Dienstag, 14. April 2015 / Nr. 85 Neue Luzerner Zeitung Neue Zuger Zeitung Neue Nidwaldner Zeitung Neue Obwaldner Zeitung Neue Urner Zeitung Bote der Urschweiz Tagesthema 3 Zeit für die Reform beginnt zu drängen ALTERSRENTE Die AHV ist das beliebteste Sozialwerk der Schweiz. Nun beginnt der demografische Wandel deutliche Spuren in der Kasse der AHV zu hinterlassen. RAINER RICKENBACH [email protected] Im vergangenen Jahr war es so weit: Zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren nahm die Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV) weniger Beiträge ein, als sie für Renten ausgab. In der Jahresbuchhaltung klafft ein Loch von 32 Millionen Franken. Die bedeutendste Sozialeinrichtung des Landes kam indes glimpflich davon, denn aus ihrem Kapitalfonds mit knapp 44 Milliarden Franken spülte es satte 1,7 Milliarden Franken in ihre Kasse. Unter dem Strich schaute ein dickes Plus heraus, das nun wieder zurück in die Kapitalreserve fliesst (Grafik). Kapitalpolster verhindert Defizit «Die Trendwende beim Umlageergebnis ist bereits vor sechs Jahren eingetreten», sagt Colette Nova, Vizedirektorin des Bundesamtes für Sozialversicherungen. «Das negative Vorzeichen kam insofern nicht überraschend, es entspricht unseren Erwartungen. Allerdings bewegt sich das Jahresumlageergebnis im unteren Bereich der Erwartungen.» Konkret: Für dieses Jahr erwarteten die Versicherungsmathematiker im Bundesamt im Umlageverfahren bloss ein Minus im einstelligen Millionenbereich. Das stattliche Kapitalpolster wirft nach ihren Prognosen in den kommenden fünf Jahren immerhin genügend Rendite ab, um das wachsende Loch bei den Rentenbeiträgen und -ausgaben (Umlageverfahren) zu stopfen. Der Fonds entspricht ziemlich genau dem Betrag, den die AHV in einem Jahr an Rentenauszahlungen leistet. Die AHV bekommt den demografischen Wandel zu spüren. Bis 2020 sollen jährlich rund 150 000 Personen pensioniert werden. EPA/Srdjan Suki AHV-Prognosen 1500 Erträge aus dem AHV-Kapitalfonds in Mio. Franken 1013 1000 894 871 1190 1227 1217 1030 Der AHV-Kapitalfonds beträgt rund 44 Mrd. Franken 718 (2013 bis 2020) 500 Dividende ohne AHV-Abgabe Eine Million Neurentner bis 2025 Doch das genügt langfristig nicht. Bis 2020 verabschieden sich jährlich gegen 150 000 Versicherte aus dem Erwerbsleben. Danach erhöht sich die Zahl der Neurentner auf fast das Dreifache pro Jahr, weil in diesem Zeitraum der Hauptharst der Babyboomer-Generation mit den Jahrgängen 1955 bis 1964 im dritten Lebensabschnitt ankommt. Was bedeutet: Über eine Million Personen mit einer im weltweiten Vergleich höchsten Lebenserwartung werden in den nächsten zehn Jahren von Beitragszahlern zu Rentenempfängern. Bei einer Einwohnerzahl von gut 8 Millionen Personen kommt das einer noch nie da gewesenen Umwälzung gleich. «Für die AHV bleibt es natürlich nicht folgenlos, wenn die Zahl der Rentner schneller wächst als die Zahl der Beitragszahler», sagt Jérôme Cosandey, Spezialist für Altersvorsorgeeinrichtungen bei der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse (siehe Interview). Würde man die Finan- 0 von zirka 8 Milliarden Franken vor sich her. So weit kann und will es der Bundesrat nicht kommen lassen. Mit einer umfassenden Reform der Altersvorsorge hat er vor, die Weichen in fünf Jahren neu zu stellen. Die AHV erhält bedeutend mehr Geld aus der Mehrwertsteuer, und das Rentenalter der Frauen erhöht sich schrittweise von 64 auf 65. «Wenn die Reformmassnahmen wie vorgesehen ab 2020 greifen, ist die Finanzierung der AHV auch für das nächste Jahrzehnt gesichert», prophezeit Colette Nova. +14 –32 –137 –84 AHV-Umlageergebnis in Mio. Franken –500 (Differenz Einzahlungen und Auszahlungen) –355 –509 –701 –947 –1000 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Quelle: BSV / Grafik: Oliver Marx -1500einfach schleifen lassen, drohten zierung griechische