Prof. Dr. Andreas Donatsch Master-Modul Strafprozessrecht FS 2013 Musterlösung 1. AUFGABE 1. Frage: Gemäss Art. 159 Abs. 1 StPO hat die beschuldigte Person das Recht, dass ihr Verteidiger bei der polizeilichen Einvernahme anwesend sein kann. Macht die beschuldigte Person von ihrem Recht auf Anwesenheit des Verteidigers Gebrauch, muss dieser aufgeboten werden. Die Geltendmachung des Rechts auf Verteidigung räumt der beschuldigten Person aber keinen Anspruch auf Verschiebung der Einvernahme ein (Art. 159 Abs. 3 StPO). Eine wortgetreue Handhabung von Abs. 3 würde allerdings dazu führen, dass das Recht aus Abs. 1 vollkommen ausgehöhlt würde. Folglich muss für den Normalfall gelten, dass die Einvernahme zu unterbrechen ist, wenn der Beschuldigte die Anwesenheit des Verteidigers wünscht, bis dieser eintrifft (eine oder mehrere Stunden bis maximal einen halben Tag). Kann der Wahlverteidiger innert einer angemessenen Frist nicht selbst oder substituiert erscheinen, so besteht immer noch die Möglichkeit, über den Pikettdienst innert vernünftiger Frist eine Verteidigung zu organisieren. 2.5 Punkte 0.5 Zusatzpunkt Nach Art. 141 Abs. 2 StPO führt die Missachtung des Anspruchs der beschuldigten Person auf einen Anwalt der ersten Stunde (Gültigkeitsvorschrift) zu einem relativen Verwertungsverbot, was jedoch einen Widerspruch zu Art. 158 Abs. 2 StPO darstellt. Denn gemäss Art. 158 Abs. 2 StPO führt bereits die Unterlassung der Belehrung zur ausnahmslosen Unverwertbarkeit der Einvernahme, was entsprechend auch bei gänzlicher Verweigerung der Verteidigung gelten muss. Somit muss von einer vollständigen Unverwertbarkeit der Einvernahme des Alfons ausgegangen werden. 2.5 Punkte 2. Frage: Nach Art. 132 Abs. 1 StPO ordnet die Verfahrensleitung - analog zu Art. 131 StPO - eine amtliche Verteidigung an, wenn deren Voraussetzungen gegeben sind. Die notwendige Verteidigung wird gemäss Wortlaut von Art. 131 Abs. 2 StPO aber erst nach der ersten Einvernahme durch die Staatsanwaltschaft angeordnet, was somit gleichermassen für die amtliche Verteidigung gelten muss. Das führt dazu, dass zum Zeitpunkt der ersten Einvernahme bei der Polizei noch kein Anspruch der beschuldigten Person auf Anordnung einer amtlichen Verteidigung besteht. Dies würde bedeuten, dass auch die ohne Rechtsbeistand erfolgte Einvernahme verwertbar wäre. Eine solche Handhabung würde aber dazu führen, dass beschuldigte Personen, die sich einen Wahlverteidiger leisten können, von Beginn weg «verteidigt» wären, während mittellose beschuldigte Personen erst bei der ersten Einvernahme durch den Staatsanwalt einen Verteidiger erhalten würden, was unter dem Aspekt der Rechtsgleichheit als problematisch zu erachten wäre. Daher ist auch bei der amtlichen Verteidigung von einer Unverwertbarkeit der Einvernahme auszugehen. 2.5 Punkte 1 Prof. Dr. Andreas Donatsch 3. Frage: Im Strafverfahren wird zwischen Wahlverteidigung (Art. 129 StPO) und amtlicher Verteidigung (Art. 132 StPO) unterschieden. Die amtliche Verteidigung muss bei notwendiger Verteidigung - sofern keine Wahlverteidigung bestimmt wurde - oder bei Mittellosigkeit bestellt werden (Art. 132 Abs. 1 lit. a und Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO). 1.5 Punkte Fälle notwendiger Verteidigung werden in Art. 130 lit a – e StPO geregelt. Ein Fall notwendiger Verteidigung liegt beispielsweise vor, wenn die Untersuchungshaft mehr als 10 Tage gedauert hat, wenn eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr oder eine freiheitsentziehende Massnahme droht oder wenn die beschuldigte Person wegen ihres körperlichen oder geistigen Zustands oder aus anderen Gründen ihre Verfahrensinteressen nicht ausreichend wahren kann. 1.75 Punkte Im vorliegenden Fall hat Alfons einem ihm unbekannten Mann eine Ohrfeige verpasst, was eine Tätlichkeit nach Art. 126 StGB darstellt und mit Busse bestraft wird; es ist keine der in Art. 130 lit. a – e StPO genannten Voraussetzungen gegeben. Somit liegt kein Fall notwendiger Verteidigung vor und es ist diesbezüglich keine Bestellung eines amtlichen Verteidigers erforderlich. Bei Mittellosigkeit muss zur Wahrung der Interessen der beschuldigten Person ebenfalls eine amtliche Verteidigung angeordnet werden, wenn es sich nicht um einen Bagatellfall handelt und der Straffall in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht besondere Schwierigkeiten bietet (Art. 132 Abs. 2 StPO). Ob Mittellosigkeit im vorliegenden Fall gegeben ist, kann dahingestellt bleiben; es handelt sich um einen Bagatellfall (Art. 132 Abs. 3 StPO), weshalb die amtliche Verteidigung selbst bei Mittellosigkeit nicht geboten ist (Art. 132 Abs. 2 StPO). 