Mari Bisninian, Überlebende des Genozids
Die Vertreibung und der Genozid an den Armeniern
im Osmanischen Reich/Türkei zwischen 1894 und 1915
Univ.Doz.Dr. Dr.h.c. Jasmine Dum-Tragut Bakk.rer.nat
Fachbereich Linguistik, Universität Salzburg
Abteilung für Armenologie
ZECO Zentrum zur Erforschung des Christlichen Osten, Salzburg
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Armenier im Osmanischen Reich
Das Millet-System
Das Osmanische Reich unter Abdul Hamid II
Die Hamid‘schen Massaker 1894-1896
Die Jungtürken und ihre Ideologien
Die Säuberung der Türkei von Christen
Der Völkermord an den Armeniern 1915
Plakat in Abovyan-Straße in Jerevan 2005,
anlässlich 90-Jahre-Gedenken.
Es zeigt die Fotos von 90 Überlebenden
des Völkermordes in der Türkei 1915.
„Diese Augen haben den Völkermord gesehen.“
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Vor osmanischer Eroberung 1453 von Byzanz schon armenische Kolonie
1461 Arm. Patriarchat von Konstantinopel
Zweitgrößtes Millet, oberste Autorität Patriarch von Konstantinopel
Ab 1783 waren dem armenischen Millet auch syrische Christen zugeordnet. (Syrisches
Millets erst im 19. Jh.)
Ende 18. Jh. 150.00 Armenier, 1850 225.000, 1880 250.-300.000 Armenier in Konstantinopel.
Armenier vielfach gebildete Schicht, Händler, Lehrer, Intellektuelle v.a. in Konstantinopel,
Smyrna und Sivas. „amira“ und „chelepi“: angesehene osmanische Bürger, Bourgeoisie
In Provinzen 40 Städte mit armenischer Bevölkerungsmehrheit. Osmanischer Zensus 1844:
2,4 Mio Armenier.
Arm. Studenten des Harbiye-Militärakademie
von Konstantinopel, 1914
Arm. Patriarch von Konstantinopel
Maghak‘ia Omanean, 1896-1908
Kars mit arm. Kirchen, Jahrhundertwende
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Millet „Religionsgemeinschaft, < arab. Milla.
16.-20. Jh., regelte den Status von Nichtmuslimen und Autonomie von
nicht-muslim. Gemeinschaften.
„Dhimmi“ = Schutzbefohlen, Kopfsteuer, Verbot von Waffen; Befreiung
vom Militärdienst.
Reformierung ab 1839
Rafaelian-Familie aus Musch
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Fehlende Gleichberechtigung für Nicht-Muslime; Unterdrückung,
Erniedrigung
Europäische Großmächte versuchten, ihre christlichen Brüder zu schützen
Osmanische Elite glaubte an Zerfall des Reiches, wenn Christen weiterhin
im Millet-System autonom blieben.
1839 Tanzimat-Erlass: Gleichstellung unabhängig von Religionszugehörigkeit.
Millet-System damit säkularisiert, zivile Personen nun als Vertreter der
Gemeinschaften.
Verfassung 1867: Staatsbürgerschaftsprinzip.
Aber: Fehlende Bereitschaft der Osmanen zur
Gleichstellung aller Staatsbürger!
Osmanen wollten ihre Vormachtstellung nicht
verlieren, bereits Übergriffe auf Christen im 19. Jh.
„…grundsätzliche Abweichung von islamischer Tradition…“
Armenierinnen in Van
Statistik des arm. Patriarchat 1882 in der Kernregion (38,9% der Gesamtbevölkerung armenisch):
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Erzerum 215.000, Van 185.000, Bitlis 180.000, Kharput 168.000
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Sivas 165.000, Diyarbakir 105.000
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Nach Berliner Frieden 1878 fielen einige armenische
Siedlungsgebiete wie Batum, Kars und Ardahan den
Russen zu.
Abdul Hamid II. veränderte Grenzziehung der neuen
Vilayete Erzurum, Van, Bitlis, Kharput, Diyarbakir und
Sivas: auf 35.000 km2 reduziert, in keiner Region sollten
Armenier mehr die Mehrheit sein.
