1 DEUTSCHLANDFUNK Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Redaktion: Hermann Theißen Sendung: Dienstag, 15.03.2016 19.15 – 20.00 Uhr »Wir sind Profis für Versöhnung und Verständigung« Schriftsteller auf dem Balkan Von Volker Dittrich URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - 1 2 Musik „Slow quartet“ O-Ton Gedicht Tomislav Marković (serbisch): jedes Komma ein Oberschenkelknochen jeder Punkt – ein Totenschädel jeder Satz – ein Massengrab mit euch kann man ja gar nicht reden über verfaulte Leichname spricht man nicht beim Abendessen das ist schlicht geschmacklos das Bier ist im Glas Musik »Der albanisch-serbische Dialog«/ Szene aus dem Drama »Patriotic Hypermarket« von Jeton Neziraj und Milena Bogavac Rezitator »Ich lag auf einem Acker und beobachtete Ameisen, die sich in alle Richtungen bewegten. Wissen Sie, als Kinder haben wir im Kosovo die Ameisen in ›albanische Ameisen‹ und ›serbische Ameisen‹ eingeteilt. Die albanischen Ameisen waren die schwarzen, die weichen, die nichts getan haben, wenn man sie anfasste. Sogar wenn sie bissen, machte das gar nichts! Die serbischen Ameisen waren die roten. Sie waren grob und aggressiv. Wenn man sie anfasste, bissen sie sofort zu und die gebissene Stelle entzündete sich und wurde prompt rot. Eine Kinderidee! Und wie ich so im Gras lag und den Ameisen zuguckte, sah ich etwas, was ich in meinem Leben noch nie gesehen hatte. Eine schwarze und eine rote Ameise schleppten gemeinsam einen Grashalm und zerrten ihn sicher zu dem Bau, den sie errichteten. Dieser Anblick war ein Zeichen. Und in dem Moment beschloss ich, diese Idee zu verwirklichen. Was Ameisen können, das können wir auch, sagte ich mir.« Musik Rezitator »Leider kann ich nicht so rührende Geschichten erzählen wie mein Freund Gashi. Aber ich erinnere mich, dass unsere Mutter, wenn wir als Kinder nicht einschlafen wollten, uns Angst machte: ›Schlaft, sonst kommen die Albaner und fressen euch auf!‹ Und deshalb bin ich mit der Angst aufgewachsen, dass mich eines Tages die 2 3 Albaner fressen. Bis ich einmal länger in der Kneipe saß und, wie Sie sich denken können, etwas zu viel getrunken habe. Ich weiß nicht, was mit mir an dem Tag geschah, aber in dem Park, in dem ich schlief, hatte ich einen Traum. Als ich aufwachte, fiel mein Blick auf die Zeitung, mit der ich mich nachts zugedeckt hatte, es war der Artikel, in dem Gashi nach Menschen suchte, die sich seiner Idee anschließen würden ... Das war für mich ein Zeichen, das mir der Herr gesandt hatte.« Erzähler Eine Szene aus dem Theaterstück »Patriotic Hypermarket«. Der Albaner Jeton Neziraj aus Kosovo hat es mit der Serbin Milena Bogavac zusammen verfasst. Im Okober 2011 wurde es im Bitef-Theater in Belgrad aufgeführt. Auch 2011 noch eine Provokation, ein Theaterskandal. Der serbische Nationalismus richtete sich seit der Machtübernahme von Slobodan Milošević 1989 in Belgrad zuerst gegen Albaner aus Kosovo und später auch gegen Kroaten, Slowenen und Bosniaken. Musik „Dance of the Firemen“ Ansage: „Wir sind Profis für Versöhnung und Verständigung“ Schriftsteller auf dem Balkan. Ein Feature von Volker Dittrich Erzähler 2010 fahre ich zur ersten »Langen Balkan Nacht« mit Literatur und Musik, sie findet in dem ehemaligen Kino UT Connewitz in Leipzig statt. Als Liebhaber und Verleger von Balkan-Literatur will ich wissen, wie die Autoren der verfeindeten Republiken des früheren Jugoslawien hier miteinander zurechtkommen. Der beliebte Saal mit seinem morbiden Charme, den alten Säulen auf der Bühne und den halb verputzten Wänden, aus denen roter Backstein hervortritt, strahlt eine große Ruhe aus. Die Kinostühle sind voll besetzt. Überwiegend junge Leute. Auch auf den Gängen sitzen die Besucher. Von der Balustrade, die den Künstlern vorbehalten ist, schauen Schriftsteller und Musiker auf die Bühne. Dort stehen zwei schwere braune Ledersessel für das Gespräch der Moderatorin mit den Gästen aus Kroatien, Serbien, Mazedonien, Slowenien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro und 3 4 Kosovo. Ein kleiner Tisch an der Seite mit Mikrofon für die Schauspieler, die die deutsche Übersetzung der Texte lesen. Auf einer großen Leinwand im Hintergrund werden Buchcover gezeigt, Fotos und Filme aus den Ländern der Schriftsteller eingeblendet. Oben in der Künstlergarderobe lernen sich Jeton Neziraj und Saša Ilić kennen. Neziraj ist Albaner, wurde 1978 im Kosovo geboren, Saša Ilić, 1972 geboren, ist Serbe. Eine vorsichtige Annäherung zweier junger Schriftsteller. Beide haben die Balkan-Kriege miterlebt. Sie sitzen zusammen beim Bier und am Ende des Abends beschließen sie zwei