Begleiter am Ende des Lebens - Palliativnetz

Begleiter am Ende des Lebens
Wie gehen Kliniken und Heime mit dem Thema Sterbehilfe um?
Was ist erlaubt, was verboten? Ein Arzt und ein Anwalt geben Antwort
Von Anika Geisler
Sterbehilfe als alltägliche Arbeit
„Wir lassen Sie nicht im Stich“, sagt Thöns
zu ihnen. Mit Medikamenten nimmt er in
der letzten Lebensphase die Schmerzen,
die Luftnot, die Angst. Er lässt das Sterben zu, erleichtert es den Menschen, aus
dieser Welt zu gehen. Indem er etwa auf
Behandlungen verzichtet, wenn es keine
Indikation mehr dafür gibt, kein Therapieziel oder aber der Patient die Behandlung
ablehnt. Ein Teil von Thöns’ alltäglicher
Arbeit ist passive Sterbehilfe.
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3.6.2015
In der nächsten Zeit wird der Bundes- durch Gespräche mit den Angehörigen
tag wieder über das Thema Sterbehilfe de- ermittelt. „Wird der Patient entgegen
battieren. Es wird um Schlagworte wie einem solchen Wunsch weiter mit techni„assistierten Suizid“ und „kommerzielle schen Geräten am Leben erhalten, ist das
Sterbehilfevereine“ gehen. Bundesge- Körperverletzung“, sagt Putz.
sundheitsminister Hermann Gröhe, CDU,
Die Realität in Deutschlands Krankensetzt sich für eine strengere Gesetzge- häusern zeigt, wie unzureichend Medizibung beim assistierten Suizid ein. Sein ner und Pflegekräfte das verinnerlicht
Parteifreund Peter Hintze dagegen will haben. In einer Befragung von neurologierreichen, dass dieses Vorgehen „ohne schen Chefärzten hatten 60 Prozent Angst
jeden Zweifel straffrei“ bleibt.
vor rechtlichen Folgen bei passiver
Noch immer verwechseln oder
Sterbehilfe. Und fast die Hälfte
vermischen viele die Begriffe
schätzte die Gabe des Schmerzmittels Morphium bei Atembeim Thema Sterbehilfe –
not fälschlicherweise als
das passiert Kranken und
„aktive Sterbehilfe“ ein.
Angehörigen genauso wie
In Pflegeheimen sieht
Ärzten und Pflegekräften.
Dabei ist die Unterscheidung
die Sache nicht besser aus:
eigentlich eindeutig geregelt.
Bis zu zwölf Prozent der alten
Aktive Sterbehilfe ist in DeutschMenschen werden per Magenland – wie in den meisten Ländern
sonde ernährt – aber bei nur
Matthias Thöns
der Welt – verboten. In den Bene- ist Notarzt und einem Prozent der Betroffenen
luxländern hingegen ist sie erlaubt. Palliativmedi­ wurde der Schlauch, über den
Die Bezeichnung bedeutet: Der ziner: Er rettet Flüssigkeit und Spezialnahrung
Arzt verabreicht dem Patienten auf Leben und lässt verabreicht werden, auf Wunsch
dessen Wunsch einen tödlichen das Sterben zu des Patienten gelegt. Zudem ist
Medikamentencocktail.
die Zahl der Beatmungspatienten
Passive Sterbehilfe, das „Sterbenlassen“, deutschlandweit zwischen 2002 und 2012
ist in Deutschland hingegen legal. „Seit um 35 Prozent gestiegen. „Speziell die Zahl
vielen Jahren ist passive Sterbehilfe recht- der lukrativen Heimbeatmungsplätze
lich einwandfrei definiert und erlaubt“, für Wachkomapatienten hat dramatisch
erläutert Wolfgang Putz, der bekannteste zugenommen“, sagt Thöns.
Fachanwalt, der sich auf Patientenrechte
Patientenanwalt Putz sieht die Ärzte
am Ende des Lebens spezialisiert hat. und das Pflegepersonal in der Pflicht,
Seine Münchner Kanzlei hat mehr als 300 sich besser mit den rechtlichen RahmenFälle betreut. „Passive Sterbehilfe heißt, bedingungen der Sterbehilfe auseinanderdass der Arzt bestimmte therapeutische zusetzen: „Gedankenlose Heimleiter oder
Maßnahmen beendet oder gar nicht erst Hausärzte lassen Patienten jahrelang
beginnt, wenn dies der Wille des Patienten künstlich am Leben erhalten, gegen deren
ist oder es kein Therapieziel gibt“, erklärt Willen und gegen jegliche medizinische
Putz. „Im medizinischen Alltag bedeutet Indikation.“ Wenn er sich einschaltet,
das: die künstliche Beatmung, die künst- bekommt er schon mal von Heimleitern
liche Ernährung über eine Magensonde zu hören: „Die künstliche Ernährung einoder die Dialyse einzustellen. Oder bei- stellen? Das ist ja Mord.“
spielsweise bei einer Lungenentzündung
Dabei sei das geplante Reduzieren der
kein Antibiotikum zu geben.“ Die Voraus- Flüssigkeitsversorgung kein „am lebendisetzung dafür: Der Wille des Patienten ist gen Leib Verhungern und Verdursten“ und
bekannt; oder eine Patientenverfügung keineswegs eine unbedingte Qual, wie es
liegt vor; oder der mutmaßliche Wille wird den Angehörigen oft drohend beschrieben
wird, sagt Thöns. Auch viele alte Menschen,
die zu Hause leben, trinken und essen
weniger, je näher der Tod rückt.