Alle Christen Feinde des Osmanischen Reiches.
Armenier für Abdul Hamid Bedrohung für osmanischen
Staat, versuchte Minderheiten gegeneinander
auszuspielen.
„Belohnungsystem“: Übergriffe von osm.-muslim.
Beamten auf Christen als „Religiöse Pflicht“
Ab 1890 bewaffnete kurdische Truppen
(„Hamidiye-Regimenter“), die in Ostanatolien
gegen Armenier kämpften.
Abdul Hamid II (1842-1918)
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1895 Befehl zu Massakern vom obersten Befehlshaber von
Erzincan
1895 Massaker von Urfa
1896 neuerliche Massaker: als Anstoß galt Überfall von
armenischen Daschnaken auf Osmanische Bank und
Geiselnahme: Ermordung von 6.-14.000 Armenier in
Konstantinopel.
1894-1896 vermutl. 50.-100.000 armenische Opfer
Arm. Waisenkinder nach Urfa 1896
Arm. Familie in Konstantinopel,
Jahrhundertwende
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Entstanden in 90er Jahren als Opposition gegen Abdul Hamid
1908 tragende politische Kraft
Während 1. Weltkrieg Regierungspartei.
Eigentlich: gegen Despotie Abdul Hamids für die Wiedereinführung des
konstitutionellen System, im Spannungsfeld zwischen Muslimen und
Christen.
Partei: Ittihad ve Terakki („Komitee für Einheit und Fortschritt“).
Hüseyin Cahit, Wortführer der Jungtürken
Djavid Bey, Finanzminister
Bedri Bey, Polizeipräfekt von
Konstantinopel
„Gedanke der herrschenden Nation“: (Millet-i hakime)
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Entspr. Selbstverständnis des Islam: Muslime als herrschende Nation:
daher: Vorherrschaft der muslimischen Nation in einem multinationalen
und multireligiösen Land ist normal. („Osmanismus-Ideologie“ bis 1908)
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Jede Forderung nach Gleichberechtigung für Jungtürken eine offene
Kampfansage; doch kein „öffentlicher“ Nationalismus („Türkismus“, ab
1908).
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„Türkische Rasse vor Untergang bewahren“: v.a. wegen Ambitionen der
Großmächte nach Revolution 1908, Unabhängigkeit von Bulgarien und
Vereinigung Kretas mit Griechenland.
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Panikstimmung, es drohte dem Osmanischen Reich der Untergang.
„Illegale“ Bande in Van
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Gewalt, um politische Mission zu erfüllen.
März 1909 Aufstand der Militäreinheiten gegen Regierung und Jungtürken;
Massaker gegen Armenier in Adana bis 14. April. 15.000-20.000 Opfer.
Khatun Vanudian, 4,
Adana 1909
Überlebende arm. Kinder,
Adana 1909
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Staatsbürgerliche Gleichheit im modernen Staat mit neuer, kollektiver Identität,
d.h. Staatsbürger = osmanisch-islamisch als Grundlage für neuen türkischen
Nationalstaat.
Alle Nicht-Muslime daher Hindernis.
Neue Gesetze und Verbote, um Nicht-Muslime zu schwächen: a) Einführung
der Militärpflicht b) 1908: Öffentliche Grundschule mit alleiniger Unterrichtssprache Türkisch c) Beamte nur Staatsbürger mit absolvierter osm.-islam.
Hochschule.
„…gesamte Gesellschaft müsse unter dem Islam,
der türkischen Sprache und dem Kalifat vereinigt werden“
(Parteikongress der Jungtürken 1911).
Arm. Familie aus Erzurum, Jahrhundertwende
Artin Bey Devletian (1852-1937)
Lazarettarzt im osmanischen Herr im Balkankrieg
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1912 Balkankrieg: Verlust aller osm. Balkanprovinzen = Christen sind
hauptverantwortlich für Niedergang.
Problem der illoyalen christlichen Bevölkerung musste gelöst werden: Jan. 1914
kam Enver Pascha als Kriegsminister an die Macht.