Anthologien herauszugeben: eine serbische, die in Kosovo und eine kosovo-albanische, die in Serbien erscheinen soll. Ein Jahr später erschienen die Anthologien dann auch. Schon die Titel: »Aus Belgrad in Liebe« und »Aus Priština in Liebe« waren eine Provokation. Zitatcollage Rezitator Du suchst dir die Nummer eines Minibus-Taxiunternehmens heraus, das die Route Belgrad-Priština bedient, und brichst auf ins Unbekannte. // Wir nehmen den Frieden als ein notwendiges Übel hin. // Leipzig ist das Herz Serbiens! // Ich wartete auf Dich mit einer Flasche Rotwein auf dem Tisch und angezündeter Kerze, dann stahl uns der Krieg unser Leben. // Und plötzlich stellst du fest, dass du gestorben bist, aber du atmest noch. // Der Krieg ist seit einer Weile vorbei / Die Toten schlossen die Türen des Lebens und schlafen im Frieden / im verfickten Frieden // Am Morgen / Wie im Traum / Erinnerte ich mich an Schüsse / Ich verscheuchte die Fliege von meiner Frau / Von der Stelle wo ich sie am Abend geküsst hatte // Erzähler: Nach ihrer Rückkehr aus Leipzig begannen Jeton Neziraj und Saša Ilić einen Briefwechsel. Zuerst war das ein sehr privater Austausch, und dann beschlossen sie, einige ihrer Briefe zu veröffentlichen. 4 5 Rezitator Lieber Jeton, ich erinnere mich an den kleinen grünäugigen Berisha Beka, Matrose der 106. Marineeinheit der Jugoslawischen Kriegsmarine, neben dem ich unter Deck schlief. Wir hatten Schlafsäcke und teilten uns einen sehr beengten Raum, während wir darauf warteten, dass unser Schiff in Boka Kotorska einlief, wo unsere Odyssee beginnen sollte. Auf der Halbinsel Prevlaka wurde schon heftig geschossen, und jeden Abend liefen Kanonenboote aus Tivat in Richtung Dubrovnik und Ploče aus. Am Morgen danach kamen sie zurück, und wir als frischgebackene Eidechsen mussten riesige Granathülsen ausladen. Sie stanken nach Schießpulver und Unglück. Wir stapelten sie auf große Karren und zogen sie zu den rußigen Wartungshallen. Wir waren die Malocher des Krieges und zogen diese Karren durch die weit geöffneten Tore, wo die Hülsen wieder befüllt wurden. Damals, als ich mit Berisha den Karren schob, lernte ich das erste albanische Wort: zhapin (Eidechse). Ich weiß nicht, ob es in der albanischen Standardsprache überhaupt verwendet wird, doch für uns wurde es in diesen Tagen zum festen Bestandteil des Matrosenjargons. Freundschaftliche Grüße, Saša Erzähler Saša Ilić wurde am 17. September 1991 in die Jugoslawische Armee einberufen. Das war der Beginn der Balkankriege. Er war der jugoslawischen Kriegsmarine zugeteilt und war dabei als die Bomben auf das kroatische Dubrovnik fielen. O-Ton Saša Ilić: Übersetzer Das war eine der traumatischsten Erfahrungen meines Lebens. Und nicht nur meine, sondern all meiner Klassenkameraden, die 1991 zum Militär mussten. Fast alle haben versucht, dem zu entkommen. Aber das war leider total unmöglich. Es hat bei mir bis heute Folgen hinterlassen. Dass ich gezwungen wurde, in den Krieg zu gehen und alles, was im Krieg passiert, mitzuerleben. Fünf Tage nachdem ich 1992 aus dem Militärdienst entlassen wurde, bin ich nach Belgrad gezogen. Meine Freundin hatte mich verlassen, und ich wollte an der Universität studieren. Die Leute in Belgrad haben die Realität des Krieges überhaupt nicht wahrhaben wollen. Ich war ziemlich allein, und begann mehr oder weniger eine Arbeitstherapie. Ich saß die 5 6 nächsten fünf bis sechs Jahre in der Bibliothek und habe dort auch begonnen zu schreiben. Die erste Geschichte, die ich veröffentlicht habe, war über die Rückkehr aus dem Krieg. In der zweiten habe ich über den Tod eines Offiziers auf der kroatischen Insel Vis geschrieben. Danach habe ich eine Sammlung von Erzählungen veröffentlicht. Über den Stadtkrieg. Musik Loosening up the Queen Rezitator In der Stadt S. hatte es genug Platz für alle gegeben. Für die, die im Zentrum wohnten, ebenso wie für uns vom Stadtrand, von wo aus wir in die Schule, das Kino oder in die Konditoreien gingen. Die Stadt hatte zwei Konditoreien, die nebeneinander lagen. Die eine hieß »Seiltänzer«, die andere »Onkel Rizo«. Obwohl sie nebeneinander lagen, geschah es selten, dass dieselben Leute in beide Konditoreien gingen. O-Ton Saša Ilić: Übersetzer Da waren Serben aus dem Kosovo, die nach Zentralserbien ausgewandert sind. Und obwohl es Serben waren, wurden sie als Albaner angesehen. Und man nannte sie Chinesen. Erzähler Saša Ilić lebte als Kind in der serbischen Kleinstadt Jagodina zusammen mit serbischen Flüchtlingen aus dem Kosovo. O-Ton Saša Ilić: Übersetzer Meine ganze Kindheit habe ich in diesem chinesischen Viertel verbracht. Wir sind in die selbe Klasse gegangen und haben alles geteilt. So habe ich aus nächster Nähe erlebt, wie die kleine Stadt auf die Flüchtlinge reagiert hat. Denn ich war ja fast einer von ihnen, weil wir miteinander aufgewachsen sind. Darüber habe ich eine Geschichte geschrieben; „Das Chinesenviertel“. 