81 7 Bewegung von Punkten 7.1 Übersicht • Bewegung von Punkten • Differenzierbarkeit. Wo liegt die Ableitung • Taylorreihe, Vektordreieck • Physikalische Bezeichnungen • Abstand zu einer Kurve (Geschwindigkeit) • Bogenlänge einer Kurve (Geschwindigkeit) • Natürliche Param. durch Bogenlänge (Raum = Zeit) • Krümmung (Kraft) • Fläche unter einer Kurve 7.2 →X Differentialgeometrie für Funktionen x : R − Wir untersuchen im weiteren die Änderung des Zustandes eines physikalischen Systems in der Zeit. Hierbei stellen wir uns die Zeit als einen sich kontinuierlichen reellen Parameter vor. Mit der “Zeit an sich” hat das erstmal nichts zu tun. Dieser reelle Parameter könnte auch eine andere sich kontinuierlich ändernde Größe sein, etwa ein Steuerungsparamter. Im Gegensatz zum ersten Semester interessieren uns jetzt nicht die Eigenschaften des eigentlichen Zustandsraumes. Wir nehmen deshalb der Einfachheit hal;ber an, daß X ein reeller Banachraum ist. Es sei I = [a, b] ∈ R ein Zeitintervall. Wir untersuchen die Spur, die I in X hinterläßt. Im Augenblick interessieren uns nicht die Prozesse, die dazu führen, daß so eine Spur entsteht. 7.3 Definitionen Es sei eine Abbildung x : I − → R gegeben. Sie heißt Trajektorie oder Kurve. Wir betrachten nur stetige Kurven. Diese Abbildung heißt differenzierbar im Punkt t, wenn der Grenzwert 1 ẋ(t) = lim (x(t0 ) − x(t)) 0 0 t →t t − t in X existiert. In den Randpunkten betrachten wir einseitige Grenzwerte. Die Ableitung ẋ(t) ist ebenfalls ein Element von X. Analog definieren wir höhere Zeitableitungen. Im weiteren nehmen wir an, daß eine betrachtete Kurve stets ausreichend glatt ist. Wir führen für die Ableitungen folgende Bezeichnungen ein, die sich im weiteren als sinnvoll herausstellen werden. • ẋ Geschwindigkeit oder Geschwindigkeitsvektor (velocity) • v = kẋk Betrag der Geschwindigkeit oder tempo (speed) • ẍ Beschleunigung parametrisierte Kurve z(t) = (x(t), y(t)) = (t, y(t)) interpreEine Funktion y(x) in R kann als p tiert werden. Dann ist v = kżk = 1 + y 0 2 (x). 82 7 BEWEGUNG VON PUNKTEN 7.3.1 Taylorreihe Für genügend glatte Kurven können wir die Taylorreihe 1 x(t0 ) = x(t) + (t0 − t)ẋ(t) + (t0 − t)2 ẍ(t) + ... 2 und Zwischenwertsätze betrachten. Diese schreiben wir in folgender Form: x(t0 ) − x(t) = (t0 − t)ẋ(t̃) (16) 1 x(t0 ) − x(t) = (t0 − t)ẋ(t) + (t0 − t)2 ẍ(t̃) 2 (17) (im quadratischen Fall gilt echte Gleichheit, im allgemeinen Fall gilt Gleichheit für einen Mittelwert). Die letzte Schreibweise ist der in der Taylorreihe vorzuziehen, denn von einem höheren als der Theorie der Banachräume Standpunkt aus sind x(t) und x(t0 ) Elemente eines Punktraumes und x(t0 ) − x(t) ein Element eines Vektorraumes, die man nicht ohne weitere Erklärungen gleichsetzen kann. Gleichung (17) ist dann als Gleichsetzung des Vektors x(t0 ) − x(t) mit der Linearkombination der Vektoren ẋ(t) und ẍ(t̃) mit den reellen Koeffizienten t0 − t und 12 (t0 − t)2 zu verstehen. Also eine Gl;eichung in X. Wenn wir den Betrag so eines Vektors als Länge und t0 − t > 0 als Zeitabschnitt, also als extensive Größen interpretieren, dann folgt aus (17) die Dreiecksungleichung kx(t0 ) − x(t)k ≤ (t0 − t)kẋ(t)k + (t0 − t) t0 − t 2R mit 1/R = kẍ(t)k. Diese (Un)Gleichung bedeutet die Subadditivität von drei extensiven Größen ext ≤ int · ext + ext · ext ext Die Geschwindigkeit ist also intensiv und die Beschleunigung “das Reziproke einer extensiven Größe”. 