Verhältnisse: In einem solchen Szenario schreibt die AHV in zehn Jahren in ihrem Kerngeschäft mit Rentenbeiträgen und -auszahlungen ein Defizit von zirka 4,9 Milliarden Franken, gleichzeitig schmilzt das Kapitalpolster wie Schnee in der Frühlingssonne weg. 2030 ist das Kapital vollends aufgebraucht, und das Sozialwerk schiebt jährliche Defizite Es sind aber nicht nur die Demografie und die steigende Lebenserwartung, welche die Reform von Sozialminister Alain Berset notwendig machen. Die Politiker haben ebenfalls ihren Beitrag geleistet, die Einnahmeseite der AHV zu schmälern. «Mit der Unternehmenssteuerreform II wurden die Dividendenabgaben an die AHV gekappt. Allein darum entgehen ihr nun Einnahmen von jährlich 300 bis 400 Millionen Franken», sagt der Luzerner Nationalrat Louis Schelbert (Grüne). Zu spüren bekommt das Sozialwerk gemäss Schelbert auch die Erwerbslosigkeit, die nach seiner Schätzung rund 1 Prozent über der statistisch ausgewiesenen Arbeitslosigkeit (März 2015: 3,4 Prozent) liegt. «Arbeitslose zahlen reduzierte Beiträge an die Rentenkasse, Erwerbslose überhaupt keine. Auch das macht auf der Einnahmenseite Millionenbeträge aus», so Schelbert. Grund zur Panik ortet der Luzerner Politiker indes nicht. «Das Sozialwerk ist heute trotzdem robust und solide finanziert. Das ist wichtig, weil es nach wie vor für viele Rentner die wich- «Die Babyboomer-Lawine rollt bereits» RENTENREFORM rr. In fünf Jahren beginnt ein neues Rentenregime – auch weil die geburtenstarken Jahrgänge 1955 bis 1964 ins Pensionsalter rücken. Die Reform 2020 des Bundesrates umfasst sowohl die erste als auch die zweite Säule (AHV und Pensionskasse). Bei der ersten Säule ist ein flexibles Rentenalter zwischen 62 und 70 vorgesehen, das gesetzliche Rentenalter für Frauen steigt von 64 auf 65, und bei der Witwenrente gibt es Einschränkungen. Das Volk entscheidet in zwei oder drei Jahren über die Reform. Reicht sie, um die AHV im finanziellen Gleichgewicht zu halten? Für Jérôme Cosandey (45, Bild), Spezialist für Altersrentensysteme bei der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse, geht die Reform zu wenig weit. Jérôme Cosandey, bescheren die nächsten Jahre der AHV Defizite, ehe die Rentenreform zu greifen beginnt? Jérôme Cosandey: Das ist anzunehmen, ja. Jedes Jahr gehen jetzt geburtenstarke Jahrgänge in Pension, die BabyboomerLawine rollt bereits. Für die AHV bleibt es natürlich nicht folgenlos, wenn die Zahl der Rentner schneller wächst als die Zahl der Beitragszahler. Dank den Kapitalerträgen von 1,7 Milliarden Franken aus dem AHV-Fonds schrieb sie zwar im vergangenen Jahr noch keine roten Zahlen. Doch auf die Finanzmärkte ist auf die Dauer kein Verlass, und betrachtet man allein die Ein- und Auszahlungen im Umlageverfahren, so fehlten bereits im vergangenen Jahr 320 Millionen Franken. Das ist zehnmal mehr als erwartet. 300 Millionen sind aber auf gut 41 Milliarden Franken nach über zehn Jahren mit schwarzen Zahlen noch kein Grund, Alarm zu schlagen. Cosandey: Zuerst einmal: Das sich abzeichnende Missverhältnis zwischen Einnahmen und Ausgaben kommt nicht überraschend. Wir kennen die demografische Entwicklung nicht erst seit gestern. Bei den 320 Millionen handelt es sich indes nicht um eine Bagatelle, und dieser Betrag wird jährlich zunehmen. Würde nichts geschehen, summierte er sich 2030 auf rund 8,2 Milliarden Franken. Das ist fast doppelt so hoch wie das heutige Armeebudget. Kommt hinzu: Wenn die Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben des Fonds nicht geschlossen wird, schmilzt als Folge das Kapitalpolster und mit ihm die Erträge daraus. Der Bundesrat hat vor, ab 2020 mit zusätzlichen, bis zu 1,5 Prozent höheren Mehrwertsteuern die AHV langfristig zu finanzieren. Das Rentenniveau wird dabei nicht angetastet. Cosandey: Er kann drei Hebel in Bewegung setzen, um die Sozialeinrichtung in eine