6 7 Musik „Loosening up the Queen“ (Aus: Saša Ilić »Das Chinesenviertel«) Rezitator »Eines Abends, kam mir in der Nähe der Diskothek ›Loch‹, Banes Bande entgegen. Ich versuchte, ihnen auszuweichen, aber der Weg war versperrt. Ein mageres Bürschlein mit einer ausgesprochen großen Nase, den sie Mungos nannten, kam von hinten auf mich zu und schubste mich zu Bane hin. ›Hör zu‹, sagte der Dicke, nachdem ich mich erhoben hatte, ›richte den Chinesen aus, dass ich sie hier nicht wiedersehen will! Ist das klar!‹ ›Ja‹, sagte ich ganz leise. ›Dasselbe gilt auch für Dich‹, fügte er hinzu. Dann legte er freundschaftlich seine Hand auf meine Schulter und schüttelte mich. Er habe von uns aus dem Chinesenviertel die Schnauze voll. Überall kröchen wir herum. Er könne unsere Zuwandererfressen nicht mehr ertragen. Und zu allem würden wir auch noch stinken. Das ganze Chinesenviertel stinke nach uns.« O-Ton Saša Ilić: Übersetzer Je länger ich schreibe und zur Literaturszene gehöre, desto weniger Reaktionen erhalte ich. Ich schreibe vom Krieg, von Kriegsverbrechen, von der Verantwortung der serbischen Seite an diesem Krieg. Und da bekommt man nur wenig Resonanz. Stattdessen gab es Unterstellungen, dass ich vom Ausland bezahlt werde, damit ich über solche Themen schreibe. Auch weil ich verschiedene Stipendien im Ausland erhalten habe. Erzähler Saša Ilić gründete 2006 mit drei Schriftstellerkollegen die Streitschrift BETON, die als Kulturbeilage in der Belgrader Oppositionszeitung »Danas« erschien. Gegen den Nationalismus in der Kultur anzuschreiben war das Programm der Autoren. Die jungen Schriftsteller waren fest davon überzeugt, dass die Problematik in den Köpfen der Kulturschaffenden läge, sie trügen die größte Verantwortung. Sprecher BETON hat in der von Saša Ilić betreuten Rubrik »Boulevard der Sterne« als erstes 7 8 Medium eine systematische, kritische Erforschung der Biographien von Intellektuellen begonnen, die für den Krieg und den Zerfall Jugoslawiens verantwortlich sind. Erzähler So steht es in der deutschen Ausgabe von BETON, die zur Leipziger Buchmesse 2015 erschien. Für diese Ausgabe wurde die Redaktion mit der kroatischen Übersetzerin und Schriftstellerin Alida Bremer verstärkt. Sie hat sehr großen Anteil am Kulturaustausch unter den Schriftstellern auf dem Balkan. Mit dem literarischen Netzwerk Traduki unterstützte sie 2009 das erste »Regionale Literaturfestival gegen Langeweile und Lethargie«, abgekürzt KROKODIL, in Belgrad. Atmo vom Festival Erzähler Die Schriftsteller Rumena Bužarovska aus Mazedonien und David Albahari aus Serbien waren 2012 in Belgrad dabei: Atmo Literaturfestival KROKODIL, Belgrad, 2012 O-Ton Rumena Bužarovska: Übersetzerin Krokodil ist für mich ein wirklich fantastisches Festival. Ich bin sehr glücklich als erste Teilnehmerin aus Makedonien hier sein zu dürfen. Das Publikum hier ist unglaublich und die Mitwirkenden sind großartig. Übersetzer David Albahari: Es ist ein Festival mit einer Leitung, die offensichtlich einen anderen Weg geht, weg von dem gewöhnlichen Verständnis wie ein Literaturfestival zu sein hat. Das Besondere ist, das Festival garantiert, dass das Publikum mit interesannten Autoren und ihrer Literatur konfrontiert wird. Atmo Festival 8 9 Erzähler Für Saša Ilić und Jeton Neziraj, die sich 2010 in Leipzig kennengelernt hatten, blieb es nicht beim Briefwechsel. O-Ton Saša Ilić: Übersetzer Nachdem wir uns 2010 kennengelernt haben, war ich oft im Kosovo und Jeton besuchte mehrfach Serbien. Wir haben viel darüber gesprochen, wie wir den Krieg erlebt haben. Jeton hat mir das Schara-Gebirge gezeigt, und ich war zu Gast bei seinen Verwandten, die sehr gastfreundlich waren. Sie luden mich zum Essen ein. Und wir haben sehr viel über die Vergangenheit geredet. Jeton hat mir auch die militärischen Stützpunkte der serbischen Polizei gezeigt, die sehr gefährlich waren. Musik „Waltzing Above Ground“ Rezitator Saša Ilić an Jeton Nesiraj Lieber Saša, ich erinnere mich, dass uns der Opa, bevor wir uns schlafen legten, fragte, ob wir die Axt reingebracht haben (die gewöhnlich tagsüber im Hof lag). Die Axt musste abends immer im Haus sein. Und der Opa hatte dafür eine einfache Erklärung: »Wenn die Serben kommen, um uns nachts im Schlaf zu zerstückeln, sollen sie uns wenigstens mit ihrer Axt zerstückeln, nicht mit unserer!