Anwalt Putz muss oft veranlassen, dass
seine Mandanten verlegt werden. In eine
andere Klinik oder in ein anderes Heim, wo
Ärzte dem Wunsch des Betroffenen, nicht
künstlich am Leben erhalten zu werden,
nachkommen. „Meistens wird die Zufuhr
über die Ernährungssonde eingestellt“,
sagt Putz. „Das Beatmungsgerät abzuschalten ist ein genauso legitimer Weg –
aber oft ist da die Hemmschwelle höher.“
Der verstorbenen Ehefrau folgen
Fotos: Juliane werner; selina Pfrüner
E
s geht oft um Leben und Tod,
wenn Rettungsmediziner
Matthias Thöns in Witten im
Ruhrgebiet zur Arbeit fährt. Im
Notarztwagen. Mit Blaulicht.
Sein Auftrag lautet: Leben
erhalten. Jenseits aller medizinischen Handwerkskunst
eine unter Umständen übermenschliche Herausforderung.
Denn oft geht es um mehr als um stabile
Atmung und Blutdruck. Manchmal steht
der Arzt unvermittelt vor einem ethischen
Dilemma: Muss er Leben retten um jeden
Preis? Ein menschenwürdiges Leben – was
ist das überhaupt? „Nicht selten“, sagt
der 48-Jährige, „schaffe ich es noch, einen
Menschen zu reanimieren. Aber was,
wenn dieser Mensch im Krankenhaus ins
Wachkoma fällt? Dann muss ich mich
fragen: Was wollte der Patient? Jahrelang
künstlich am Leben erhalten werden?
Oder dass er in so einem Fall sterben darf?“
Thöns denkt so, weil er nicht nur Notarzt und Anästhesist ist, sondern auch
Spezialist in einem weiteren Fachgebiet –
einem, das andere Fragen stellt, als sie in
der Hightech-Versorgung üblich sind. Seit
14 Jahren arbeitet er als Palliativmediziner.
Und hier lautet sein Auftrag: das Lebensende begleiten. Mit seinem Team besucht
er jährlich etwa 400 Schwerkranke zu
Hause oder in Pflegeheimen – Menschen,
die an Krebs leiden, an Demenz, an fortgeschrittenen Herz- oder Lungenerkrankungen oder die im Wachkoma liegen.
Zwei seiner Mandanten forderten unlängst
vehement, die Apparate abzuschalten: Ein
geistig vollkommen klarer Mann, der an der
unheilbaren Nervenkrankheit ALS leidet,
will, dass die künstliche Beatmung eingestellt wird. Die Ärzte der bayerischen Klinik, in der er derzeit noch liegt, entgegneten der Tochter: „Das ist aktive Sterbehilfe,
so was machen wir nicht, wir haben noch
anständige Moralvorstellungen.“
Der andere Mandant war ein 90-Jähriger,
dessen Frau vor einigen Monaten verstarb
und der nach einem Unfall vom Kopf abwärts querschnittsgelähmt war. Er wurde
beatmet, künstlich ernährt und sagte: „Ich
möchte zu meiner Frau, ich will nicht mehr
am Leben erhalten werden.“ Die renommierte Klinik reagierte darauf: gar nicht.
Erst nach einer Verlegung in den Nachbarlandkreis durfte der alte Mann sterben.