4. 1.75 Punkte Frage: Das rechtliche Gehör verschafft den Parteien das Recht, Beweisanträge zu stellen (Art. 107 Abs. 1 lit. e StPO). 1.0 Punkt 0.5 Zusatzpunkt Zeuge ist, wer – weder als beschuldigte Person bzw. mitbeschuldigte Person noch als Auskunftsperson oder Sachverständiger – zu Tatsachen aussagen soll, die er selbst wahrgenommen hat (Art. 162 StPO). Ob der Zeuge die Tatsache zufällig oder in Ausübung seines Berufes wahrgenommen hat, ist nicht von Belang. Clemens hat die Aussagen des Alfons wahrgenommen und ist weder beschuldigte bzw. mitbeschuldigte Person noch Auskunftsperson oder Sachverständiger, weshalb er als Zeuge einvernommen werden könnte. Allerdings wurden die Aussagen von Alfons allesamt protokolliert, weshalb darüber grundsätzlich kein Zeugenbeweis mehr geführt werden kann. Eine Möglichkeit wäre jedoch, das Protokoll berichtigen zu lassen. 0.5 Punkt 0.5 Zusatzpunkt Gemäss Art. 141 Abs. 4 StPO ist es aber nicht gestattet, einen Beweis zu verwerten, der 1.0 Punkt 2 Prof. Dr. Andreas Donatsch durch einen unverwertbaren Beweis erlangt werden konnte. In casu hat eine unverwertbare Einvernahme zu einem weiteren Personenbeweis, nämlich einem Zeugen (Clemens) geführt. Dieser Beweis ist somit ebenfalls unverwertbar, da ohne die unverwertbare Einvernahme auch die beantragte Zeugenaussage des Clemens nicht möglich gewesen wäre. Der Antrag ist folglich abzulehnen. 2. AUFGABE 1. Frage: Anhand des geschilderten Sachverhalts stellt sich die Frage, ob die angeführten Schilderungen den Tatvorwurf ausreichend umschreiben respektive die Anklageschrift ihrer Informations- und Umgrenzungsfunktion gerecht wird, wie dies aus dem Anklagegrundsatz folgt. 2.0 Punkte Der Anklagegrundsatz besagt, dass die Anklage von einem vom Richter unabhängigen Ankläger unterbreitet wird (Trennung der Ankläger- und Richterrolle), das Prozessthema durch die Anklage fixiert wird (Umgrenzungsfunktion) respektive grundsätzlich nicht mehr abgeändert werden darf (Unveränderlichkeit der Anklage), die beschuldigte Person über die erhobenen Vorwürfe in Kenntnis gesetzt wird (Orientierungsfunktion) und die erhobene Anklage (nach Behandlung der Vorfragen) nicht zurückgezogen werden kann (Unwiderruflichkeit der Anklage). 2. Frage: Ein Urteil kann nicht ergehen, wenn die Anklageschrift nicht ordnungsgemäss erstellt wurde respektive nicht den Anforderungen von Art. 325 f. StPO entspricht. Hier ist zu prüfen, ob in den gemäss Sachverhalt erwähnten Punkten die Anklageschrift die der beschuldigten Person vorgeworfenen Taten (Tatbeschreibung, Ort, Datum, Zeit, Art und Folgen) ausreichend beschreibt. 1.0 Punkt Das Tatbestandsmerkmal «Arglist»: Gesetzliche Tatbestandsmerkmale sind in der Anklageschrift durch Tatsachenbehauptungen zu unterlegen. Vorliegend ist das Tatbestandmerkmal der Arglist durch solche Tatsachenbehauptungen darzulegen. Die im Sachverhalt dargestellte Schilderung reicht hierzu nicht aus, da lediglich das Vorliegen des Tatbestandsmerkmals behauptet wird, dies aber nicht durch die Darstellung eines konkreten Sachverhalts belegt wird. Der Verweis auf die Akten reicht nicht aus, da sich der Tatvorwurf aus der Anklageschrift selbst ergeben muss. 2.5 Punkte Verwechslungen und falsche Zeitangaben: Aus der Anklage muss ersichtlich sein, welches Verhalten der beschuldigten Person vorgeworfen wird, wobei Ungenauigkeiten nicht zur Unbeachtlichkeit der Anklage führen, sofern die beschuldigte Person aus der Anklageschrift ersehen kann, was Gegenstand der Anklage ist. 1.5 Punkte 3 Prof. Dr. Andreas Donatsch Vorliegend sind die Angaben in der Anklage nicht ungenau, sondern falsch und entsprechen nicht den Anforderungen an eine