« Dieses Trauma meines Opas rührte sicherlich von früheren Ereignissen her, als serbische oder albanische Banden in den Dörfern der anderen Massaker angerichtet haben. Als Kind habe ich mir ständig solche Szenen vorgestellt, wie unsere Männer mit Äxten und Hippen abends, kurz nach dem Sonnenuntergang, ein serbisches Dorf überfielen und es entvölkerten. Und danach stellte ich mir auch das Gegenteil vor, wie serbische Männer mit Äxten, Sensen und Messern kamen und unser Dorf verwüsteten. Und leider habe ich diese Schreckensszenen, früher als Träume, viele Jahre später »live« im Kosovo-Krieg gesehen. Mit freundlichen Grüßen, Jeton Neziraj 9 10 O-Ton Jeton Neziraj: Übersetzer Es war und ist eine Provinz, im wahrsten Sinne des Wortes. Erzähler: Jeton Neziraj wuchs im Kosovo in der Stadt Kaçanik auf, in der Nähe der mazedonischen Grenze. O-Ton Jeton Neziraj: Übersetzer Aber mein Vorteil war, dass in meiner Familie gebildete Menschen lebten, mein Vater und mein Onkel, Professoren der albanischen Sprache und der Mathematik. Ich bin in der Umgebung von Büchern aufgewachsen. Mein Vater und mein Onkel waren Kommunisten, auch wenn sie das nicht praktiziert haben, aber sie haben an den Kommunismus von Jugoslawien geglaubt. Das ging bis in die 90er-Jahre, als die Wende kam, die Trennung von Kommunismus zur Demokratie. Die Bücher von Rosa Luxemburg, Marx, Engels und Lenin, die sogenannten Roten Bücher, wurden zuerst einmal in einen besonderen Raum gebracht und später an einem sonnigen Tag beim Backen von Fli zusammen mit anderen Gegenständen verbrannt. Als Kind wusste ich nicht, was diese Roten Bücher bedeuteten, aber woran ich mich erinnere ist, dass eines der Roten Bücher, das von Rosa Luxemburg, überlebt hat. Dass Bücher verbrannt wurden, habe ich dann noch öfters miterlebt. Vor dem Krieg, im Krieg und nach dem Krieg. Vor dem Krieg als die serbischen Kräfte aus der Nationalbibliothek viele Werke abtransportierten, sie entweder in einen Müllcontainer warfen, oder auf einem besonderen Gelände verbrannten. Nach dem Krieg gab es viele Häuser und Wohnungen, in denen früher Serben wohnten, die aber inzwischen von Albanern besetzt wurden, die zurückgekehrt waren. Dazu gehörte auch, die Bücher der Serben, in einer Sprache, die man nicht verstand oder nicht verstehen wollte, und die nicht gewollt war, ebenfalls in Müllcontainer zu schmeißen oder zu verbrennen. Deshalb haben wir in diesen Müllcontainern danach gesucht und dabei viele sehr bedeutsame Werke gefunden. Ich erzähle diese Geschichte, weil mich diese Verbrennung und Vernichtung der Bücher die ganze Zeit verfolgt hat. 10 11 Erzähler 1997 begannen im Kosovo die ersten Unruhen. Die serbisch dominierte Zentralregierung in Belgrad hob die Autonomie auf, albanische Kosovaren wurden von Militär und serbischer Polizei drangsaliert, und die wirtschaftlichen Probleme wuchsen. Die Untergrundorganisation »Kosovo-Befreiungsarmee« (UÇK) überzog die Region nun mit Terroranschlägen. Ihr Ziel, die Unabhängigkeit des Kosovo. Serbien schlug mit der Jugoslawischen Volksarmee zurück. Im März 1999 begann die NATO, auch mit deutscher Beteiligung, den Luftkrieg gegen militärische Einrichtungen, Infrastruktur und Industrieanlagen in Serbien und Kosovo. Westliche Geheimdienste arbeiteten dabei mit der umstrittenen UÇK zusammen, der man vorwarf, sich u.a. aus dem Drogenhandel zu finanzieren. Die Begründung für den Luftkrieg der NATO lautete in Deutschland: Ein erneutes Massaker der Serben, wie 1995 in Srebrenica an den Bosniaken, diesmal an den Kosovo-Albanern, müsse verhindert werden. O-Ton Jeton Neziraj: Übersetzer Es gab die Befreiungsarmee des Kosovo, der ich angehört habe. Es gab viele Menschen, die bereit waren gegen die Unterdrückung zu kämpfen, aber es gab nicht ausreichend genug Waffen, um alle damit auszustatten. Erzähler: Jeton Neziraj musste, als der Krieg begann, sein Studium »Drama und Theater« an der Universität Priština abbrechen. Er ging zurück in seine Heimatstadt Kaçanik in der Nähe der Makedonischen Grenze. O-Ton Jeton Neziraj: Übersetzer Ich habe Berichte für das Kommando verfasst. Während der Zeit habe ich auch Erzählungen und Gedichte geschrieben, die dann bei bestimmten Anlässen, wenn einer der Kameraden ums Leben gekommen war, vorgetragen wurden. Ich war ein Kriegspropagandist. Uns war bewusst, dass uns die Jugoslawische Volksarmee gegenübersteht, die zu der viertgrößten in Europa zählte und mit Waffen sehr gut ausgestattet war. Aber trotzdem wollten wir mit dem, was wir hatten, Widerstand 11 12 leisten. Und wir fühlten uns auch geeignet und gewappnet dagegen zu kämpfen. Erzähler In den letzten Tagen des Krieges