier bei uns in Deutschland und in weiten
Teilen Europas gottseidank seit über 70 Jahren Frieden herrscht: Die Welt im
3/8
Jahr 2016 ist alles andere als ein friedlicher Ort. Im Gegenteil: Tod und Terror
sind mehr denn je bittere Realität. Im Nahen Osten, in Afrika und Asien toben
schreckliche Kämpfe, werden Menschenrechte mit Füßen getreten, sterben
Menschen – auch in diesem Moment.
Gewalt und Unterdrückung haben weltweit eine beispiellose Wanderbewegung in
Gang gesetzt. Mehr als 65 Millionen Menschen waren nach Angaben des
Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNHCR im Jahr 2015 auf der Flucht
– so viele wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Jeder 113. Bewohner
dieses Erdballs ist heute ein Vertriebener – eine Zahl, die sicherlich nicht nur
mich betroffen macht.
Flucht und Vertreibung ist in Deutschland und in Bietigheim-Bissingen kein neues
Phänomen. Schon vor 70 Jahren erlebte unser Land, erlebte unsere Stadt eine
gewaltige Zuwanderung. Damals kamen die Heimatvertriebenen aus den
ehemaligen deutschen Ostgebieten nach Deutschland. Millionen Deutsche
mussten nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund von Flucht, Vertreibung,
Zwangsumsiedlung und Deportation ihre Heimat verlassen. Die Integration dieser
Menschen in die neu entstandene Bundesrepublik war ein solidarischer Kraftakt
aller Deutschen damals – auch wenn am Anfang sicher nicht eitel Freude
herrschte über all die neu Zugezogenen. Doch diese setzten sich durch und
nahmen maßgeblich Anteil am Aufbau unseres Landes und auch unserer Stadt
nach dem Krieg. Auch in Bietigheim-Bissingen wurde viel geleistet, von beiden
Seiten! Ein neuer Stadtteil, das Buch, entstand. Hier fanden viele Vertriebenen
eine neue Heimat. Und auch die Kultur wurde gepflegt. Die Heimatgruppen der
Vertriebenenverbände
gründeten
sich.
So
sind
z.B.
die
Vertreter
des
Böhmerwaldbundes heute unter uns und gestalten auch diese Gedenkfeier mit.
4/8
Die Zuckmantler Heimatgruppe wurde als Patenschaft angenommen, die Stadt
hat heute die Verantwortung für ihre Heimatstube übernommen. Die Vertriebenen
sind heute selbstverständlicher Teil unserer Stadtgemeinschaft.
Nun
stehen
wir
wieder
vor
neuen
Herausforderungen.
Die
aktuelle
Flüchtlingskrise hat auch hier bei uns in Bietigheim-Bissingen ein Gesicht – oder
besser
gesagt:
viele,
ganz
unterschiedliche
Gesichter.
Rund
700
Schutzsuchende haben wir in den zurückliegenden Monaten in unserer Stadt
aufgenommen. Menschen, die vor Krieg und gewaltsamen Übergriffen in ihrer
Heimat geflüchtet sind und nun bei uns auf ein Leben in Frieden hoffen.
Erschreckende Bilder aus dem Bürgerkrieg in Syrien, von den Kämpfen im Irak
und seinen Nachbarregionen erleben wir jeden Tag im Fernsehen und im
Internet. Wir fragen uns: Wie sicher ist Deutschland, ist Europa noch? Die
Gewalttaten mit islamistischem Hintergrund, die wir im Juli erleben mussten und
die Anschläge von Paris und Brüssel haben unsere Gesellschaft ins Mark
getroffen. Radikale Islamisten wollen Angst und Schrecken verbreiten, Hass
schüren und uns ihren „Heiligen“ Krieg aufzwingen. Wir erfahren plötzlich
schmerzhaft,
dass
unsere
freiheitlich-abendländische
Wertegemeinschaft
angreifbar und verletzlich ist.
Gleichzeitig steckt Europa in einer tiefen Krise. Großbritannien hat in diesem
Sommer für den Brexit, den Austritt aus der Europäischen Union, votiert.
Euroskeptizismus, Abschottungspolitik und Nationalismus greifen in vielen EUStaaten Raum. Ein Klima, in dem Populisten leichtes Spiel haben. Und in dem –
wie wir aus eigener leidvoller Geschichte wissen – auch rasch Extremismus und
Gewalt gedeihen.