7.3.2 Abstand zu einer Kurve Der Abstand eines Punktes P zu einer Kurve x(t) ist natürlicherweise die Größe min kx(t) − P k t Ist X ein Hilberraum, dann läßt sich aus diesem Minimumproblem eine Gleichung herleiten. Anstelle des Minimums über kx(t) − P k läßt sich auch das Minimums über 12 kx(t) − P k2 . Nullsetzen der Ableitung ergibt 0= d1 d1 kx(t) − P k2 = hx(t) − P, x(t) − P i = hẋ(t), x(t) − P i dt 2 dt 2 Lösung dieser Gleichung ist ein Parameterwert t0 , für den die beiden Vektoren ẋ(t0 ) und x(t0 )− P senkrecht aufeinander stehen. 83 7.3 Definitionen 7.3.3 Bogenlänge einer Kurve Wir bestimmen die Länge einer Kurve zwischen den Parameter-Punkten a und b indem wir die Kurve durch einen Streckenzug approximieren und die Zahl der Stützstellen gegen ∞ und die Abstände zwischen den Stützstellen gegen 0 gehen lassen. a = t0 < t1 < t2 < ... < tn = b. Die Länge ist dann (der Einfachheit halber im im 2-D) n q X 2 2 x1 (ti ) − x1 (ti−1 ) + x2 (ti ) − x2 (ti−1 ) = sn = i=1 n X s 2 x2 (ti ) − x2 (ti−1 ) + (ti − ti−1 ) − → = ti − ti−1 i=1 Z b Z b Z bq 2 2 ẋ1 (t) + ẋ2 (t) dt = kẋ(t)kdt = − → v(t)dt =: sx [a, b] x1 (ti ) − x1 (ti−1 ) ti − ti−1 2 a a a falls dieser Grenzwert existiert. Kurven, deren Länge sich auf diese Weise bestimmen läßt heißen rektifizierbar. Die Bogenlänge einer Kurve ist also das Integral über den Betrag der Geschwindigkeit. Die Geschwindigkeit hängt natürlich von der Parametrisierung ab, die Bogenlänge der Kurve sollte davon unabhängig sein. Das ist tasächlich der Fall. Z b Z b Z b Z b 0 0 sx◦γ [a, b] = |ẋ ◦ γ(t)|dt = |ẋ(t)γ (t)|dt = |ẋ(t)| · |γ (t)|dt = |ẋ(t)|dγ(t) a a a a 0 falls γ das Vorzeichen nicht ändert, also γ eineindeutig ist. 7.3.4 Beschleunigung bei konstantem Tempo Angenommen, der Betrag der Geschwindigkeit ist konstant, dann gilt (im Hilbertraum) 1d d 1 2 1 d v (t) = kẋ(t)k2 = hẋ(t), ẋ(t)i = hẋ, ẍi = 0 0= dt 2 2 dt 2 dt In diesem Fall steht die Beschleunigung also senkrecht zur Tangente. Sie zeigt in Normalenrichtung. 7.3.5 Natürliche Parametrisierung durch Bogenlänge Die Parametrisierung einer Kurve ist nicht eindeutig. Jede eineindeutige Funktion γ : I − → I˜ ermöglicht die Parametrisierung zu transformieren. Wir betrachten die Bogenlänge als Funktion der oberen Grenze Z t s(t) = v(t0 )dt0 a s : [a, b] − → [s(a), s(b)] ist eine eineindeutige Abbildung der Parametermenge. Die Parametrisierung einer Kurve durch die Bogenlänge wird auch natürliche Parametrisierung genannt und die Bogenlänge natürlicher Parameter. Wenn das Tempo konstant ist, ist der zurückgelegte Weg proportional zur verbrauchten Zeit. Früher hat man deshalb Entfernung oft in Zeiteinheiten angegeben (siehe alte Postmeilensäulen). Dabei wurde die Laufgeschwindigkeit oder die Geschwindigkeit der Postkutsche implizit angenommen. 