MEDIZIN | GESELLSCHAF T | RECHT Swiss Aids News 2 | Mai 2015 Zurück in die Zukunft 30 Jahre Aids-Hilfe Schweiz IMPRESSUM IMPRESSUM Herausgeber Aids-Hilfe Schweiz (AHS) Bundesamt für Gesundheit BAG Redaktion Brigitta Javurek (jak), Journalistin BR, Chefredaktion Dr. jur. LL. M. Caroline Suter (cs) MLaw Julia Hug (jh) Dr. Andrea Six, Wissenschaftsjournalistin (six) Lic. phil. Stephané Praz (sp), Wissenschaftsjournalist Roger Staub, Leiter Nationales Programm HIV und andere STI, BAG Bildredaktion Mary Manser Gestaltung Ritz & Häfliger, Visuelle Kommunikation, Basel SAN Nr. 2, Mai 2015 © Aids-Hilfe Schweiz, Zürich Die SAN erscheinen dreimonatlich in einer Auflage von 5600 Exemplaren mit der Unterstützung von: Bundesamt für Gesundheit, Bern Boehringer Ingelheim (Schweiz) AG Bristol-Myers Squibb SA Janssen-Cilag AG Die industriellen Partner der Swiss Aids News nehmen keinen Einfluss auf deren Inhalt. Abo-Service Redaktion Swiss Aids News Aids-Hilfe Schweiz Postfach 1118, 8031 Zürich Tel. 044 447 11 11 [email protected], www.aids.ch MEDIZIN | GESELL SCHAF T | RECHT Swiss Aids News 2 | M A I 2015 Zurück in die Zukunft 30 Jahre Aids-Hilfe Schweiz Illustration Daniel Müller, illumueller.ch Alle Bilder «Wir sind Aids-Hilfe Schweiz»: Mary Manser 2 Swiss Aids News 2 | Mai 2015 Inhalt Editorial 3 Präsident der Aids-Hilfe Schweiz, Martin Klöti Gesellschaft 4 30 Jahre Aids-Hilfe Schweiz – ein Erfolg 8 Gib Gummi – Präservative in Hollywood 12 Porträt: «Kranke brauchen medizinische Hilfe, aber auch Nähe» 14 Porträt: «Man müsste hinstehen und sein Gesicht zeigen» 16 Porträt: «Das Positive im Schweren sehen» 20 «Einige Freier haben keine Ahnung von Safer Sex» Sammelsurium 11 «Keine Tussi», «... und das Leben geht weiter», «Spazieren ist das neue Yoga» Medizin 18 Alles, was Sie schon immer über HIV wissen wollten 22 Altern ohne Risiko? Jein Recht 25 «Mit den Mitteln des Rechts Vorurteile bekämpfen», Kurt Pärli im Gespräch 27 Forum Recht: Sie fragen – wir antworten EDITORIAL Liebe Leserin Lieber Leser © KEYSTONE/Gian Ehrenzeller Können Sie sich noch daran erinnern, was Sie vor 30 Jahren gemacht haben? «Heute, 30 Jahre später, hat sich vieles zum Guten gewendet. Anstelle von Sterben an Aids ist Leben mit HIV getreten.» Auf dem Plattenteller lief möglicherweise Tina Turners «Private Dancer», in der Zeitung lasen Sie von einem Computer namens Amiga 1000, das Radio vermeldete den Sieg des Jünglings Boris Becker in Wimbledon und Sie träumten davon, wenigstens einmal mit dem schnellsten damaligen Serienfahrzeug, dem Porsche 959, eine Spritztour zu unternehmen. So oder ähnlich könnte es gewesen sein. Ich lebte 1985 mit meinem Lebenspartner in Mogelsberg und arbeitete als Lehrer und Landwirt. Gut möglich, dass Sie am 3. Juli 1985 für die Sendung «Menschen, Technik, Wissenschaften» vor dem Bildschirm sassen und dem äussert beliebten und bekannten Moderator André Ratti atemlos folgten, als dieser sagte: «Ich heisse André Ratti, ich bin 50, homosexuell, und ich habe Aids.» Diese Nachricht floss innert Kürze durch sämtliche Informationskanäle und liess niemanden kalt. Aids, die «Schwulenseuche», hatte schlagartig ein Gesicht und konnte nicht mehr verdrängt werden. Die Stellungnahme Rattis trug massgeblich dazu bei, dass die Schweiz eine Vorreiterrolle im Umgang mit Aids übernahm und die Diskriminierung von an Aids erkrankten Menschen weniger stark als in anderen Ländern war. Auch die Aids-Hilfe Schweiz, deren erster Präsident Ratti war, sowie die gemeinsamen Plakatkampagnen des Bundesamtes für Gesundheit BAG waren künftig untrennbar mit Aids, Solidarität und Prävention verbunden. Heute, 30 Jahre später, hat sich vieles zum Guten gewendet. Anstelle von Sterben an Aids ist Leben mit HIV getreten. Die einst tödliche Krankheit ist heute behandelbar, wenn auch nicht heilbar, und die Mehrzahl der Menschen, die HIV-positiv sind, leben mit uns: sie arbeiten, lieben, lachen, zahlen Steuern. Aber, und es gibt ein Aber, aller Aufklärung zum Trotz geistern noch immer Vorurteile und Ablehnung HIV-positiver Menschen durch die Gesellschaft. Wer sich am Arbeitsplatz, in der Familie, unter Freunden, in der Community outet, muss mit Ausgrenzung und Unbelehrbarkeit rechnen. Noch gibt es viel zu tun, bis die Angst und die Scham vor sexuell übertragbaren Krankheiten, nicht nur HIV/Aids, überwunden sind. In diesem Sinne gedenken wir André Ratti und allen Menschen, die in den letzten 30 Jahren an Aids starben, und arbeiten an einer Zukunft, die mit sexuellen Krankheiten lebt, ohne moralischen Zeigefinger und Diskriminierung. Martin Klöti Präsident der Aids-Hilfe Schweiz Swiss Aids News 2 | Mai 2015 3 G E S E L L S C H A F T 30 Jahre Aids-Hilfe Schweiz – ein Erfolg Weitere Bilder, Filme und Informationen zum 30-Jahre-Jubiläum: aids.ch/30-jahre 4 Swiss Aids News 2 | Mai 2015 dem Verein Schweizer Drogenfachleute VSD im «Au Premier» im Zürich HB zu gründen. So erhielt die Schweiz als eines der letzten Länder Westeuropas eine nationale Aidsorganisation. Die Paten: Fidel C., Bertino S. und André R. Ich habe 1982 mein Studium als Sekundarlehrer mathematisch-naturwissenschaftlicher Richtung abgeschlossen, fand wegen des Lehrerüberflusses keine Stelle, konnte mich aber mit Vertretungen über Wasser halten. Die Zeit zwischen solchen Einsätzen nutzte ich für Reisen und Sprachaufenthalte. Im Herbst 1983 war ich mit der Brigade «José Martí» einen Monat in Kuba und habe mich daselbst mit einer Ärztin aus (West-)Berlin angefreundet, sie im November 1984 besucht und dabei die Schwulenszene Berlins erkundet. Aids war in dieser Zeit wieder über Wochen Titelthema im «Spiegel» und auch Thema am Esstisch der Berliner Gross-WG der Ärztin. Sie bot mir an, einen Test auf das aids-verursachende Virus, das damals noch HTLV3/LAV hiess, zu machen, nahm am Küchentisch Blut und schickte es in die USA. Das Resultat würde ich in einigen Wochen telefonisch erfahren ... Ohne kubanische Revolution wäre ich bei der Gründung der AHS wohl nicht dabei gewesen. © HAZ / Schweizerisches Sozialarchiv Roger Staub Mitbegründer der Aids-Hilfe Schweiz Leiter Nationales Programm HIV und andere STI 2011–17 Bundesamt für Gesundheit BAG Doch der Reihe nach: Am 18. März 1985 trafen sich Vertreter von verschiedenen lokalen Schwulengruppen, weil die Aidsgruppe