begleitete Jeton Neziraj eine Gruppe von Flüchtlingen nach Makedonien. Dort erlebte er das Kriegsende. Während des Krieges musste er oft an seinen Serbischlehrer aus Schulzeiten denken. O-Ton Jeton Neziraj: Übersetzer Das war Bora, der kam von sehr weit her und war sehr lieb. Seinetwegen habe ich die serbische Sprache gelernt. Während des Krieges habe ich dann mehrmals überlegt, was aus ihm geworden ist, und was geschieht, wenn ich ihn plötzlich treffe. Würde er auf mich schießen und mich töten. Oder würde ich auf ihn schießen und ihn töten. Aber dann dachte ich, nein, das würde ich nicht tun. Musikakzent „Dusty Road“ Erzähler Als die Bedingungen es wieder zuließen, studierte Jeton Neziraj in Priština weiter. Die ersten serbischen Kollegen lernte er später auf internationalen Festivals kennen. O-Ton Jeton Nezraj: Übersetzer Der Beginn war schwierig, weil ich davon ausgehen musste, dass einige von denen Kriegsfeinde waren und noch immer sind. Mit den meisten von ihnen habe ich mich dann zusammengesetzt. Wir haben zusammen gesprochen und diskutiert. Die haben dann begriffen, dass ich ein normaler Mensch bin. Und ich habe auch begriffen, dass sie normale Menschen sind. So begann der kulturelle Austausch. Wir haben dann festgestellt, dass wir trotz dieser Kriegsbarrieren zusammenarbeiten können. Denn andere Barrieren gab es nicht, die das verhindern konnten. Wir stellten fest, dass wir den gleichen Geschmack haben und den gleichen Standpunkt zum Theater vertreten. Aufgrund dieser kulturellen Aspekte, war es dann auch möglich, eine Zusammenarbeit anzustreben. 12 13 Erzähler 2008 begannen die Proben des Theaterstücks »Patriotic Hypermarket« in Belgrad, das Jeton Neziraj gemeinsam mit Milena Bogavac, einer serbischen Autorin geschrieben hatte. O-Ton Jeton Neziraj: Übersetzer Wir hatten 2008 mit den Vorbereitungen begonnen. Erst drei Jahre später haben wir es geschafft, dass wir das Stück im Bitef Theater aufführen konnten. Erzähler: Das Ensemble bestand aus drei serbischen und drei albanischen Schauspielern. Krieg, Schuld, Vergebung und Rache sind die Themen des Stückes. O-Ton Jeton Neziraj Übersetzer Es war auch die erste Zusammenarbeit im Theaterbereich zwischen Kosovo und Serbien nach über zwanzig Jahren. Ich erinnere mich, dass es nicht leicht war, Schauspieler für dieses Projekt zu gewinnen. Einer von ihnen, der jetzt in den USA lebt, bekam daraufhin in Kosovo große Schwierigkeiten. Man weigerte sich, weiter mit ihm zusammenzuarbeiten. Mir hat man das nicht so übel genommen, weil sie wussten, dass ich schon öfter an solchen Projekten beteiligt war. Es war ein sehr interessantes Projekt, aber auch ein sehr schwieriges. Dieses Stück wurde im Kosovo als anti-albanisch und in Belgrad als anti-serbisch bezeichnet. So begriffen wir, es wird etwas Gutes dabei herauskommen, wenn beide Seiten das Stück als anti-national bezeichnen. Musik Guy Klucevsek „Waltzing Above Ground“ Rezitator Das Klopfen an der Tür 1999 in Priština bedeutete nicht immer, dass jemand bei ihnen zu Besuch kam. Sondern es konnte auch bedeuteten, dass jemand kommt, um sie zu berauben, zu verhaften oder sie sogar zu töten. 13 14 (Szene aus dem Drama »Patriotic Hypermarket«) Polizei-Inspektor: Guten Tag. Heute Morgen sagte der Polizei-Kommandant, dass wir Ihnen einen Besuch abstatten sollen. Ich meldete mich sofort freiwillig. Schauspieler: Guten Tag. Polizei-Inspektor: Ich bewundere Sie. Sie sind außerdem das Idol meiner Frau. Sie trägt alles was Sie in dem Film »Operation Belgrad« gesagt haben in ihrem Herzen. Gestern wurde der Film im Fernsehen gezeigt. Haben Sie ihn gesehen? Schauspieler: Wir haben keinen Strom. Polizei-Inspektor: Aber Sie erinnern sich an den Film? Schauspieler: Natürlich. Ein Zika Mitrovic Film. Ich spielte den Jasha. Polizei-Inspektor: Ein Albaner verteidigt Belgrad gegen die Deutschen. Schauspieler: Jasha ist ein Serbe aus Belgrad. Ein junger Mann der sich die Freiheit für diese Menschen wünscht. Polizei-Inspektor: Warum sind Sie nicht nach Albanien oder Makedonien ausgewandert? Schauspieler: Ich weiß nicht, aber wenn ich jemals gehen sollte, hätte ich keine Möglichkeit mehr zurückzukehren. Einer der beiden begleitenden Polizisten versetzt dem Schauspieler eine Ohrfeige. Polizei-Inspektor: Lieben Sie dieses Land so sehr? Schauspieler: Außerhalb von Kosovo wäre ich ein Niemand. Der zweite Polizist versetzt dem Schauspieler eine Ohrfeige: Polizei-Inspektor: Kosovo ist Serbien, Schauspieler. Was denken Sie, wer möchte hier den Helden spielen? 