Kulturunterschiede in Erziehung und

KULTURUNTERSCHIEDE
IN
ERZIEHUNG UND BINDUNG
DR. FATMA ÇELIK
Vortrag auf der Fachtagung zum Thema Bindung und Sucht
(-Prävention)
Kreis Lippe, 10. November 2015
SOZIALISATIONSDOMÄNEN
(GRUSEC & DAVIDOV, 2010)
Schutz / Fürsorge
Reziprozität
Kontrolle
Angeleitetes Lernen
Gruppenzugehörigkeit
Konfliktthema
Inhalt
Alter
1
Urvertrauen vs.
Urmisstrauen
Sammeln von Erfahrungen über
Verlässlichkeit von Bezugspersonen
1.
Lj.
2
Autonomie vs.
Scham und
Selbstzweifel
Entwicklung der Überzeugung über
Selbstwirksamkeit
2.-3.
Lj.
3
Initiative vs.
Schuldgefühle
Entwicklung der Anfänge des
Gewissens
3.-6.
Lj.
4
Werksinn vs.
Minderwertigkeitsgefühl
Entwicklung von Selbstvertrauen
(z.B. im schulischen Kontext)
6. Lj.
Pub.
5
Identität vs.
Identitätsdiffusion
Entwicklung von Vorstellung über
eigene Individualität
Juge
nd
6
Intimität vs.
Isolation
Aufbau einer intimen Beziehung
7
Generativität vs.
Stagnation
…..
8
Ich-Integrität vs.
Verzweiflung
….
KULTUR ALS BEDEUTUNGSKONTEXT
Erziehung
Bindung
(Sozialisation von
sozialen,
(Kind hat eine
emotionalen,
Bindung an die
kognitiven
Bindungsperson)
Bindung Fähigkeiten und
Fertigkeiten
KULTURUNTERSCHIEDE
Kollektivismus vs. Individualismus
Werte- / Normensystem
Besonderheit: Migration
Enkulturations- / Akkulturationsprozesse
Konfundierung: Sozioökonomische Unterschiede,
Bildungsunterschiede
ERZIEHUNGSSTILE
Dimensionen: Wärme und Lenkung
Permissiv (viel Wärme, wenig Lenkung)
Autoritativ (viel Wärme, viel Lenkung)
Autoritär (keine Wärme, viel Lenkung)
Vernachlässigend (keine Wärme, keine Lenkung)
IST ERZIEHUNG EIN
UNIDIREKTIONALER
PROZESS?
…Welche vermittelnden Prozesse gibt es?
EINFLUSSFAKTOREN
Partnerschaftlicher Konsens
Stress
Emotionsregulation
Geschlecht
Alter
Generationsunterschiede
….Kultur
KULTURUNTERSCHIEDE
Monitoringeffekte abhängig von Alter des Kindes
und Umfeld
Studie Dix et al. (1991): Afroamerikanische
Kinder profitieren von „strengerer“, autoritärer
Erziehung vor allem Jungen
Nonlineare Effekte (Deater-Deckard et al., 1997)
Erfassung von elterlicher Unterstützung (Liebe)?
Kulturelle Fairness McNeely et al. (2010)
Emotionale, materielle (moralisch-anleitende)
Unterstützung
Signifikanter Unterschied: Zugang zu Bildung
KULTURUNTERSCHIEDE: MIGRATION
Studie Yaman et al. (2010)
Mütter mit türkischem Migrationshintergrund in
den Niederlanden; 2. Generation (tM)
Vergleich mit Müttern ohne
Migrationshintergrund (oM)
AV: Feinfühligkeit, Anleitungsverhalten,
Erziehungsstil
Unterstützung: oM > tM
Intrusives Verhalten: oM < tM
Klarheit der Instruktionen: oM > tM
Autoritative Erziehung: oM > tM
Autoritäre Erziehung: keine Unterschiede
KULTURUNTERSCHIEDE: MIGRATION
Keine geschlechtsspezifischen Unterschiede
Verwendung von mehr türkischer Sprache
(Muttersprache) hängt mit höherer
Feinfühligkeit und Unterstützung zusammen
Zugehörigkeitsgefühl zu niederländischer Kultur
hängt mit mehr autoritativer Kontrolle
zusammen
Altersunterschied + Bildungsunterschied
zwischen den Müttern (Ergebnisse adjustiert)
Culture-fair? Aufgabenstellung: Puzzle
Tradierung von Erziehung
Alterseffekte?
WAS IST BINDUNG? –
EVOLUTIONSBIOLOGISCHE GRUNDLAGEN
Evolutionär basiertes emotionales Band des
Kindes an eine (oder mehrere) Bindungspersonen
Wird aktiviert bei NEGATIVEN Emotionen,
folglich auch nur dann beobachtbar
Schutz vor Bedrohung, soziale Regulation bei
negativen Emotionen
WAS IST BINDUNG?
Schutz – vs.