der HAZ eine Safer-Sex-Broschüre für Schwule nach kalifornischer Vorlage für die ganze Schweiz herstellen wollte. Der Enthusiasmus der Delegierten war ungleich verteilt, viel Skepsis war zu spüren. Aber einer redete Klartext: Herbert Riedener († 1994), Präsident der Loge70. «Wer nicht mitmachen will, kann jetzt gehen. Die Loge70 ist dabei. Wir fangen gleich mit der Arbeit an.» Für die Schweizerische Organisation der Homophilen SOH blieb Marcel Ulmann im Raum, für die HAZ Roger Staub. Die drei «Gründerväter» der Aids-Hilfe Schweiz AHS konnten verschiedener nicht sein: Marcel verkörperte den homosexuellen Mann der vergangenen «Kreis-Zeit» und vertrat die Männer, die vom Sex mit einem Mann eher träumen. Roger sprach für die HAZ, die eher linke Emanzipationsbewegung und für Männer, die viel über Sex mit Männern diskutieren. Und Herbert vertrat die Ledermänner, die Sex mit Männern einfach hatten, leben. Weil sich mit den drei Männern drei Welten der Schwulen trafen und kooperierten, schaffte es die Dreiergruppe, die AHS am 2. Juni 1985 mit 14 Schwulenorganisationen der Schweiz plus © Blick © Andreas Lehner Die Initiative zur Gründung der Aids-Hilfe Schweiz (AHS) 1985 im Zürcher Hauptbahnhof ging von drei sehr unterschiedlichen schwulen Männern aus. Dabei standen drei berühmte Männer Pate: Fidel Castro, Bertino Somaini und André Ratti. Dank und mit der AHS hat sich die Schweiz für die Lern- statt Seuchenstrategie zur Bekämpfung von Aids entschieden und hatte den Mut, die Bevölkerung in Bezug aufs Küssen zu beruhigen und 20 Jahre später festzuhalten, dass HIV-Infizierte unter Therapie nicht infektiös sind. Roger Staub am Beratungstelefon der AHS Erste Safer-Sex-Broschüre der HAZ Homosexuelle Arbeitsgruppen Zürich und SOH Schweizerische Organisation der Homophilen, 1985 Im Frühling 1985 stand dann Bertino Somaini, damals Sektionschef im Bundesamt für Gesundheit BAG, Pate: Wir Gründerväter, also Herbert, Marcel und ich, hatten einen Termin im BAG und Dr. Somaini erklärte uns, dass für Aufklärungsmassnahmen schon Geld vom Bund zu haben wäre, dass er aber keine Lust habe, mit jeder Schwulengruppe aus jeder Stadt einzeln zusammenzuarbeiten. Wir sollten uns gefälligst zusammentun und EINE Organisation gründen. Gehört – getan. Kaum war die Gründung am 2. Juni erfolgt, rief mich eines Abends André Ratti zu Hause an: «Do isch Ratti – MTW – ich han Aids und will öppis tue!» Ohne zu überlegen, sagte ich ihm: «Werden Sie Präsident!» Das brauchte einiges an Überzeugungsarbeit, aber dann sagte er zu und wurde an einer Generalversammlung der Aids-Hilfe Schweiz per Telefonkonferenz zum Präsidenten gewählt. Am 2. Juli 1985 lud die AHS zur Pressekonferenz in den Schweizerhof in Bern ein. Die Schlagzeile auf dem «Blick»Aushang des nächsten Tages: «André Ratti (50): Ich habe Aids!» Highlights der Jahre vor ART 1996 «Im Wissen um die Schwierig keit, dauerhafte Verhaltens änderungen zu erreichen, bemühten wir uns von Anfang an um einfache und lebbare Botschaften.» Von der Selbsthilfe zur Professionalisierung Die frühen Jahre der Aids-Hilfe Schweiz waren geprägt von der Auseinandersetzung – insbesondere mit dem Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis VPM und dessen Aidsorganisation «Aids-Aufklärung Schweiz» AAS. AHS und AAS standen sich als Gegenpole in der Debatte um die richtige Strategie der Aidsbekämpfung gegenüber. Doch schliesslich «gewann» die Lernstrategie auf der Grundlage von New Public Health – Wie können Bevölkerung, Gruppen und Individuen den Umgang mit einem potenziell tödlichen Virus lernen und sich selbst schützen? – über die Seuchenstrategie nach den Konzepten von Old Public Health – Wie identifiziert man möglichst viele Träger des Virus und sorgt dafür, dass sie niemanden mehr anstecken? © SRF Auch wenn die AHS «Aids-Hilfe» heisst, stand schon bei der Gründung das Primat der Prävention fest: vor allem neue Ansteckungen verhindern und in zweiter Linie Betroffenen Hilfe anbieten. Im Wissen um die Schwierigkeit, dauerhafte Verhaltensänderungen zu erreichen, bemühten wir uns von Anfang an um einfache und lebbare Botschaften. Und weil der Analverkehr der mit Abstand effizienteste Übertragungsweg für das Virus ist, konzentrierten wir uns auf die Botschaft «Bumsen immer mit Gummi». Und entwickelten so das US-amerikanische Konzept des Safe Sex (Sex OHNE Risiko) zum europäischen Safer Sex (Sex mit weniger Risiko) weiter. Und weil die Schwulen mit Präservativen nicht vertraut waren, schufen wir eine eigene Parisermarke für Schwule, den HOT RUBBER. Im Februar 1987 lancierte die AHS im Auftrag des BAG die STOP AIDS-Kampagne, um die ganze Bevölkerung über den Schutz vor HIV aufzuklären, den Informationsstand zu verbessern und die Solidarität mit den Betroffenen zu fördern. Ein wichtiger Meilenstein dabei war der Mut von BAG und AHS, der Bevölkerung mittels Plakat und TV-Spot zu verkünden, dass es beim Zungenküssen kein Aidsrisiko gibt, obwohl sich diese Aussage wissenschaftlich nicht beweisen liess. Der TV-Journalist André Ratti erklärt: «Ich bin homosexuell und ich habe Aids.» 3. Juli 1985. «Blick», 17. September 1986 Plakat 1986 Swiss Aids News 2 | Mai 2015 5 GESELLSCHAFT «2008 hatte die Schweiz den Mut, öffentlich zu machen, was in Sprechzimmern und Kongressen schon länger hinter vorgehaltener Hand besprochen wurde: Wenn die Therapie wirkt, die Viruslast nicht nachweisbar ist, dann sind HIV-infizierte Menschen nicht infektiös.» Angst vor dem Tod ein wirksamer Helfer bei der Prävention. Denn unter der Todesdrohung wurden viele sexuelle Wünsche verdrängt und nicht gelebt. Und mit der Therapie kamen diese Wünsche zurück. Die Partnerzahlen steigen seither, die Frequenz von Analverkehr ebenso, die Prävention ist sehr viel schwieriger geworden. Auf der «Hilfe-Seite» brach die Nachfrage nach Begleitung, Wohngruppen und Hospizbetten dank ART ein. Diverse Projekte mussten mangels Nachfrage in den letzten 20 Jahren umorientiert oder eingestellt werden. 