14 15 Schauspieler: Ich denke nicht, dass es irgendeinen Grund für einen von uns gibt, hier den Helden zu spielen. Polizei-Inspektor: Sie können gar kein Held sein, weil sie ein Terrorist sind. Und ich töte Terroristen. Schauspieler: Ich bin kein Terrorist. Ich bin nur ein gewöhnlicher Schauspieler. Der erste Polizist versetzt dem Schauspieler erneut eine Ohrfeige. Polizei-Inspektor: Wo ist das Geld, verdammt noch mal. Gib uns das Geld! Musik O-Ton Jeton Neziraj Übersetzer Das Ziel war, ein politisch unkorrektes Stück zu schreiben. Es sollte keine Hemmungen geben, in der Darstellung von Höflichkeit oder Korrektheit zueinander. Das Stück wurde insbesondere vom Publikum in Belgrad sehr gut aufgenommen, später auch in Priština. Aber solch einen Applaus wie in Belgrad habe ich später bei anderen Aufführungen nicht mehr erlebt. Die Reaktionen aus dem Publikum: endlich haben wir es so weit gebracht, dass Serben und Albaner gemeinsam auf der Bühne stehen. Es gab natürlich auch vereinzelte Schwierigkeiten während der Proben. Die serbischen Schauspieler weigerten sich, einen bestimmten Teil des Stückes zu spielen, bei dem die Albaner die Opfer waren. Und umgekehrt war es genauso. O-Ton Akkordeonmusik vom Trio Mozaic aus Tirana/Albanien vom Festival polip Erzähler 2013 wurde ich als Diskussionsteilnehmer eines Panels zum Internationalen Literaturfestival polip nach Prishtina eingeladen. Auf dem Flughafen empfing mich einer der Übersetzer des Festivals. Wir würden zuerst einmal zum Veranstaltungsort, dem Zentrum Multimedia fahren, das Jeton Neziraj 2002 gegründet hatte. In Kosovo hatte das Zentrum Neziraj bekannt gemacht. Überrascht war ich, als wir vom belebten Bill Clinton Boulevard in ein Wohngebiet abbogen. Hochhäuser mit 15 16 dunkelgrünen Fassaden. Die schmale Straße war rechts und links mit Autos zugeparkt. Es regnete ein wenig. An einer Biegung hielten wir vor einem Haus vor dessen Eingang ein weißes Zeltdach aufgebaut war. Vor der Nässe geschützt tranken einige Autoren des Festivals Kaffee und rauchten. Ich wurde sehr warmherzig von einer der Betreuerinnen, mit der ich korrespondiert hatte, empfangen. Auch Jeton Neziraj hieß mich herzlich willkommen und stellte mich einigen Gästen vor. Musik Erzähler Jeton Neziraj wurde 2008 zum Künstlerischen Leiter des gerade eröffneten Nationaltheaters in Priština berufen. 2010 gründete er das Internationale Literaturfestival polip, das auch von Traduki und Alida Bremer unterstützt wird. Nachdem Jeton Neziraj und Saša Ilić sich in Leipzig kennengelernt hatten, leiteten sie das Festival in Pristina gemeinsam und luden dazu auch Schriftsteller aus Serbien ein. O-Ton Jeton Neziraj: Übersetzer Wir wollten nicht nur die Literatur fördern, sondern auch einen Austausch zwischen Serbien und Kosovo einleiten. Es war das erste Mal, das serbische Autoren nach dem Krieg öffentlich im Kosovo lasen. Natürlich war auch die Last der Verantwortung hierher zu kommen und aufzutreten, bei den Teilnehmern aus Serbien sehr groß. Aber sie haben es getan. Es waren die Autoren der Gruppe um die Zeitschrift BETON. Die ersten vier Veranstaltungen waren, aufgrund der Tatsache, dass wir eine sehr große Anzahl von Teilnehmern aus Serbien hatten, schwierig zu organisieren. Wir haben im Vorfeld die Polizei informiert, falls es irgendwelche Zwischenfälle geben würde. Vom Publikum wurden die serbischen Schriftsteller sehr gut aufgenommen. Auch aufgrund der Tatsache, dass ihre Texte gegen die offizielle Regierungsmeinung in Belgrad gerichtet waren. So habe ich von Projekt zu Projekt, nach jeder Zusammenarbeit, meine Karriere als Verräter aufgebaut. 16 17 O-Ton Saša Ilić: Übersetzer Die Schriftsteller und Dichter sind sehr offen für die Zusammenarbeit. Und es ist sehr interessant wie die jungen Schriftsteller sich gegenseitig zuhören. Und wie wichtig es besonders für die Autoren aus dem Kosovo und aus Serbien ist. Man kann beobachten, dass diese Zusammenarbeit sogar die Entwicklung der Poetik von manchen Autoren beeinflusst. Erzähler 2013 hatten die Festival Macher ihr Programm mit Künstlern aus anderen Regionen noch erweitert. Eingeladen waren auch zwei Lyrikerinnen aus Israel und Zypern. O-Ton Jeton Neziraj: Übersetzer Es mag wie ein Witz klingen, aber wir sahen uns als Profis für Versöhnung und Verständigung aufgrund unserer Verhandlungen zwischen Serbien und Kosovo, und wir meinten, vielleicht sollten wir unser Wissen an andere Länder weitergeben. Wir dachten anfangs, nur wir haben diese Problematik. Dabei haben wir vergessen, dass es auch andere Länder gibt, die dasselbe durchmachen oder durchgemacht haben. Deswegen sehen wir es als Gewinn an, von den Autoren der anderen Länder auch etwas zu lernen. Erzähler Abends sitze ich zur Eröffnung