Risikofaktor
Emotionsregulationsmuster
Aktiviert bei
negativen
Emotionen!!
Selektives
emotionales Band zur
Bindungsperson
(nicht austauschbar)
NORMATIVE BINDUNGSENTWICKLUNG
(BOWLBY, 1969)
1. Vorbindungsphase (0-3 Monate)
2. Aufbau selektiver Bindungen (3-6 Monate)
3. Tatsächliche selektive Bindung (6 Monate bis 3
Jahre)
4. ziel-korrigierte Partnerschaft (ab ca. 4 Jahren)
DIFFERENZIELLE ENTWICKLUNG VON
BINDUNG IM KLEINDKINDALTER
Muster der Bindungsorganisation
sicher
Ausdruck
emotionaler
Betroffenheit
-----------------Nähesuchen
-----------------Rasche
Beruhigung und
Exploration
Zusätzliches
Muster
Unsichervermeidend
Unsicherambivalent
Desorganisiert/
desorientiert
Kaum Ausdruck
negativer
Emotion
-----------------------Nähe und
Kontakt
vermeiden
-----------------------Aufmerksamkeit
auf Exploration
gerichtet
starke emotionale
Betroffenheit
-----------------------Mischung aus
Nähesuchen und
ärgerlichem
Kontaktwidersta
nd
------------------------Passivität
------------------------Kaum
Beruhigung
Bizarre
Verhaltensweisen
---------------------Widersprechende
Bindungsverhalte
nsstrategien
DIFFERENZIELLE ENTWICKLUNG VON
BINDUNG IM SCHULALTER
Muster der Bindungsorganisation
sicher
Unsichervermeidend
Rasche Kontaktaufnahme zu
Bezugsperson
Kommunikation
------------------------Entspannter
Dialog
Vermeiden der
Kontaktaufnahme
-----------------------Ignorieren
elterlicher
Kommunikationsinitiativen
Unsicherambivalent
Zusätzliches
Muster
Desorganisiert/
desorientiert
Übertriebener
Kontrollierend:
Emotionsa) Kind gibt
ausdruck
Bezugsperson
------------------------Anweisungen
Unreifes, passives b) Kind kümmert
Verhalten
sich über------------------------fürsorglich um
Zurückweisung
Mutter
der Bezugsperson
EINFLUSSFAKTOREN
Mütterliche Feinfühligkeit
Väterliche Spielfeinfühligkeit
Bindungsrepräsentation der Eltern
Temperamentsunterschiede
BINDUNG ALS KONTINUUM
Feinfühli
gkeit u.a.
Zurückw
eisung/
Inkonsist
enz
Ängstige
nd/Verän
gstigt
Deprivation
Sicheres
Bindungs
-muster
Unsichere
Bindungsmuster
Desorgani
-sation
Bindungsstörungen
Biologische Dispositionen
KULTURUNTERSCHIEDE IN BINDUNG
Erwachsene (AAI; caucasian, american mothers)
58% sicher-autonom, 23% unsicher-distanziert,
19% unsicher-verwickelt
Mehr ambivalente Kinder (FST) innerhalb der
unsicheren Kategorie (Afrika, Indonesien, Israel,
Japan)
Mehr ambivalenter Bindungsstil in
kollektivistischen Kulturen (Fragebogen)
Einflussfaktor: SES
Differenzielle Effekte von Gefährdungslagen
KULTURUNTERSCHIEDE IN BINDUNG
Effekte von Erziehungsstilen
Autoritative Erziehung sichere Bindung
Sichere Bindung Autoritative Erziehung
Kulturunterschiede FST:
Nähesuchen, Aufrechterhalten von
Körperkontakt (amerikanische, schwedische und
israelische Kibbutz-Kinder)
KULTURELLE UNTERSCHIEDE
Emotionsausdruck
Geschlechtsunterschiede biologische und
soziologische Faktoren (Rollenmodell der
jeweiligen Kultur)
Sichere Bindung kulturübergreifend;
Unterschiede in Verteilung unsicherer Bindung
BINDUNG ALS EMOTIONSREGULATIONSMUSTER
KULTURUNTERSCHIEDE
Emotionsregulationsstrategien: adaptiv, soziale
Unterstützung, Vermeidung, Dysregulation,
Blockade
Unterschiede Deutsche / Israelis
Unterschiede Deutsche / türkische Migranten
EXKURS?
GEFÄHRDUNGSLAGEN
….für die Bindungsentwicklung
…AKTUELLE ENTWICKLUNGEN
Traumatisierungen bei Flüchtlingen..