2008 hatte die Schweiz den Mut, öffentlich zu machen, was in Sprechzimmern und Kongressen schon länger hinter vorgehaltener Hand besprochen wurde: Wenn die Therapie wirkt, die Viruslast nicht nachweisbar ist, dann sind HIV-infizierte Menschen nicht infektiös. Das Swiss Statement, oder EKAF-Statement, wurde weltweit kontrovers diskutiert, hat sich aber in der Zwischenzeit durchgesetzt. Fakt ist, dass die Datenlage für dieses Statement um ein Vielfaches besser war als beim «KüssenStatement» von 1987 ... Mein Fazit: Die Aids-Hilfe Schweiz und die regionalen Aids-Hilfen sind Teil der Schweizerischen Erfolgsgeschichte bei Aids und HIV. Und auch wenn die Zeiten schwieriger geworden sind, braucht es die Aids-Hilfe Schweiz weiterhin, vor allem, wenn sie sich weiter den veränderten Herausforderungen stellt und sich weiter entwickelt. 1984 erkrankten in der Schweiz etwa 20 Schwule an Aids, 1985 über 40, 1986 80 und 1987 fast 100. An diesen Zahlen lässt sich ablesen, dass die Zahl der Hilfesuchenden bei den neu gegründeten AHS in den grossen Städten rasch zunahm. In den Anfangsjahren handelte es sich praktisch überall um Selbsthilfe, später nahm praktisch überall die «Helfer-Hilfe» überhand, indem die regionalen Aids-Hilfen Beratung, Begleitung und Unterstützung professionalisierten. Vor 1996 lebte ein Aidskranker nach der Diagnose im Schnitt noch 2 Jahre und war in dieser Zeit oft krank, obwohl die Behandlung der opportunistischen Infekte schnelle Fortschritte machte. Für aidskranke Schwule und auch für Drogenabhängige, die zu krank waren, um zu Hause zu leben, aber nicht krank genug für Spitalpflege, wurden erste Angebote im Bereich «Wohnen» und «Hospiz» geschaffen, z. B. die Wohngruppe SidAccueil mit SpitexUnterstützung in Genf oder das Hospiz Basel Lighthouse mit eigenem Pflegedienst. Die Zeit des Sterbens an Aids dauerte bis Mitte der 90erJahre, in diesen Jahren wurde das Konzept von palliative Care wegen Aids massgeblich weiterentwickelt – heute eine Selbstverständlichkeit. Highlights seit ART 1996 Seit 1996 gilt ein neues Paradigma in der «Aidsarbeit»: Rechtzeitig und richtig behandelt stirbt man nicht mehr an einer HIV-Infektion. Dank Tritherapie, antiretroviraler Therapie ART, kann das Virus im Körper dauerhaft kontrolliert und die Viruslast im Blut unter die Nachweisgrenze gedrückt werden. Wirklich Good News für alle mit HIV. Für viele andere waren es schwierige News, z. B. für die «Präventiönler»: Solange Aids tödlich war, war die 6 Swiss Aids News 2 | Mai 2015 Roger Staub © Koni Nordmann © cR, Basel © SRF Tagesschau, Charles Clerc, 3. Februar 1987 Happy Birthday, liebe AHS! Plakate der STOP AIDS-Kampagne im Frühling 1987 Langzeitprojekt: «Ich kann nicht mehr leben wie ihr Negativen», Koni Nordmann, 1988 Kampagnenplakate 1991 1992 2003 © Bundesamt für Gesundheit /Aids-Hilfe Schweiz © Bundesamt für Gesundheit /Aids-Hilfe Schweiz Spritzenabgabe am Zürcher Platzspitz, 1990 © Bundesamt für Gesundheit / Aids-Hilfe Schweiz © Keystone / Patrick Aviolat 1998 © Gertrud Vogler / Schweizerisches Sozialarchiv © Bundesamt für Gesundheit /Aids-Hilfe Schweiz Meilenstein 1996: Die antiretrovirale Kombinationstherapie bringt den Durchbruch in der Behandlung mit Aids / HIV STOP AIDS-Kampagne, 1997 Swiss Aids News 2 | Mai 2015 7 GESELLSCHAFT Gib Gummi – Präservative in Hollywood Zeitgleich mit der Ausbreitung von HIV ist ein Wandel in der Kinokultur auszumachen: Es gab immer mehr Filme, in denen Kondome gezeigt wurden. Ausgerechnet aber in Kassenschlagern, die Aids thematisierten, durften Präservative nicht mitspielen. Ist Hollywood zu verklemmt für das Gummi? Eine Zeitreise zum Kondomgebrauch in der Filmgeschichte. © Filmstill: Pretty Woman / Disney Wie harmlos und wie heiter hier im Jahr 1989 mit farbenfrohen Verhütungsmitteln hantiert wird, ist erstaunlich. Die Onlinefilmdatenbank imdb listet eindrücklich auf, dass bis dahin lediglich etwa 2 von Tausenden von Kinofilmen jährlich ein Kondom zeigten. Und es handelt sich in der Tat um einen kleinen magischen Moment der Kinogeschichte – denn nicht nur die Zahl der Kondome in Julia Roberts Hand schwankt mysteriöserweise, sondern auch die Farbe der Polyisopren-, Polyurethan- oder La texhüllen wechselt je nach Kameraeinstellung. Kondome ja, Thema Aids nein Jahr Spielfilme 1969 70 2 0 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 2 0 5 2 1 0 3 3 4 Zahl der Spielfilme, in denen ein Kondom vorkommt 8 Swiss Aids News 2 | Mai 2015 1 4 82 83 84 85 86 1 3 2 2 6 87 9 g E r st e Wel r t aid st a Entd Pati e nt 0 ecku ng H IV E r st er A vorg idste este st Grün llt d u n Aids g -Hi Entd lfe Schw ecku e ng H iz IV -2 Unbekümmert und komödiantisch ging Hollywood also schon vor 26 Jahren mit dem Thema um. Während ein Gefängniswärter 1980 in der US-Musikkomödie «Blues Brothers» ein Kondom nicht mit spitzen Fingern anfassen wollte, sondern lediglich mit einem Kugelschreiber transportierte, hatte das Gummi nun offenbar seinen Weg in die feine Hollywoodgesellschaft gemacht. So konnte auch die Filmfigur Colin Frisell (Kris Marshall) 2003 in der britischen Weihnachtsschnulze «Love Actually» («Tatsächlich … Liebe») voller Vorfreude einen überdimensionalen Rucksack mit Kondomen über den Atlantik nach Amerika transportieren, um dort gleich auf drei spassbereite Bettgenossinnen zu treffen. Der erfolgreiche Weg des Kondoms ins Kino verläuft zeitgleich mit einer anderen Entwicklung: dem Bekanntwerden der Immunschwäche Aids. Auch wenn der statistische Zusammenhang nicht bewiesen ist: Die Zahl der Kinofilme, in denen einen Kondom vorkommt, stieg seit Entdeckung von HIV deutlich an (siehe Grafik). Zappelig schlägt die junge Frau ihre endlosen Beine übereinander. Nur spärlich ist sie von etwas Geschmacklosem bekleidet, das ihr den Anschein einer Kreuzung aus Weisswurst und Blaubeere gibt. Und doch lümmelt hier die Traumfrau einer DER romantischen Komödien der Kinogeschichte auf einem Schreibtisch. Pretty Woman Vivian Ward, aka Julia Roberts, momentan noch als Prostituierte tätig, greift beherzt in ihren Latexstiefel und zaubert einen «Blumenstrauss an Sicherheit» aus dem Schuhwerk. Atemlos buchstabiert sie ihrem Zukünftigen Edward Lewis (Richard Gere) die Farbauswahl an Gummis durch: «Pick one. I got red, I got green, I got yellow. I am out of purple, but I do have one golden circle coin left. The condom of champions. The one and only. Nothing is getting through this sucker.» (Frei übersetzt: «Wähl einen. Ich habe rote, grüne, gelbe, keine lila, dafür einen goldenen, dieser heisse Gummi lässt garantiert nichts durch, der beste und einzige.») 