des Internationalen polip Literaturfestivals 2013 in dem kleinen gut besuchten Saal, der mit dunklen Stoffen an den Wänden verkleidet ist. Jeton Neziraj und Saša Ilić stehen auf der leicht erhöhten Bühne und führen mit viel Witz und Humor durch das Programm. Als erstes liest die israelische Lyrikerin Tal Nitzán, dann, kurze Zeit später Tomislav Marković aus Belgrad, einer der Herausgeber der Zeitschrift BETON in Belgrad. Atmo Erster Festivalabend polip Vorstellung von Tomislav Marković O-Ton: Gedicht von Tomislav Marković (serbisch) 17 18 Rezitator nichts ist passiert nichts ist geschehen geschehen ist nichts unser Gewissen ist rein jedes Komma ein Oberschenkelknochen jeder Punkt – ein Totenschädel jeder Satz – ein Massengrab mit euch kann man ja gar nicht reden über verfaulte Leichname spricht man nicht beim Abendessen das ist schlicht geschmacklos das Bier ist im Glas das Hirn macht blau die Nöte der Welt gehn mir am Arsch vorbei in der Kalbsuppe schwimmen Stücke von Menschenfleisch der gebratene Schweinskopf schaut mich mit Kinderaugen an die Radieschen sind ausgeschnittene rosa Finger und eure Leichenworte drehen mir den Magen im Grab um das Ticket ist bezahlt der Fußballfan verprügelt in aller Ruhe schau ich Tennis alles geht mir am Arsch vorbei Ausklang Applaus Erzähler Saša Ilić und Jeton Neziraj, die beiden streitbaren Autoren, bezahlten nach ihrem ersten gemeinsamen polip Festival 2011 einen hohen Preis für ihren kulturellen Austausch. Jeton Neziraj wurde als Künstlerischer Leiter des Nationaltheaters nicht wiedergewählt. Und fast gleichzeitig wurde Saša Ilić in der Nationalbibliothek in 18 19 Belgrad vom Lektor zum Korrektor degradiert. Er musste seinen Arbeitsplatz im 2. Stock räumen und wurde in einen Kellerraum »hinter Drahtkäfigen, in denen Zeitungsbündel, Bücherpakete und Schubkarren mit Müllsäcken gelagert werden« verbannt. Musik Album: The Brass Instruments of Goumenissa „Ederlezi“ Erzähler In den neugegründeten Nachfolgestaaten Jugoslawiens entstanden seit 2010 in mehreren Städten »Writer in Residence« Programme. Das erste gab es in Split in Kroatien, eine Initiative der deutsch-kroatischen Schriftstellerin und Übersetzerin Alida Bremer. Und der erste Stipendiat war - ganz im Sinne eines versöhnenden Austauschs ein serbischer Autor aus Belgrad. Das war, jedenfalls anfangs, ein Politikum und bedurfte viel Überzeugungskraft. Musik Ende O-Ton Alida Bremer: Und irgendwann, wir haben es selber schon nicht mehr geglaubt, hat die Stadt eine Wohnung zur Verfügung gestellt. Eine sehr schöne Wohnung in der Altstadt. Also wir vergeben auch natürlich Geld, also dieser Schriftsteller kann sorglos leben in einem Monat bei uns. Und vor Ort werden Lesungen für Autoren organisiert und Interviews immer für lokale Zeitungen, lokales Fernsehen. Und die Öffentlichkeit ist auch sehr, sehr interessiert – wie ist dieser Gast, was hat er zu erzählen über sein Land. Und die serbischen Autoren hatten mehr Ängste als alle anderen, nach Kroatien zu kommen. Als so ein Autor sieht, dass er sehr warmherzig empfangen wird überall, dann lockert sich das auf. Und meist macht man dann ziemlich grobe Witze, um den aufzulockern. »Oh, Leute, alle weg, ein Serbe kommt!«, Und als erste Begrüßung »Wo ist deine Waffe?« und dann, klar, dann weiß man, dass man eigentlich durch Witze diese Hemmungen zerschlagen möchte. Erzähler Dieser kroatischen Initiative in Split folgten »Writer in Residence« Programme in Sarajewo, in Belgrad und Tirana in Albanien. Und auch Jeton Neziraj schaffte es 19 20 2013 zum ersten Mal mit seinem Centrum Multimedia einen Schriftsteller nach Priština einzuladen. O-Ton Jeton Neziraj: Übersetzer Es ist nicht leicht. Es gibt sehr wenig Kontakt zwischen Albanern und Serben, auch hier innerhalb von Kosovo, obwohl die serbische Sprache eigentlich eine der offiziellen Landessprachen ist. Erzähler Auf dem polip Festival im selben Jahr wurde in einem Vortrag beklagt, dass es keine gemeinsame Sprache mehr zwischen den Balkan-Ländern gäbe, nachdem das Serbokroatische den einzelnen Landessprachen weichen musste. O-Ton Jeton Neziraj: Übersetzer Ich weiß, dass die Universität Priština einen Lehrstuhl für Serbisch einrichten wollte. Aber das ist dann deshalb nicht gelungen, weil es keine Interessenten dafür gab. Und der große Unterschied zwischen dem Albanischen und dem Serbischen erschwert ja das Lernen der anderen Sprache. Es gibt keine Gemeinsamkeiten wie beim Serbischen und Bosnischen, auf die man dann aufbauen könnte. Erzähler Auch Jeton Neziraj und Saša Ilić führten ihren Briefwechsel in ihrer jeweiligen Muttersprache: Albanisch und Serbisch. O-Ton