Wachkomapatienten können ihren
Willen nicht mehr aktiv äußern – trotz geöffneter Augen sind sie nicht bei Bewusstsein. Schmerz- und Stressreize verarbeitet
der Körper aber durchaus. Spastiken,
Gelenkfehlstellungen und Infektionen
gehören zu den Komplikationen dieses
Krankheitsbilds. In Deutschland gibt es
derzeit etwa 14 000 Fälle. Zwar hoffen manche Angehörige auch nach Jahren noch
auf ein Wiedererwachen. Aber: „Weltweit
sind in den vergangenen Jahrzehnten in
solchen Fällen nur etwa 50 sogenannte
Wunder dokumentiert worden“, sagt
Maulkorb verpasst bekomThöns. Die Wiedererwachmen.“ Der Bundesärzteten waren körperlich und
kammer-Vorsitzende Frank
geistig schwerstbehindert,
Ulrich Montgomery postulierte
schon ein gezielter Wimpernvergangenes Jahr: „Lassen Sie das
schlag wurde als Wunder gewertet. Rein statistisch ergebe sich Wolfgang Putz doch den Klempner … oder den
ist Anwalt
daraus eine Wahrscheinlichkeit
Tierarzt machen, aber nicht den
und Experte
auf ein Wiedererwachen in einem
Arzt.“ Bei einer Umfrage der Bunfür Patienten­
von 50 000 Fällen, so Thöns. Er
desärztekammer allerdings kam
rechte am
Lebensende
fragt: „Welches Therapieziel kann
heraus: 37 Prozent der Mediziner
darin bestehen, einen mit Leisind bereit, Suizidhilfe zu leisten.
Der Inhaber des Lehrstuhls für Palliaden verbundenen Zustand über Jahre aufrechtzuerhalten – bei mangelnder oder tivmedizin an der Universität Lausanne,
fehlender Aussicht auf Besserung?“
Gian Domenico Borasio, vergleicht in
Im Bundestag wird bald auch über den seinem Buch „Selbstbestimmt sterben“*
assistierten Suizid gestritten: Der Arzt ver- Länder mit unterschiedlicher Gesetzgeschreibt einen tödlichen Medikamenten- bung. Sein Ergebnis: In den Niederlanden
cocktail, der Patient nimmt ihn selbst ein. und Belgien sind die Fallzahlen von „TöEine eigene Kategorie, die rechtlich weder tung auf Verlangen“ durch den Arzt – also
der aktiven noch der passiven Sterbehilfe aktive Sterbehilfe – in den vergangenen
zugerechnet wird. Da Suizid in Deutsch- Jahren deutlich gestiegen. Kaum zugeland nicht strafbewehrt ist, kann der Me- nommen dagegen haben die Fallzahlen in
diziner nicht verurteilt werden. Allerdings Ländern, wo Ärzte beim Suizid assistieren
kann er standesrechtlich Probleme be- dürfen – wie beispielsweise im USkommen und muss in manchen Gegenden Bundesstaat Oregon.
um seine Berufserlaubnis fürchten.
Matthias Thöns fährt weiterhin im Not2011 verschärfte die Bundesärztekam- arztwagen durchs Ruhrgebiet. Rettet Menmer die Berufsordnung mit dem Satz: schen. Und hilft ihnen als Palliativarzt, wenn
„Ärzte dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung keine Rettung mehr möglich ist. „Ich bin
leisten.“ 10 von 17 Landesärztekammern kein Sterbehelfer“, sagt er, „ich bin Lebensübernahmen das Verbot, andere dagegen begleiter, wenn auch auf dem letzten Lehaben es explizit nicht umgesetzt. Das bensweg. Meine Sterbenden sind Lebende.“
In seine Patientenverfügung hat er geführe zu der seltsamen Situation, erzählt
Thöns, dass in Essen, das zur Landesärzte- schrieben: „Ich möchte mit allem, was die
kammer Nordrhein gehört, das Vorgehen Medizin hergibt, gerettet werden … Aber
verboten ist; wenige Kilometer entfernt, wenn ich ein Jahr im tiefsten Wachkoma
in Bochum, Landesärztekammer West- liege, von einer schweren Hirnabbau­
falen, ist es aber erlaubt. „Solche Fälle von erkrankung (Demenz) heimgesucht werärztlicher Assistenz sind selten“, sagt de oder ein schweres anderes Leiden habe
Thöns. „Etwa einmal im Jahr bittet mich (zum Beispiel weit fortgeschrittenen
ein Patient in der Endphase seines Lebens, Krebs), möchte ich, dass man mich unter
ihm etwas Tödliches zu verschreiben, weil guter Symptomkontrolle sterben lässt;
er es nicht mehr aushalte.“ Er sei dem jede Lebenserhaltung – Ernährung, InfuWunsch auch schon nachgekommen – sion, Operation etc. – lehne ich dann
Angst habe er nicht, seine Landesärzte- ab. Ich möchte zu Hause sterben, umsorgt
kammer sei liberal.
von meiner Familie und einem engagierAber: „Über assistierten Suizid sprechen ten Palliativteam.“
wir Ärzte meist nur unter vier Augen“,
sagt Thöns, „ansonsten haben wir da einen *C. H. Beck Verlag, 206 Seiten, 17,95 Euro
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