88 89 90 9 7 2 Wie absurd, dass hingegen das Thema Aids erst Jahre später im Blockbuster «Philadelphia» (1993) thematisiert wurde. Während Elizabeth Taylor als Safer-Sex-Matrone die Immunschwäche bereits offen ansprach und die Stars und Sternchen es als grosse Geste empfanden, sich das rote Betroffenheitsschleifchen anzustecken, fand Aids keinen Weg in die Drehbücher für die grossen Stars. 1993: Aids erreicht den Mainstream Zwar hatte 1985 ein Fernsehfilm des amerikanischen Senders NBC «An early Frost» («Ein früher Frost») die neue Seuche und ihre Auswirkungen auf eine Familie erstmals behandelt, doch der Film brachte dem Sender eine halbe Million Dollar Verlust ein, da die Wer- «Auch wenn der statistische Zusam menhang nicht bewiesen ist: Die Zahl der Kinofilme, in denen einen Kondom vorkommt, stieg seit Entdeckung von HIV deutlich an.» bekunden sich bei der Ausstrahlung plötzlich zurückzogen. Und der erste Kinospielfilm über Aids «Longtime Companion» («Freundschaft fürs Leben») war im Jahr 1989 erschienen, um mit einem schmalen Budget von 1,5 Millionen Dollar gerade einmal 4,6 Millionen Dollar einzuspielen. Schliesslich brauchte es doch über 10 Jahre seit der Ausbreitung der Immunschwäche, damit ein starbesetzter Spielfilm wie «Philadelphia» (1993) einen Aidskranken als zentrale Figur enthielt. Die Medien nannten den Film denn auch einen Wendepunkt in der Filmgeschichte, da Hollywood es nun doch endlich geschafft habe, sich an die Krankheit zu wagen. «Aids hat den Mainstream erreicht», kommentierte der «Spiegel». Und die hübsche Verpackung des Gerichtsdramas sollte ja auch für ein verklemmtes und homophobes Publikum geeignet sein. Die Rechnung ging auf: Satte 206 Millionen Dollar brachte der Kassenschlager ein. Nur merkwürdig, dass im Aidsblockbuster kein einziges Kondom zu sehen war. Das wollte man den Zuschauern wohl doch nicht zumuten. Doch halt! Im Vorspann fährt die Kamera an einem Geschäft mit Namen «Condom Nation» vorbei. Eine winzige witzige Geste gegen den staubigen Moralkodex der kalifornischen Filmstadt? Wenig später zeigte das kontroverse Independent-Drama «Kids» (1995) eine Gruppe von Teenagern in New York, die sich mit Sex, Drogen und Skateboards durch einen Tag schlagen. Mit einem kargen Budget spielt der Film denn auch nur 7 Millionen Dollar ein und vereinte dafür aber Aids und Kondome in einem einzigen Drehbuch. So weit so grossartig – nur ein Kassenschlager wurde der Film nicht. Neun Jahre nachdem Tom Hanks und Denzel Washington in «Philadelphia» brilliert hatten, wagten sich schliesslich auch Stars wie Nicole Kidman, Meryl Streep und Julianne Moore an einen Film, dessen berührendste Rolle wohl Ed Harris als aidskranker Künstler spielt («The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit», 2002). Doch auch wie bei «Philadelphia» läuft hier ein Staraufgebot in einem Film mit einem Aidskranken über die Leinwand, aber bitte bloss keine Kondome! 97 Millionen Dollar bringt der oscarprämierte Streifen ein, aber ein Kondom mochte man sich für das Geld nicht gönnen? Das kleine Etwas In der echten Welt hatte sich das Kondom längst zum Allerweltsprodukt emanzipiert. Rund 20 Milliarden Präservative werden mittlerweile jährlich produziert und müssen nicht mehr unter dem Ladentisch durchgereicht werden. Wo etwa der Brite früher noch schamvoll «Das kleine Etwas für das Wochenende» in der Apotheke verlangen musste, kann er heute problemlos im Supermarkt aus dem Sortiment wählen. Untrennbar ist das Kondom mit dem Wir sind: Aids-Hilfe Schweiz Carsten Kwast Shop/Kundendienst Carsten Kwast und sein zweiköpfiges Team sind die nationale Anlaufstelle für Anfragen rund um die Themen HIV/Aids, sexuelle Gesundheit und sexuell übertragbare Krankheiten STI. Sie sind die Garanten dafür, dass die unzähligen Broschüren, Faltblätter, Präventionsmaterialien und Kampagnenplakate immer am Lager und up to date sind. Weiter vertreibt der Shop/Kundendienst Kondome, Solidaritätsartikel und andere Gadgets. Rund 21 Tonnen Material, Tendenz steigend, wurden im Jahr 2014 versandt. Die durchschnittlich 10 Anfragen pro Tag (365 Tage) werden mit grosser Sach- und Sozialkompetenz abgewickelt. In den Sprachen Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch. shop.aids.ch 91 9 92 93 94 95 96 5 11 12 16 24 97 98 99 2000 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 20 31 32 28 27 30 22 23 15 16 26 24 29 28 32 27 38 (Inklusive TV-Serien Quelle: imdb) Swiss Aids News 2 | Mai 2015 9 GESELLSCHAFT Kondome in der Pornoindustrie «Die Lümmeltüte bleibt», schmetterte die Presse, als sich die amerikanische Pornofilmindustrie 2014 erfolglos gegen die Kondompflicht beim Dreh wehrte. Schliesslich muss jeder Angestellte der sogenannten «Adult Film Industry» nach den strengen Sicherheitsvorschriften geschützt werden, um sich während der Arbeit nicht mit Krankheitserregern zu infizieren. Vor Erregern, die über Blut oder andere Körperflüssigkeiten übertragen werden, sollen die Schauspieler unbedingt bewahrt werden. Testergebnisse von medizinischer Bedeutung für den Beruf sind zu deklarieren. Theoretisch. Praktisch tauchen hingegen gehäufte HIV-Infektionen in der Filmindustrie auf, die in Wellen für Aufregung sorgen, wo man sich doch angeblich so gut schützt. Auch Chlamydien, Tripper, Herpes werden gemeldet. Mediziner aus den USA haben denn auch in einer Studie ermittelt, dass in Pornofilmen eine Vielzahl von Sexszenen ohne Schutz gedreht werden. Durch die Auswertung von 100 Filmen aus den Jahren 2005 und 2006 konnten die Forscher zeigen, dass Vaginalverkehr bei heterosexuellen Paaren nur in drei Prozent der Szenen geschützt ablief. Analverkehr unter heterosexuellen Paaren wurde in zehn Prozent der Szenen als Safer Sex praktiziert. Besser schnitten die homosexuellen Partner ab, die in 78 Prozent der Analsexszenen geschützten Verkehr hatten. Oralverkehr verlief hingegen in allen Filmen ungeschützt. Schwulenpornofilme zeigten demnach deutlich häufiger den Gebrauch von Kondomen als Heteropornos. Insgesamt aber werden die Sicherheitsvorschriften für die Darsteller in der Realität kaum angemessen umgesetzt. six. Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten verbunden und enttabuisiert. Doch die Filmindustrie scheut sich, HIV und Kondome auf der Kinoleinwand in Verbindung zu bringen – wo doch das Publikum den Zusammenhang seit Jahren beherzigt. Von dem ersten in der Filmdatenbank verzeichneten Streifen, der damals skandalösen Philip-Roth Verfilmung «Zum Teufel mit der Unschuld» von 1969, und der ersten Kondomwerbung im Fernsehen (1975, USA) bis zu einem der jüngsten Filme, dem US-Erotikfilm «50 Shades of Grey» (2015), scheint das Kondom nun aber immerhin in knapp einem halben Prozent aller Filme weltweit pro Jahr mitzuspielen. Seit die Gebrüder Lumière im Jahr 1895 erste Kurzfilme über Fabrikarbeiter zeigten, war der Kinofilm als historisches Dokument geboren. Nicht mehr nur papierne Akten oder Fotografien dokumentierten den Lauf der Zeit. Auch die laufenden Bilder konnten von nun an Geschichte abbilden. Doch ebenso vermochten Filme seither die öffentliche Aufmerksamkeit auf Themen zu lenken und so den Verlauf der Geschichte zu beeinflussen. Ob das Kondom mit seinem Wandel vom peinlichen Tabu-Objekt zur alltäglichen Supermarktware in unserer Zeit mit einem halben Prozent passend im Film repräsentiert wird, werden wohl dereinst Historiker beurteilen können. six I N S E R AT Gütesiegel: Nur das Beste für mich Seit 1985 wird für Präservative als Schutz vor HIV/Aids geworben, und sehr viele Menschen schützen sich konsequent. Ein passendes Präservativ (mysize.ch), richtig angewendet schützt hervorragend vor einer Ansteckung mit HIV. Dies belegen unzählige Studien. Alle in der Schweiz verkauften Präservative müssen die weltweite Norm erfüllen und tragen deshalb das CE-Zeichen. Es gibt aber auch Präservative, die zusätzlich zum CE-Zeichen ein Gütesiegel haben. Diese Präservative erfüllen weit strengere Auflagen. Dazu kommt, dass jede Produktionseinheit vor dem Verkauf durch ein unabhängiges Labor nach strengen Gütesiegelstandards geprüft werden muss. Verein Gütesiegel für Präservative kauft jährlich Präservative in den Läden und lässt sie prüfen. Seit Einführung des Gütesiegels im Jahr 1990 wurden in der Schweiz ungefähr 500 Millionen Präservative mit Gütesiegel verkauft und etwa 500 000 Stück nachkontrolliert. Dabei wurde nie ein gravierendes Qualitätsproblem aufgedeckt. Es lohnt sich, Präservative mit Gütesiegel zu verwenden. Zum Glück sind in der Schweiz sehr günstige Präservative erhältlich, die qualitativ zu den Besten gehören. BERE 10 Swiss Aids News 2 | Mai 2015 CH UE NI TS SAMMELSURIUM FI L M GESUNDHEIT «Keine Tussi» «... und das Leben geht weiter» «Spazieren ist das neue Yoga» «Meine Eltern nannten das Getue, sie sagten Lass doch das Getue. Sie wunderten sich Warum benimmt Eddy sich wie eine Tussi? Sie sagten Reg dich ab, muss das sein, dieses tuntige Gefuchtel? Sie dachten, es sei meine Entscheidung, dass ich mich so benahm, als wäre das eine Ästhetik, die ich kultivierte, um sie zu ärgern.» Obiges Zitat stammt aus «Das Ende von Eddy», dem autobiografisch gefärbten Roman von Édouard Louis. Das Buch ist eine Wucht. Sprachlich, inhaltlich, formal. Eddy, das Alter Ego des Autors, ist nicht so, wie echte Kerle sein sollten. Schon gar nicht in diesem Dorf in Nordfrankreich, wo der Eddy eben kein Macker, sondern ein bisschen soso ist. Kein schöner Land, wo auch die Frauen Kinder kriegen müssen, um als richtige Frauen zu gelten, ansonsten es heisst, sie seien Lesben oder frigide. Eine harte, wütende, grollende Welt, im Dauerkampf gegen alles, was nicht normiert, tradiert und fremd ist. In dieser Welt behauptet sich Eddy 205 Seiten lang. Mit einer Würde und einer Empfindsamkeit, die einem beim Lesen gefangen nimmt und noch lange nachhallt. jak • Édouard Louis «Das Ende von Eddy» S. Fischer Verlag 978-3-10-002277-6 Amerika in den frühen 80er-Jahren. Präsident Ronald Reagen will den Vereinigten Staaten von Amerika wieder zu Glanz und Gloria verhelfen. Mit höheren Militär- und tieferen Bildungs- und Gesundheitsausgaben. So weit, so schlecht. Denn genau in dieser Zeit sterben meist schwule Männer an einer bislang unbekannten Krankheit. Sie sterben schnell und es werden immer mehr. Was hilft? Wer forscht? Wer sammelt Daten? Haben wir es mit einem Parasiten, einem Bakterium oder einem unbekannten Virus zu tun? Der Film zeigt die medizinischen, sozialen und politischen Aspekte seit Beginn der ersten Krankheitsfälle in den USA. Und er zeigt schonungslos den Wettkampf mit der Zeit und die vergebliche Müh, rasch und effizient zu handeln. Denn trotz engagierter Ärzte, Virologen, Gesundheitspolitiker und Aktivisten versickert die Seuchenbekämpfung in den Untiefen der Gesundheitsbürokratie, der Bigotterie und der Administration Reagen. «... und das Leben geht weiter» (1993) fesselt mit dokumentarischen Bildzitaten, einem Starensemble (alle stellten ihre Gage der Aidsforschung zur Verfügung) und einem intelligenten Drehbuch. jak © photocase.de / Zweisam © S.Fischer Verlage © KEYSTONE / PICTURE ALLIANCE BUCH Der Sommer steht vor der Türe und die Spatzen pfeifen es von allen Dächern: Bewegung tut gut. Allen: Kranken und Gesunden, Alten und Jungen jeglicher sexueller Orientierung, Religion und Herkunft. Und es muss längst nicht immer Yoga, die Trendsportart aus dem alten Indien, sein. Oder gar ein Halbmarathon. Moderat-intensiv körperlich aktiv sein reicht vollkommen. Mit bereits 150 Minuten pro Woche, also rund 22 Minuten pro Tag, wie es die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt, ist man dabei. Dazu braucht es keine hippen Sportsneakers, keine pastellfarbenen Wohlfühlklamotten und auch keinen Coach am Handgelenk mit Touchscreen inklusive Distanzmesser und Kolorienverbrennanzeige. Es genügt, das Tram oder das Automobile links stehen zu lassen; eine grösser Runde um die Häuserblocks zu drehen; den Hund der Nachbarn auszuführen oder im Wald Holz zu sammeln und ein Feuer zu entfachen. Spazieren ist das neue Yoga. jak • • Erhältlich in Videotheken oder als DVD bei buch.ch Swiss Aids News 2 | Mai 2015 11 P O R T R ÄT «Kranke Menschen brauchen medizinische Hilfe, aber auch Nähe» HIV-positiv, schweres Nierenversagen, keine Arbeit, unsicherer Aufenthaltsstatus in der Schweiz, beide Eltern tot. Ibu Lawal*, 26-jährig, bleibt scheinbar nichts erspart. Trotzdem betrachtet er sein Leben als Geschenk. Und möchte in Zukunft anderen kranken Menschen die wichtigste Hilfe geben, die ihm manchmal gefehlt hat: menschliche Nähe. Herr Lawal, mit Ihnen einen Termin