5/8
All diese Entwicklungen zeigen: Frieden in Europa ist im 21. Jahrhundert ein
höchst fragiles Gut. Ihn zu wahren und zu verteidigen, ist eine der größten
Herausforderungen unserer Zeit. Die Gedenkfeier, zu der wir uns heute hier am
Volkstrauertag versammelt haben, soll uns eine eindringliche Mahnung sein:
Lassen wir nicht zu, dass Gewalt oder gar Krieg jemals wieder Mittel der
politischen Auseinandersetzung werden!
Meine Damen und Herren, es macht mich stolz zu sehen, wie unsere Stadt ihren
Teil dazu beiträgt, dass Deutschland ein friedliches, weltoffenes Land bleibt. Ein
Land, in dem Konflikte statt mit Waffen mit Worten und Argumenten ausgetragen
werden. Ein Land, in dem Meinungsfreiheit herrscht und in dem jeder sich nach
seinem Lebensentwurf entfalten kann. Und nicht zuletzt ein Land, in dem die
Würde und Unversehrtheit des einzelnen Menschen das allerhöchste Gut ist.
In Bietigheim-Bissingen setzen sich die Menschen in vielen Bereichen für
Frieden, Toleranz und Völkerverständigung wie auch für ein geeintes Europa ein.
In unseren Schulen, Vereinen und Kirchen engagieren sich Bürgerinnen und
Bürger auf ganz unterschiedliche Weise für diese Ziele.
All diese Engagements sind wichtig, weil sie – und hier komme ich wieder auf
mein Eingangsmotiv zurück –, weil sie die Menschen miteinander ins Gespräch
bringen. Nur im Dialog wird Geschichte lebendig, kann Trennendes überwunden
werden, kann Verständnis für das Gegenüber entstehen. Oder, um noch einmal
den großen Denker Karl Jaspers zu zitieren: „Die Menschheit zu Freiheit zu
bringen, das heißt, sie zum Miteinanderreden zu bringen.“
Ich freue mich, dass dieses „Miteinanderreden“ in Bietigheim-Bissingen
geschieht. Ganz in diesem Sinne möchte ich auch mit Ihnen den heutigen
Volkstrauertag begehen – als einen Tag der Begegnung und des Austausches
6/8
darüber, was die Kriegstoten der Vergangenheit uns für die Gegenwart und
Zukunft mitgeben können. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat es auf der
diesjährigen Gedenkfeier in Verdun so ausgedrückt: „Wir bewahren den Opfern
vor allem dann ein ehrendes Gedenken, wenn wir uns die Lehren, die Europa
aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts gezogen hat, immer wieder bewusst
machen.“
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns nach dem gleich folgenden
Totengedenken eine Weile schweigen angesichts des unsagbaren Leids, das
Gewalt und Kriege über Menschen aller Völker gebracht haben. Aber lassen Sie
uns nicht im Schweigen verharren. Lassen Sie uns vielmehr hartnäckig darin
sein, immer wieder miteinander zu reden. Auch und gerade mit den
Widersachern unserer friedlichen, offenen Gesellschaft – auch und gerade am
Volkstrauertag.
Treten
wir
auch
aktiv
denjenigen
entgegnen,
die
das
Gedankengut und die menschenverachtende Sprache des 3. Reiches hier wieder
salonfähig machen wollen. Das können wir nicht zulassen!
Sehr geehrte Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und
bitte Sie, nun mit mir der Toten zu gedenken:
Totengedenken:
Wir denken heute
an die Opfer von Gewalt und Krieg, Kinder, Frauen und Männer aller Völker.
Wir gedenken
der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, der Menschen, die durch
Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und
Flüchtlinge ihr Leben verloren.
7/8
Wir gedenken derer,
die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer
anderen Rasse zugerechnet wurden oder deren Leben wegen einer Krankheit
oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde.
Wir gedenken derer,
die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft leisteten, und
derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben
festhielten.
Wir trauern
um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von
Terrorismus und politischer Verfolgung, um die Bundeswehrsoldaten und
anderen Einsatzkräfte, die im Auslandseinsatz ihr Leben verloren.
Wir gedenken
auch derer, die bei uns durch Hass und Gewalt gegen Fremde und Schwache
Opfer geworden sind.
Wir trauern
mit den Müttern und mit allen, die Leid tragen, um die Toten. Doch unser Leben
steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern,
und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in
der Welt.
Als Zeichen unseres Gedenkens schmücken wir das Ehrenmal der Gefallenen
unserer Stadt mit Kränzen.
8/8