KINDESMISSHANDLUNG:
PSYCHOLOGISCHE DEFINITION
Kindesmisshandlung ist eine nicht-zufällige,
gewaltsame psychische und/oder physische
Beeinträchtigung des Kindes durch
Eltern/Erziehungsberechtigte oder Dritte, die das
Kind schädigt, verletzt, in seiner Entwicklung
hemmt oder zu Tode bringt (Blum-Maurice et al.,
2000)
DEFINITION
Körperliche Misshandlung
Sexueller Missbrauch
Vernachlässigung
Seelische Misshandlung
Erleben von Partnergewalt
Erleben von Gewalt / Krieg
KOMORBIDITÄT
Prävalenzraten
(EMOTIONALE) VERNACHLÄSSIGUNG
Andauernde und wiederholte Unterlassung von
fürsorglichem Handeln sorgeverantwortlicher
Personen, welches zur Sicherstellung der
physischen und psychischen Versorgung des
Kindes notwendig wäre. Diese Unterlassung
kann aktiv oder passiv sein (unbewusst),
aufgrund unzureichender Einsicht oder
unzureichenden Wissens erfolgen“ (Schone et al.)
Diagnostische Kriterien
Reaktive Bindungsstörung (F.94.1, ICD-10)
Anhaltendes abnormes Beziehungsmuster zu
Betreuungsperson (Onset Alter < 5 Jahren)
Widersprüchliche, ambivalente soziale
Reaktionen bei Trennung/Wiedersehen (diffus,
unvorhersehbar)
Ängstlichkeit gegenüber Erwachsenen
Kontaktrückzug
Überwachsamkeit (Hypervigilance)
Emotionale Störung
(Mangel an Ansprechbarkeit; Apathie;
Unglücklich/Untröstlich)
Gedeihstörung
Differentialdiagnose: Autismus-SpektrumStörung
Diagnostische Kriterien
Bindungsstörung mit Enthemmung
(F.94.2, ICD-10)
Multiple oberflächliche Beziehungen
Mangelnde Selektivität gegenüber
Bezugspersonen
Onset Alter < 5 Jahre
Kleinkindalter: anklammernd, diffus (bis 4
Jahre)
Ab 4 Jahre: undifferenziert,
aufmerksamkeitssuchendes freundliches
Verhalten
Schwierigkeiten beim Aufbau von engen
Vertrauensbeziehungen (auch mit
Gleichaltrigen)
Ggf. emotionale/soziale Störungen
[kein social referencing]
Differentialdiagnose: ADHS
WIEDERHOLTE VERHALTENSBEOBACHTUNG
MIT UND OHNE BETREUUNGSPERSON
Verhaltensmerkmale:
Ausdruck von Affekt und Nähe
Ausmaß an Kooperation
Unfähigkeit, sich bei Bezugsperson Hilfe zu
holen
Ausgeprägte Abhängigkeit und Anklammern
Offene Furcht oder Besorgnis gegenüber
Betreuungsperson
Unvermögen, die Bezugsperson als sichere Basis
zur Exploration (Erkundung) zu nutzen
IMPLIKATIONEN FÜR DIE PRAXIS
FRÜHZEITIGE INTERVENTION: BINDUNG
UND ERZIEHUNG
Elternbezogen
Kindbezogen
Praktische und kontinuierliche
Unterstützung im Alltag
Maßnahmen zur Förderung der
Sozialkompetenz
Training elterlicher Kompetenz
(Feinfühligkeit;
Erziehungspraktiken)
Sensibilisierung für eigene und
andere Gefühle (Empathie)
Paarberatung bei
Beziehungsproblemen
Erhöhung des Selbstwertgefühls
Aktivierung sozialer , finanzieller STABILITÄT
Ressourcen
EIGENE BINDUNGSGESCHICHTE:
AUFGABE
Bitte notieren Sie sich 5 Adjektive, die die
Beziehung zu Ihrer Mutter / Ihrem Vater in Ihrer
Kindheit (bis 12 Jahre beschreiben)
Denken Sie an eine Situation, in der Sie sich
verletzt/traurig gefühlt haben und notieren Sie
diese.
BINDUNG IM ERWACHSENENALTER
Bindungsverhalten vs. Bindungsprepräsentation
Bindungsmuster:
Sicher-Autonom
Unsicher-Distanziert
Unsicher-Verwickelt
Ungelöstes Trauma
Wichtig im Kontakt mit Klienten
FAZIT FACHTAGUNG
Kultur als Kontext verstehen, der konkretes
Verhalten (und Bewertung dessen) formt
Universelle und Differenzielle Sichtweise auf
Erziehung und Bindung
Konfundierende Variablen (z.B. SES)
…WEITERFÜHRENDE LITERATUR
Zimmermann, P., Iwanski, A., Çelik, F. &
Neumann, A. (2013). Erziehung und emotionale
Entwicklung (S.118-126). In S. Andresen, C.
Hunner-Kreisel & S. Fried (Hrsg.), Erziehung.
Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart:
Metzler.
Zimmermann, P., Çelik, F. & Iwanski, A. (2013).
Bindung, Erziehung und Bildung:
Entwicklungsgrundlagen des Kompetenzaufbaus
(S.407-422). In M. Stamm & D. Edelmann
(Hrsg.), Handbuch frühkindlicher
Bildungsforschung. Wiesbaden: Springer VS.
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Dr. Fatma Çelik
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