Zwangsislamisierte, tätowierte Armenierin, 1902
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„Beseitigung der Christen und die Turkisierung Anatoliens“
Erstes Ziel: „Eiterbeulen in Westanatolien entfernen und
die Griechen durch politische und wirtschaftliche Maßnahme
beseitigen.“
Ab 1914: ca. 1,150.000 Griechen aus Ägäis-Gebiet vertrieben, 550.000 getötet.
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Kriegseintritt Anfang November 1914
Drei Ziele:
a) Rückeroberung der Gebiete auf dem Balkan
b) Expansion in den Kaukasus und Mittelasien
c) Klärung der armenischen Frage.
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Errichtung eines neuen Vaterlandes „Turan“, aller Völker „Panturanismus“.
Armenier „natürliches“ Hindernis bei Vereinigung mit Turkvölkern jenseits
der russischen Grenze in Mittelasien.
Bei Vertreibung/Tötung der Griechen 1914 sehr vorsichtig, um
diplomatische Beziehungen nicht zu gefährden. Durch Krieg hatteDruck
des Auslandes keine politische Wirkung!!!
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Russland übte starken Druck aus, für die Armenier im osmanischen Reich.
Armenier mit russischer Hilfe Autonomie- und Reformbestrebungen.
Verlust der ostanatolischen Provinzen an Russland bedeutete auch
Auflösung des osmanischen Reiches/jungtürkischen Staates.
„Bestrafungspolitik“: Armenier wollten Osmanen/Türken im Moment der
Schwäche mit Hilfe anderer Staaten zu Reformen zwingen = Hochverrat.
Armenier mussten daher bestraft werden.
„In den Tagen unserer Schwäche seid ihr uns an die Kehle gefahren
und habt die armenische Reformfrage aufgeworfen.
Darum werden wir die Gunst der Lage, in der wir uns jetzt befinden,
dazu benutzen, euer Volk zu zerstreuen.
Talaat Pascha, 12.5.1915
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Durch Kriegseintritt Reformpläne verhindert, Beseitigung de Armenier
Vorbedingung zu Errichtung eines neuen türkischen Nationalstaates.
Psychologischer Effekt: bei Säuberung von Westanatolien von Griechen,
Hoffnung, den Zusammenbruch des Reiches aufhalten zu können. Bei
„Säuberung“ in Ostanatolien aber keine Hoffnung, militärische
Niederlage als konkrete Gefahr für Türkei.
Möglicher Auslöser: Niederlage von Sarıkamış an russischer Grenze
Dez.1914 und Dardanellen-Krieg.
Arm. Bauernfamilie ohne Mann, Ostanatolien 1914
Sarkis Azatian mit Frau,
Militärarzt 1914
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Mobilmachung der Jungtürken schon August 1914:
Gründung „Revolutionsverein Kaukasus“, Bildung von Milizen aus
a) kurdischen Stämmen
b) entlassenen Häftlingen
c) osmanischen Flüchtlingen aus Balkan und Kaukasus.
Teşkilât-ı Mahsusa „Spezialorganisation“, von Enver Pascha: Geheimorganisation
zur Vernichtung der nationalen Feinde.
Ende August/Anfang September erst organisierte Banden-Überfälle auf
armenische Dörfer.
Februar 1915: Befehl v. Enver Pascha zur Entwaffnung aller armenischen Soldaten.
Erste Deportationen aus Region um Adana, Zeytun und Dörtyol. Nicht planmäßig.
Planmäßig erst am Mai 1915, nach Schließung des Parlaments und nach
Reorganisation der Armeeführung.
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24./25. April 1915
Vorwand des arm. Aufstandes in Van, 235 Armenier in Istanbul verhaftet,
angeklagt und getötet.
Ab Mai 1915 Beginn der Deportationen, im August „Entvölkerung“
bereits abgeschlossen.
Danach Vertreibung der Armenier aus Westanatolien und Thrazien.
Anfang 1917 war die Armenierfrage „gelöst.“
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Zunächst männliche Bevölkerung entwaffnet und deportiert.
Frauen und Kinder allein.