finanziell sichere Zukunft zu führen: mehr einnehmen, weniger ausgeben oder länger arbeiten lassen. Mit der Mehrwertsteuer hat der Bundesrat das richtige Mittel für Mehreinnahmen gewählt. Alle, Jung und Alt, zahlen über ihre Konsumausgaben mit, wie es sich für eine solidarische Einrichtung gehört. Mit höheren Lohnabgaben würde die wichtige Exportwirtschaft unter noch stärkeren Druck geraten, als sie mit dem starken Franken heute schon ist. Und ein höheres Rentenalter? Cosandey: Das gleiche Rentenalter für Frauen und Männer ist ein Schritt in die richtige Richtung. Meiner Ansicht nach wäre es sinnvoll, das Rentenalter weiter anzuheben. Über die Hälfte der OECDLänder kennen das Rentenalter 67 oder höher bereits oder sind daran, es einzuführen. In all diesen Ländern ist die Lebenserwartung tiefer als in der Schweiz. Deren Regierungen mussten ihre Reformen auch nicht durch eine Volksabstimmung schleusen. Cosandey: Wir leben länger, also dürfen wir auch etwas länger arbeiten, damit die Rentenrechnung aufgeht. Die Akzeptanz einer solchen Massnahme wäre höher, wenn die Erhöhung sanft in monatlichen Schritten umgesetzt würde. Die Leute, die bereits kurz vor der Pensionierung stehen, müssten minim länger arbeiten. Den Jungen ist ohnehin heute schon bewusst, dass sie nicht mit 65 in Rente gehen können. tigste Einnahmequelle darstellt», so Schelbert. Das gilt vor allem für Rentner über 70 oder 75, die nicht über ihre ganze Erwerbszeit in die Pensionskasse einzahlten und von dort darum bloss einen kleinen Zustupf erhalten. Einzig eine schwere Wirtschaftskrise könnte die AHV trotz Reform in eine beängstigende Schräglage bringen. Schelbert: «Wenn sich die Wirtschaftslage aber in einem derart dramatischen Ausmass verschlechtert, müsste man zuerst viel anderes auf den Prüfstand stellen als die AHV.» Diese Einschätzung teilt Nova vom Bundesamt für Sozialwesen. Tiefrote Zahlen drohen der AHV nach ihrer Beurteilung dann, wenn die Wirtschaft «erheblich und lange» schwächelt. Oder wenn die Reformmassnahmen ungenügend ausfallen. Sie meint damit nicht das vorliegende Reformpaket, sondern die politischen Hürden bis hin zur Volksabstimmung, die es noch zu nehmen hat. Im National- und Ständerat lauern Gefahren von links und rechts: Gewerbenahe Kreise pochen auf ein höheres Rentenalter, weil sie nicht bereit sind, zusätzliche Mehrwertsteuern für die AHV hinzunehmen. Die Linke verknüpft das gleiche Rentenalter für Männer und Frauen mit der Forderung nach Geschlechter-Lohngleichheit. Selbst wenn Bundesrat Alain Berset die Neujustierung der Vorsorge unbeschadet durchs Parlament bringt, droht immer noch ein Veto des Volkes. Sagt es Nein, läuft dem Bundesrat die Zeit davon, weil die AHV in Milliardendefizite abrutscht. Die Regierung sähe sich wohl gezwungen, das Reformpaket aufzuschnüren und einzelne Elemente in möglichst kurzer Zeit durch die Instanzen zu peitschen. AHV für EU-Bürger TEILRENTE rr. Die starke Zuwanderung aus den EU-Ländern trug wesentlich dazu bei, dass die AHV seit 15 Jahren stets schwarze Zahlen schreibt. Doch die zugewanderten Einzahler werden später für ihre Beiträge auch Teilrenten von der AHV erhalten, sofern sie mindestens ein Jahr hier arbeiten und AHV-Beiträge bezahlen. Schweizer Rentenalter gilt Die Ausgleichskasse Luzern macht dies mit einem Fallbeispiel deutlich: Ein deutscher Staatsangehöriger arbeitet fünf Jahre lang in der Schweiz und zahlt von seinem Jahreslohn in der Höhe von 100 000 Franken jeden Monat AHVBeiträge. Nach fünf Jahren kehrt er zurück und tritt eine neue Stelle an. Mit 65 – massgebend ist das gesetzliche Rentenalter der Schweiz – erhält er nebst seiner deutschen Rente von der AHV nach heutigem Stand monatlich 267 Franken. Die Teilrentenregelung gilt in der EU auch im umgekehrten Fall, wenn Schweizer im Ausland arbeiten.
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