ordnungsgemässe Anklage. Die falschen Angaben schränken die Verteidigung von Karl insofern ein, als dieser aus der Anklageschrift nicht ersehen kann, gegen welche Vorwürfe er sich zu verteidigen hat, beziehungsweise eine wirksame Verteidigung sich auf einen Sachverhalt beziehen müsste, welcher aus der Anklageschrift nicht hervorgeht. Einem auf diese Anklageschrift gestützten Urteil läge ein von der Anklage abweichender Sachverhalt zugrunde. Das Gericht müsste den Sachverhalt anhand der Akten selbst erstellen respektive vom in der Anklageschrift umschriebenen Sachverhalt abweichen, was hinsichtlich der Immutabilität der Anklage den Anklagegrundsatz verletzen würde. 3. Frage: Eine rechtskräftige Verurteilung oder ein rechtskräftiger Freispruch in der Schweiz ist ein Verfahrenshindernis im Sinne des in Art. 11 Abs. 1 StPO aufgenommenen «Ne bis in idem»-Grundsatzes, welcher einer erneuten Verurteilung derselben Person wegen der gleichen Straftat und bereits der Eröffnung einer Voruntersuchung entgegensteht. In casu besteht demnach eine Sperrwirkung aufgrund des Freispruches von Karl betreffend die gleiche Straftat. 2.5 Punkte Diese Sperrwirkung verhindert gemäss Art 11 Abs. 2 StPO allerdings nicht die Revision gegen das vorliegende Urteil oder die Wiederaufnahme bei eingestellten Verfahren. Die Revision setzt ein rechtskräftiges Urteil respektive einen Strafbefehl, einen nachträglichen richterlichen Entscheid oder einen Entscheid im selbstständigen Massnahmenverfahren voraus. Wer die Revision eines Entscheides verlangt, muss durch diesen beschwert sein. Zudem wird das Vorliegen eines besonderen Revisionsgrundes im Sinne von Art. 410 StPO vorausgesetzt. 2.5 Punkte Der Revisionsgrund gemäss Art. 410 Abs. 1 lit. a StPO sieht die Möglichkeit der Revision vor, wenn vor dem Entscheid eingetretene Tatsachen oder neue Beweismittel, welche sich auf Umstände vor dem Entscheid beziehen, bekannt werden. Zudem müssen die neuen Erkenntnisse geeignet sein, einen Freispruch, eine wesentlich mildere oder wesentlich strengere Bestrafung der verurteilten Person oder eine Verurteilung der freigesprochenen Person herbeizuführen. In casu liegt ein rechtskräftiges Urteil vor, durch welches die Staatsanwaltschaft im Sinne von Art. 381 Abs. 1 StPO und/oder die allenfalls konstituierte Privatklägerschaft im Sinne von Art. 382 Abs. 1 und 2 StPO beschwert sind. Der Revisionsgrund von Art. 410 Abs. 1 lit. a StPO liegt vor, da Beweismittel entdeckt wurden, welche dem Gericht ursprünglich nicht vorlagen, weil sich diese auf vorbestehende Tatsachen beziehen sowie weil sie gemäss Sachverhalt geeignet sind, eine Verurteilung herbeizuführen. Die Verurteilung wegen desselben Delikts ist folglich möglich, sofern ein schriftliches und begründetes Revisionsgesuch mit Angabe und Belegung des Revisionsgrundes beim Berufungsgericht eingeht und dieses die Zulässigkeit des Gesuchs und insbesondere den Revisionsgrund als gegeben erachtet. 1.0 Punkt 4 Prof. Dr. Andreas Donatsch 4. Frage: Das Verbot doppelter Strafverfolgung im Sinne von Art. 11 Abs. 1 StPO bezieht sich nur auf in der Schweiz ergangene Verurteilungen beziehungsweise Freisprüche. Auch Art. 4 Ziff. 1 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK sowie Art. 14 Ziff. 7 IPBPR gewährleisten keine internationale Geltung des «Ne bis in idem»-Grundsatzes. Vorbehalten bleiben staatsvertragliche Pflichten, den Grundsatz des Verbots doppelter Strafverfolgung hinsichtlich der Urteile des anderen Staates zu beachten (z.B. Art. 54 SDÜ für den Schengen-Raum, sofern die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaates nicht mehr vollstreckt werden kann). Bei der Beurteilung der Taten in der Schweiz sind allerdings die Einschränkungen der Art. 3 - 7 StGB zu beachten (i.c. kommen etwa Art. 3 Abs. 3 lit. a oder Art. 7 Abs. 3 und 4 lit. a StGB in Frage). 2.0 Punkte Hinsichtlich der Beantwortung von Frage 3 führt dies dazu, dass keine Sperrwirkung im Sinne von Art. 11 Abs. 1 StPO vorliegt, welche die Durchführung eines erneuten Strafverfahrens respektive einer gerichtlichen Beurteilung des Tatvorwurfs verhindert. 5
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