Erster Zielort der Deportationen war Aleppo, dort Sammellager. Von dort
aus in den Süden von Syrien (Deir-el-Zor) ode nach Osten in den Irak.
1,5 Mio Armenier starben zwischen 1915-1917.
„…wer am Leben blieb, wurde
nackt gelassen….“
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„Mit Deportation sei keine Vernichtung beabsichtigt gewesen…“
„Da die türkische Regierung und Nation nur notgedrungen, nur wenn ihre Geduld am
Ende war, zu Strafmaßnahmen und Vergeltung griff, tragen die armenischen
Individuen selbst die Verantwortung für die Katstrophen, die ihnen im Türkischen
Reich widerfahren sind. Was man den Armeniern zugefügt hatte, war eine
Strafmaßnahme.“(Ismet Pascha, Lausanner Friedenskonferenz 28.10.1922)
Eine Kriegshandlung…
Es kamen etwa die gleiche Zahl von Muslimen durch Armenier zu Tode…
Armenier seien illoyal und aufständisch – als Vorsichtsmaßnahme und für
Frieden im Land musste man sie als Vorsichtsmaßnahme umsiedeln
Auch Kurden sind schuld….
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Täter machen geltend, im Namen und Interesse ihres Volkes und Staates
gehandelt zu haben. Ohne Beteiligung eines Kollektives kein „Völkermord“
A) was ist Kollektivschuld?
B) wo liegt Grenze für Kollektivschuld?
C) wo ist die Schuld der anderen?
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Unterschied zwischen politischem und kollektivem Verbrechen!
Hungernde armenische Flüchtlinge, Deir el Zor 1915
Türkischer Beamter zeigt hungernden
armenischen Kindern Brot, Deir el Zor 1915
Muschegh aus Van, 1915
zeigt Kreuzigungswunden…
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Direkt
Bündnispartner der Türkei während 1. Weltkrieg, v.a. Deutschland.
Deutschland entschuldigte sich 2005 für Mitverantwortlichkeit.
Und K.u.K. Österreich?
Generalleutnant Fritz Bronsart von Schellendof,
Generalstabschef des osmanischen Feldheers
1914-1917, half bei Pogromen.
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Indirekt: Es war Krieg und keiner sah hin.
Weltöffentlichkeit wusste Bescheid, viele Berichte in Zeitungen,
Augenzeugenberichte von P. Johannes Lepsius, Armin T. Wegner, USBotschafter Henri Morgentau, Bodil Bjorn….
Friedensvertrag von Lausanne 1923: Kein Wort über Armenierpogrome.
Bedeutung von NATO-Pakt.
Spiel zwischen Großmächten…bis heute?
„Der Armenier ist wie der Jude, außerhalb seiner Heimat ein Parasit,
der die Gesundheit eines anderen Landes, in dem er sich aufhält, aufsaugt.“
Türken
Armenier
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Neue türkische Schicht
Enteignung arm. Besitzer
Neureiche gegen Rückkehr der
Armenier, Rückgabe von Gut und
verschleppten Frauen und
Kindern
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Harut‘iun und Krikor Taschjian aus
Malatya, 1915, gerettet von Beduinen
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1/3 des Volkes ausgelöscht
Arm. Bevölkerung aus
ursprünglichem
Siedlungsgebiet entfernt
Materiellet Verlust
Kulturellet Genozid:
Zerstörung von
Kulturdenkmälern und
Kunstschätzen
Entstehen einer neuen
Diaspora
„Armenisches Trauma“
Armenische Waisenkinder in Essenschlange, Aleppo 1915
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„Es geschah auf der Schwelle der Geschichte:
während der Transformation des multi-ethnischen Osmanischen Reiches in einen
Nationalstaat mit pantürkischer Ideologie.“
(Mihran Dabag)
„Das Schweigen und der Umgang der Türkei mit ihrer Geschichte wurde und
wird noch immer weitgehend von wirtschaftlichen, militärischen und
geostrategischen Gesichtspunkten bestimmt.“
(Taner Akcam)
…die Zeit ist kein Reinigungsmittel.
Die Flecken werden immer wieder durchscheinen...