Jeton Neziraj: Übersetzer Ich schreibe auf Albanisch und er antwortet mir auf Serbisch. Der Unterschied war, wenn ich einen Brief von ihm bekam, dann habe ich ihn sofort gelesen und verstanden. Er musste allerdings auf die Übersetzung warten. Er hat zwar immer gesagt, dass ihm meine Briefe gefallen haben. Aber ich habe ihm trotzdem jedes Mal gesagt, wenn ihm etwas missfiele, dann läge es nicht an mir, sondern an dem Übersetzer. Ich beherrsche diese Sprache nicht so gut. Außerhalb der Briefe, wenn 20 21 wir über E-Mail miteinander kommunizieren, machen wir das auf Serbisch. Natürlich lachen die dann über meinen serbischen Stil des Schreibens. O-Ton Saša Ilić: Übersetzer Die gemeinsame Sprache wurde in den 90er-Jahren zerstört. Sie besteht nur noch fragmentarisch. Ältere Leute im Kosovo sprechen natürlich noch serbisch. Jeton hat auch noch Serbisch in der Schule gelernt. Aber die jüngere Generation versteht kein Serbisch mehr. O-Ton Jeton Neziraj: Übersetzer Aufgrund der Tatsache, dass wir damals in der Schule Serbokroatisch lernen mussten, hatten wir den Vorteil gegenüber den Serben, die kein Albanisch sprachen, dass wir mehr über die Serben wussten, und auch über die anderen Teilrepubliken. Aber das hat sich dann nach dem Krieg geändert, seitdem hier nicht mehr Serbisch gelehrt wird. Die Jugendlichen von Kosovo kommunizieren mit den Jugendlichen aus Serbien jetzt in englischer Sprache. Musikakzent „Slow quartet“ Erzähler Saša Ilić gibt die Schriften des serbischen Politikers und Schriftstellers Zoran Đinđić heraus. Đinđić war serbischer Ministerpräsident von 2001–2003 und Vorsitzender der Demokratischen Partei. Er hatte versucht, seinem Land eine westliche Orientierung zu geben und kämpfte sowohl gegen die ehemaligen Kommunisten als auch gegen die Nationalisten in Serbien. 2003 wurde er von einem Scharfschützen ermordet. O-Ton Saša Ilić Übersetzer Das war ein Wendepunkt in der Geschichte Serbiens. Nach der Regierung von Slobodan Milošević, in den drei Jahren der Regierung von Zoran Đinđić, kam es in Serbien zu einem Wandel. Und wenn Serbien überhaupt irgendwann der EU beitreten sollte, dann wird es wegen dieses Wandels sein. Seit 2014 lautet die 21 22 offizielle Propaganda der Partei des neuen Ministerpräsidenten Aleksandar Vučić, er sei der neue Đinđić. Aber das hat mit der Wahrheit nichts zu tun. Im Moment gibt es keine politische Figur, die dieses Format hätte. Solche Leute wie Vučić machen mir Angst. Nach außen propagieren sie den Wandel, aber in ihrer praktischen Politik sind sie gegen den Wandel und verhindern ihn. Das halte ich für sehr gefährlich. Erzähler Was würde Saša Ilić in Serbien verändern, wenn er die Möglichkeit dazu hätte. O-Ton Saša Ilić: Übersetzer Ich würde eine gründliche Reform des Bildungswesens in Serbien durchführen. Ich garantiere, in zehn Jahren hätten wir auf diese Weise eine veränderte Gesellschaft. Das Bildungssystem müsste von den alten nationalistischen Inhalten befreit und ein modernes multi-disziplinäres Bildungssystem eingeführt werden. Erzähler Im vergangenen Jahr, an einem sonnigen Oktobersonntag in der belebten Einkaufsstraße von Belgrad: plötzlich werden die Spaziergänger von martialischen Rufen aufgeschreckt. Eine Demonstration mit Uniformierten, Junge und Alte, auch junge Frauen dabei. In der ersten Reihe ein großes Plakat: »Kosovo ist Serbien«. Es waren nicht sehr viele Demonstranten, vielleicht 200. Muss sich der jüngste europäische Staat auf dem Balkan, Kosovo, noch immer bedroht fühlen? O-Ton Jeton Neziraj Übersetzer Es ist so wie wenn ein Kind stürzt, und man hofft, dass es nicht weinen wird. Man wartet, das Kind weint anfangs auch nicht, aber nach einer gewissen Zeit, weint es doch. Es ist das verspätete Klagelied einiger Serben in Bezug auf Kosovo. Ich bleibe weiterhin optimistisch, sehe kein Potential für einen neuen Krieg. Ich war auch immer optimistisch in Sachen kulturelle Zusammenarbeit zwischen Serben, Albanern und Kosovaren. Und am Ende war das ja auch erfolgreich. So bin ich auch Optimist, dass diese Region eine gute europäische Zukunft vor sich hat. 22 23 Musik Taraf de Haïdouks „Dance of the Firemen“ Absage: »Wir sind Profis für Versöhnung und Verständigung« Schriftsteller auf dem Balkan Ein Feature von Volker Dittrich Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2016. Es sprachen: Hüseyin Michael Cirpici, Matthias Haase, Jochen Kolenda, Gregor Höppner, Jochen Langner und Anja Jazeschann Ton und Technik: Gunther Rose und Angelika Brochhaus Regie: Wolfgang Rindfleisch Redaktion: Hermann Theißen Musik Ende 23
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