auszumachen, ist nicht so einfach. Weshalb? Ich gehe jeden Montag, Mittwoch und Freitag für mehrere Stunden ins Spital zur Dialyse, bei der mein Blut gereinigt wird. Das ist notwendig, weil ich unter Nierenversagen leide: Meine Nieren reinigen das Blut nicht mehr selber. Die Dialyse ist anstrengend, ich bin danach jeweils müde und kraftlos. Hängt das Nierenversagen mit Ihrer HIV-Infektion zusammen? Das kann man nicht genau sagen. Wahrscheinlich gibt es schon einen Zusammenhang, denn meine HIV-Infektion war ziemlich weit fortgeschritten, als ich die Diagnose HIV-positiv erhielt. Es kann also sein, dass die Krankheit meinem Körper Langzeitschäden zugefügt hat, bevor die HIV-Medikamente sie zurückdrängen und stabilisieren konnten. Das Nierenversagen folgte nach der HIV-Diagnose, als Sie bereits HIVMedikamente nahmen? Zumindest hat man es erst nachher bemerkt, als es akut wurde. Das war 2010. Ich litt unter plötzlicher Atemnot, wurde notfallmässig ins Spital gebracht, wo sie acht Liter Wasser aus meinem Körper holten. Die ganzen Lungen waren voll davon. 12 Swiss Aids News 2 | Mai 2015 Und wann erhielten Sie die HIV-Diagnose? Zwei Jahre früher, 2008, kurze Zeit nach meiner Ankunft in der Schweiz. Ich ging zum Arzt, weil ich mich schlecht fühlte, unter anderem auch Fieber hatte. Der Arzt liess mein Blut im Labor auf verschiedene Krankheiten untersuchen. Als ich wenige Tage später ins Sprechzimmer kam, sass er mit mir hin und schaute sehr ernst. «Ich bin ganz Ohr», sagte ich – und erfuhr, dass ich HIV-positiv bin. «Unter Afrikanern ist die Angst vor HIV gross. Viele haben falsche Vorstellungen und denken, sie können sich selbst bei alltäglichen Begegnungen anstecken.» Da war die Infektion bereits weit fortgeschritten. Ja, nach einigen weiteren Tests im Unispital erklärten mir die Ärzte, ich müsse sofort mit den HIV-Medikamenten beginnen. Meine Blutwerte waren schlecht. Sie gingen im Alter von zwanzig Jahren wegen unbestimmten Krankheitszeichen zum Arzt – und erfuhren da, dass Sie sofort mit einer lebenslangen Therapie gegen HIV beginnen sollten? Es war ein harter Schlag. Zuerst dachte ich: «Das kann nicht sein. Warum ich?» Aber es war mir schnell klar, dass ich das akzeptieren muss, wenn ich leben will. Alle haben ihre Prüfungen zu bestehen. Gerieten Sie nie in eine Lebenskrise wegen der Krankheit? Ich glaube an Gott, ich bin mit ihm in Frieden. Zweimal pro Woche gehe ich in die Kirche und danke ihm, dass es eine Lösung gibt für mich. Die Medikamente retten mein Leben, das ist ein grosses Geschenk. Im Vergleich mit all jenen, die an Ebola erkranken und keine Hilfe erhalten, kann ich mich glücklich schätzen. Sie sind mit der Therapie gut klargekommen? Ja. Medizinisch gesehen. Und nicht medizinisch gesehen? Da gab es Probleme. Ich teilte zu dieser Zeit mit fünf anderen Männern ein Zimmer im Asylheim. Ich schämte mich sehr und wollte unbedingt vermeiden, dass meine Zimmergenossen von meiner HIVInfektion erfuhren. Deshalb rief mich der Leiter des Heims jeden Tag unter einem Vorwand in sein Büro, wo ich meine Medikamente einnehmen konnte, ohne dass es die anderen bemerkten. Trotzdem erfuhren sie es. Wie? Nach einer Weile bekam ich ein Einzelzimmer. Die Leitung hielt das für besser. Doch wenn man ein Einzelzimmer erhält, ist für die anderen eigentlich schon klar, dass man irgendeine Krankheit hat. Wahrscheinlich hat dann einfach jemand gesagt: «Ibu hat sicher Aids», und schon stand es für alle fest. Die Folgen? Ich war augenblicklich isoliert: Alle mieden mich, hielten Distanz. Da habe ich gelernt, dass ich besonders unter Afrikanern, nicht zuletzt unter meinen Landsleuten aus Nigeria, kein Wort über die Infektion verlieren darf. Das gilt immer noch? Unter Afrikanern ist die Angst vor HIV Wir sind: Aids-Hilfe Schweiz gross. Viele haben falsche Vorstellungen und denken, sie können sich selbst bei alltäglichen Begegnungen anstecken. Deshalb kann ich niemandem in der afrikanischen Gemeinschaft von meiner Infektion erzählen. Wenn das die Runde macht, wenden sich alle ab. Ich habe schon über 180 Bewerbungen geschrieben, bisher leider ohne Erfolg. Beim Schweizerischen Roten Kreuz konnte ich einen Pflegekurs machen. In dieser Richtung sehe ich meine Zukunft. Und ihre Familie? Kranke Menschen brauchen medizinische Hilfe, aber auch menschliche Nähe. Denn Distanz tötet innerlich, das weiss ich aus eigener Erfahrung. Umso wichtiger ist es mir, nun anderen Menschen zu helfen und ihnen die notwendige Nähe zu geben. sp Meinen Eltern habe ich es gesagt. Das musste ich einfach. Meine Mutter hat viel geweint. Aber die Eltern sind zu Ihnen gestanden? Ja. Es gab keine schlechten Gefühle. Leider sind beide 2010 gestorben. Wer unterstützt Sie heute? Ich erhalte viel Unterstützung vom medizinischen Personal, ebenso von der kantonalen Aids-Hilfe. Auch in meinem Privatleben habe ich mittlerweile gute Erfahrungen gemacht. Zum Beispiel war die Infektion für meine Ex-Freundin, eine Schweizerin, kein Problem. Sie wusste, wenn wir uns schützen, kann nichts passieren. Wenn es die Leute wissen und gut reagieren, dann ist HIV schnell kein Thema mehr. Es ist, als ob man es ganz vergisst. Aber wenn man nicht darüber sprechen kann, dann bleibt es immer da, unausgesprochen, aber unangenehm präsent. Ihre Nierenschwäche schränkt Sie stark ein. Schmieden Sie dennoch Zukunftspläne? Erklärt sich das aus Ihrer eigenen Geschichte? * Name geändert Barbara Caroline Schweizer Migration Das Programm Migration ist zuständig für HIV-/STI-Information und -Prävention bezogen auf die Migra tionsbevölkerung in der Schweiz. Ein weiterer Fokus liegt in enger Zusammenarbeit mit Vertretenden der verschiedenen Bevölkerungsgruppen auf dem Abbau von Stigma und Diskriminierungen von HIVpositiven Menschen. Dabei kommt eine zentrale Rolle dem Programm Afrimedia zu, in dem interkulturelle Mediatorinnen und Mediatoren mit Herkunft aus Subsahara-Afrika in ihren je eigenen Communitys über HIV/STI und Test- und Beratungsangebote informieren. aids.ch/migration Auf jeden Fall. Mein Traum ist eine eigene Familie. Doch als Erstes muss ich eine Arbeit finden. Dann kann ich den B-Ausweis beantragen. Und wenn ich den erhalte, kann ich langfristig planen. Zugegeben, das ist nicht ganz einfach: Swiss Aids News 2 | Mai 2015 13 P O R T R ÄT «Man müsste hinstehen und sein Gesicht zeigen» Sara L, ist eidgenössisch diplomierte Pflegefachfrau HF, Mutter von zwei Kindern, alleinerziehend, HIV-positiv und bei bester Gesundheit. Mit viel Kraft bringt sie Familie und Beruf unter ein Dach. Sie gehört zu den Working Poor in unserem Land, aber darüber klagen ist nicht ihr Ding. Sara L. lebte zwei Jahre mit ihrem Partner zusammen, als dieser ihr rät, einen HIV-Test zu machen. Er selbst hatte sich kurz zuvor, auf Anraten seiner Ex-Partnerin, testen lassen. Zum 20. Geburtstag, man schreibt das Jahr 1997, erhält Sara L.