84 7 BEWEGUNG VON PUNKTEN 7.3.6 Die Krümmung Angenommen wir haben eine Kurve natürlich parametrisiert. Dann gilt für die Bogenlänge (das war der Sinn der Parametrisierung) Z s v(s0 )ds0 = s 0 D.h. das Tempo ist konstant: v(s) = |ẋ(s)| = 1. Damit steht bezüglich des Parameters s die Beschleunigung senkrecht auf der Geschwindigkeit. Der Betrag dieser Beschleunigung ist also (im 2-D) p k(s) = kẍ(s)k = ẍ(s) + ÿ(s) und wird Krümmung genannt. Beispiel: Kreis Es ist x(t) = R cos t ẋ(t) = −R sin t y(t) = R sin t ẏ(t) = R cos t Damit erhalten wir für die Bogenlänge Z t Z t s(t) = v(t)dt = Rdt = Rt, t = s/R 0 0 Die natürliche Parametrisierung ist also x(s) = R cos s/R ẋ(s) = − sin s/R ẍ(s) = 1/R cos s/R y(s) = R sin s/R ẏ(s) = cos s/R ÿ(s) = 1/R sin s/R Damit erhält man für die Krümmung p k(s) = |ẍ(s)| = ẍ(s) + ÿ(s) = 1/R Bei einem Kreis mit dem Radius R ist die Krümmung gerade konstant 1/R. Im allgemeinen ist 1/k(s0 ) gerade der Radius des Kreises, der am besten im Punkt x(s0 ) in die Kurve paßt. Wenn wir uns eine Kurve im ganz kleinen ansehen, sieht sie aus wie ein Punkt. Etwas weiter entfernt sieht sie aus wie eine Gerade. Wenn wir den Abstand noch weiter vergrößern, sieht sie aus wie der Teil eines Kreises. Das sind die Approximationen nullter, erster und zweiter Ordnung. Die “Gleichung”: Beschleunigung = Krümmung ergibt zusammen mit der Newtonschen Gleichung: Kraft = Beschleunigung (Masse sei 1) eine Identifizierung einer analytischen (Beschleunigung ẍ), geometrischen (Krümmung) und physikalischen (Kraft) Größe. Krümmung ist die Abweichung von der geraden Linie. ẍ(s) = 0 ⇐⇒ x(s) ist ein Geradenstück. Die Formel für die Krümmung einer Funktion y = y(x) ist 2 − 23 k(x) = |y 00 (x)| 1 + y 0 (x) 85 7.3 Definitionen 7.3.7 Die Fläche, die eine Kurve umschließt (in 2-D) Wir betrachten o.B.d.A. die Fläche die eine Kurve umschließt und in der der Nullpunkt liegt. Genau wie bei der Berechnung der Bogenlänge, ermitteln wir die Fläche als Grenzwert einer Approximation der Kurve durch einen Streckenzug. Es sei a = t0 < t1 < t2 < ... < tn = b. Die Fläche ist dann die Fläche eines n-Ecks, also n Fn = 1 X x(ti−1 )y(ti ) − x(ti )y(ti−1 ) = 2 i=1 n = 1 X x(ti−1 )y(ti) − x(ti )y(ti−1) (ti − ti−1 ) = 2 i=1 ti − ti−1 n 1 X x(ti−1 )y(ti) − x(ti−1 )y(ti−1) + x(ti−1 )y(ti−1 )x(ti )y(ti−1) = (ti − ti−1 ) = 2 i=1 ti − ti−1 n y(ti) − y(ti−1 ) x(ti ) − x(ti−1 ) 1X x(ti−1 ) (ti − ti−1 ) − → − y(ti−1 ) = 2 i=1 ti − ti−1 ti − ti−1 Z Z 1 b 1 b x(t)ẏ(t) − ẋ(t)y(t) dt = hx(t), ẋ⊥ (t)idt =: Fx [a, b] − → 2 a 2 a Die Formel für das n-Eck war nur richtig, wenn die Summe zyklisch zu verstehen war. Das gilt auch für das Integral. Die Formel stimmt nur, wenn x(a) = x(b) gilt. Nur dann ist die Kurve geschlossen und man kann von Flächeninhalt sprechen. Der Flächinhalt hängt nicht von der Parametrisierung ab. Das entspricht der Formel für die Fläche eines Dreiecks, gebildet aus den beiden Vektoren a und b. 2S = ha, b⊥ i = hb, a⊥ i = ha, (b − a)⊥ i Der Flächeninhalt einer Figur ist stets das Produkt des Randes mit einer senkrecht dazu stehenden Größe, wenn man ausreichend frei diese Begriffe definiert. So bedeutet die bekannte Formel für den Flächeninhalt eine Dreiecks 2S = (a + b + c)r, daß 2S das Produkt aus dem Rand (der Umfang a + b + c) und dem “senkrecht darauf stehenden” Inkreisradius r ist. 7.3.8 Zusammenhänge Math. Symbol x(t) ẋ(t) |ẋ(t)| ẍ(t) |ẍ(t)| äußere Welt Physik Trajektorie Geschwindigkeit (Richtung) Geschwindigkeit (Betrag) Beschleunigung (Richtung) Beschleunigung (Betrag) innere Welt (rechte GH) innere Welt (linke GH) Geometrie Analysis/Algebra (Bahn-)Kurve Funktion f : R − → Rn Tangente 1. Ableitung ??? Betrag der 1. Ableitung Normale 2. Ableitung Krümmung Betrag der 2. Ableitung
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