* die Diagnose HIV. Unerwartet, aber ohne Stress. «Ich nahm das alles easy. Ich dachte, diese Diagnose kann jeden treffen. Wir blieben zusammen, die Infektion war für mich kein Trennungsgrund. Ich stellte mir auch nie die Frage, warum ich? Es war einfach so. Punkt. Rückblickend finde ich es himmeltraurig. Denn er infizierte mich und seine Ex-Partnerin.» Die junge Frau ist zu diesem Zeitpunkt in ihrem ersten Ausbildungsjahr. Sie teilt einer Fachlehrerin die Diagnose mit. Als sie kurz darauf auch noch feststellt, dass sie schwanger ist, ermutigt sie die junge Frau, die Lehre weiterzuführen. Auf dem Aids-Pfarramt erhält sie ebenfalls Unterstützung. Sie bricht die Schwangerschaft ab. Zu unsicher sind ihre Lebenssituation und die Aussichten für HIV-positive Schwangere. Parallel dazu beginnt sie sofort mit der antiretroviralen Therapie. Das heisst jeden Tag, alle 8 Stunden täglich 13 bis 15 Pillen einzunehmen. Sara L., die bis dahin einzig die Alternativmedizin kennt, so ist sie aufgewachsen, legt eine erstaunliche Therapietreue an den Tag. Zehn Jahre lang wird sie jeden Tag, ohne das Ganze einmal zu hinterfragen, ihre Tabletten einnehmen. Nebenwirkungen spürt sie praktisch keine. Outen: Ja oder Nein? Von ihrer Diagnose erfahren einzig ihre Eltern und Geschwister. Für ihre Mutter ist die Diagnose ihrer Tochter ein Schock. Sie reagiert mit gesundheitlichen Problemen. Mit Männern, mit denen sie nach der Diagnose gerne eine Beziehung eingehen möchte, macht sie unterschiedliche Erfahrungen. Ein langjähriger Bekannter kann nicht mit der Diagnose umgehen. Er hat grosse Angst vor dem Virus und kann, trotz fachlicher Information, nicht über seinen Schatten springen. Andere Männer haben gar kein Problem mit Safer Sex. Vom Aids-Pfarramt wird sie angefragt, ob sie in einer Fernsehsendung anonym, jedoch mit eigener Stimme, über ihre Infektion sprechen mag. Sara L. sagt zu. «Als meine Stimme erkannt wird, beschliesse ich, nur noch gänzlich unerkannt über meinen HIVStatus zu sprechen. Zwar überlege ich mir immer wieder mal, mich zu outen. Es ist wichtig, dass HIV-positive Menschen hinstehen und 14 Swiss Aids News 2 | Mai 2015 ihr Gesicht zeigen, aber solange meine Kinder klein sind, geht das für mich einfach nicht.» Auch heute wissen an ihrem Arbeitsplatz einzig ihre Vorgesetzten von ihrer Infektion. «Man kann einfach nie voraussagen, wie das Gegenüber reagiert.» Früher wäre sie gerne einer Selbsthilfegruppe beigetreten. Doch diese waren meist auf Homosexuelle und Menschen mit Suchtproblemen ausgerichtet, eine Gruppe für heterosexuelle Frauen fand sich nicht, oder die junge Frau hatte keine Kenntnisse davon. Kinderwunsch und Kindererfüllung Nach rund fünf Jahren stellt Sara L. ihre Medikamente um. Das bedeutet nur noch zwei Tabletten am Tag und ist eine grosse Erleichterung. An ihrem damaligen Arbeitsplatz lernt sie auch den Vater ihrer Kinder kennen. Er ist Pfleger und leidet seit einer erfolgreich überwundenen Drogentherapie unter Hepatitis C. «Er hatte überhaupt keine Probleme mit meiner chronischen Krankheit, er hatte ja selbst eine», erzählt Sara L.«Dass er ausserdem unter einem Alkoholproblem litt, sah ich nicht oder wollte es nicht sehen. Mir gefielen die stundenlangen Gespräche bei einem Glas Wein.» «Ich wollte immer eine Bilderbuchfamilie, aber so war das eben nicht.» Als sie mit 27 Jahren schwanger wird, ist für Sara L. klar, dass sie das Kind behalten will. «Ich wollte immer Kinder, ich wollte immer Mami sein, daran änderte auch die Diagnose HIV nichts.» Und jetzt stimmt auch der Zeitpunkt, zumal die Medizin grosse Fortschritte in Bezug auf HIV gemacht hat. Sara L.s Töchterlein kommt, entgegen der damaligen Vorschriften, nicht per Kaiserschnitt, sondern durch eine Spontangeburt zur Welt und erhält unmittelbar nach der Geburt eine antiretrovirale Therapie. Sie wird der damaligen Praxis folgend nicht gestillt und ist HIV-negativ. Bald realisiert die junge Mutter, dass der Alkohol ihren Partner stark im Griff hat. Er ist unzuverlässig und der jungen Familie keine Stütze. Im Gegensatz zu seinem Beruf, da arbeitet er professionell, niemand weiss von seiner Sucht. Doch zu Hause zeigt er ein anderes Gesicht. Immer wieder unternimmt er Versuche, um vom Alkohol wegzukommen. Erfolglos. Das Zusammenleben funktioniert schlecht. Sara L. beschliesst, ihr Kind alleine aufzuziehen. «Ein Lebensentwurf, den ich mir nie erträumte hatte. Ich wollte immer eine Bilderbuchfamilie, aber so war das eben nicht.» Die junge Mutter organisiert ihren Alltag mit Kind und Arbeit. Jeder Tag muss bewältigt werden und braucht viel Kraft. Ihre HIV- Wir sind: Aids-Hilfe Schweiz Medikamente setzt sie auf eigene Verantwortung ab. Ihre Werte sind gut. Später kommt das Paar wieder zusammen. Sara L. möchte dem Vater ihres Kindes helfen, ihm in seiner Sucht beistehen. Sie unterstützt und ermutigt ihn, eine Weiterbildung in Angriff zu nehmen. Und dann wird sie erneut schwanger. Im vierten Monat ihrer Schwangerschaft beginnt sie wieder mit der Therapie, um eine HIVÜbertragung auf das Ungeborene zu verhindern. Ihr zweites Kind bringt Sara L. ohne Probleme zu Hause auf die Welt. «Eigentlich war alles perfekt. Er hatte seine Ausbildung abgeschlossen und nochmals einen begleiteten Entzug gemacht. Ich gebar einen gesunden HIVnegativen Sohn, stillte entgegen der Empfehlungen und er kümmerte sich rührend um uns im Wochenbett. Genau sechs Tage lang. Dann stürzt er erneut ab. Es war hart, sehr hart. Niemand, der kochte, keine Haushaltshilfe. Ich hätte alles selber bezahlen müssen und hatte schlicht kein Geld. Einzig meine Eltern unterstützten mich finanziell und moralisch.» Strenger Alltag Sozialhilfe beantragen will Sara L. nicht, obwohl sie Anspruch darauf hätte. Doch sie will unabhängig und nicht kontrolliert sein. Heute arbeitet sie halbtags in ihrem Beruf, während ihre beiden Kinder die Schule besuchen. Sara L. über ihren Beruf: «Als Mädchen wollte ich immer Ärztin werden, doch als Pflegefachfrau bin ich viel näher an den Menschen und das gefällt mir.» Sie wohnt in einem kleinen Eckhaus, das ihre Eltern für sie und die Kinder gekauft haben. Im Garten hoppeln zwei Chüngel und eine Katze fängt Mäuse. Ein junger Hund tobt sich aus und im Gemüsebeet stehen noch ein paar Fenchel. Diese überlässt Sara L. den Schmetterlingsraupen, aus denen nächstes Jahr Schwalbenschwänze schlüpfen werden. Ihr Alltag ist streng und nicht immer einfach. Der Vater ihrer beiden Kinder ist heute trocken, doch gesundheitlich angeschlagen. Er leidet unter Leberzirrhose und wartet auf eine Spendenleber. Wenn es sein Zustand zulässt, schaut er ab und an zu seinen Kindern, wenn Sara L. Elternabend oder dergleichen hat. Wenn der Himmel über ihr einzustürzen droht, besucht sie temporär ihre Therapeutin. Dort ist der Ort, wo sie sich aussprechen und ausheulen kann. «Man kann ja nicht jeden Tag dieselbe Leier spielen. So ist es aber, jeden Tag dieselbe Melodie. Oft wünsche ich mir Hilfe, aber ich gehe nicht gerne betteln. Ich kämpfe jeden Tag und manchmal habe ich die Schnauze gestrichen voll. Aber es ist mein Weg und den muss ich gehen. Es ist streng, aber die Kinder werden grösser.» Sara L.s grösster Wunsch sind Ruhe, Gelassenheit und tolle Ferien mit den Kindern. Doch Letzteres kann sie sich bis heute nicht leisten. jak Nathan Schocher Leben mit HIV Das Programm Menschen mit HIV kümmert sich um die Belange von HIV-positiven Menschen in der Schweiz. Es hält stets aktualisierte Informationen über viele Aspekte des Lebens mit HIV bereit, sowohl in gedruckter Form als auch auf der Website aids.ch Das Programm bietet zudem HIV-positiven Menschen finanzielle Nothilfe durch einen eigens dafür eingerichteten Fonds. Auf politischer und gesellschaftlicher Ebene setzt sich das Programm für die Interessen von Menschen mit HIV ein, indem es Solidarität und Antidiskriminierung propagiert. aids.ch/leben-mit-hiv * Name geändert Swiss Aids News 2 | Mai 2015 15 P O R T R ÄT «Das Positive im Schweren sehen» René W.* lebt seit bald 13 Jahren mit der Diagnose HIV. Als er von seiner Diagnose erfuhr, haderte er lange mit seinem Leben. Erst mit seinem verständnisvollen Partner lernte er, über seine Krankheit zu sprechen und die Isolation zu durchbrechen. Noch immer ist sein Leben von Ups and Downs geprägt, aber er hat gelernt, damit umzugehen. Bereits vor seiner Diagnose wusste René W. viel über Aids und HIV. 1985 outete sich André Ratti, ein bekannter Fernsehjournalist, vor laufender Kamera als schwul und an Aids erkrankt. Ein Jahr darauf verstarb er. «Ratti war für mich schon immer eine beeindruckende Persönlichkeit gewesen. Als ich ihn so krank im TV sah, war das ein Schock für mich und zeitgleich der Auslöser für meinen ersten HIV-Test.» Der Zweite folgte kurz darauf. René W. machte sich selbstständig und benötigte dazu ein Attest eines Vertrauensarztes. Von da an liess sich René W. jedes Jahr auf HIV testen. «Ich war ja viel unterwegs und mir der Risiken bewusst. Trotzdem steckte ich mich an.» Aus Angst Status verheimlicht Gegen Ende des letzten Jahrhunderts führte René W. eine Beziehung mit einem HIV-positiven Mann, der ihm aber seinen Status verheimlichte. Nach einem halben Jahr Safer Sex schlägt René W. vor, man möge doch gemeinsam einen HIV-Test machen, damit man künftig ohne Präservativ bumsen könne. René W.: «Mein Test fiel negativ aus, seiner positiv. Ich fiel aus allen Wolken. Als ich ihn darauf ansprach, erklärte er mir, dass er mir ausVerlustangst seinen Status verheimlicht habe. Denn wenn immer er sich als HIV-positiv outete, wurde er verlassen.» Also doch Safer Sex. Kurz darauf erkrankt René W.s Partner. Er weigert sich, einen Arzt aufzusuchen, weil er das Warten auf den Befund psychisch nicht aushält. Bald ist sein Immunsystem sehr geschwächt. René W.: «Er war schwer krank. Zusätzlich zu HIV litt er auch noch unter Warzen (Papillomaviren). Sein Selbstwertgefühl war klein, er fühlte sich mies, er brauchte und suchte meine Nähe. In so einem Moment der körperlichen Nähe ‹vergass› ich das Präservativ. Und obwohl er bereits Medikamente einnahm, infizierte ich mich.» Liebeskummer und Suizidgedanken Als ihm sein Arzt den positiven Status mitteilt, ist das für René W. eine Katastrophe. Aber eine, die er mit keinem Menschen teilen will, teilen kann. Nicht mit seinen konservativen Pflegeltern, denn die hatten bereits grosse Mühe mit seiner Homosexualität und seinem Coming-out. Auch nicht mit seinem leiblichen Vater, nicht mit Freunden. Kurz vor der Diagnose hatte er sich auch von seinem Partner getrennt. René W.: «Ich liess mir nichts anmerken. Ich markierte den starken Mann, dabei fühlte ich mich total mies. Ich habe mich so ge- 16 Swiss Aids News 2 | Mai 2015 schämt. Die Mischung aus Liebeskummer und Diagnose HIV-positiv brachte mich beinahe um. Doch als Selbständigerwerbender musste ich funktionieren.» René W. fällt in eine Depression. Telefonanrufe nimmt er nicht ab, er pflegt keine Kontakte mehr. Einzig bei der Arbeit funktioniert er. Die Abwärtsspirale dreht sich immer schneller. Er denkt an Selbsttötung. Er will sich die Pulsadern aufschneiden, schafft es aber nicht und fühlt sich noch schlechter. René W. dachte: «Ich bin so ein Feigling, ich kann mich nicht mal umbringen. Und jetzt?» Er will sterben und jeden Tag fordert er seine Viren auf, sich rasant zu vermehren und ihn bald zu erlösen. An seinem Geburtstag sind seine Werte so schlecht, dass sein Arzt dazu rät, sofort mit der Behandlung zu beginnen. Nicht wirklich überzeugt von deren «Sein Selbstwertgefühl war klein, er fühlte sich mies, er brauchte und suchte meine Nähe. In so einem Moment der körperlichen Nähe ‹vergass› ich das Präservativ.» Wirkung, willigt René W., quasi als Geburtstagsgeschenk für sich selber, ein. Die Nebenwirkungen sind happig und bald denkt der Arzt über einen Therapiewechsel nach. Ein Apotheker gibt ihm einen entscheidenden Tipp zur Medikamenteneinnahme – kurz vor dem Einschlafen einnehmen –, der Wirkung zeigt. Langsam, langsam findet er aus seiner Lethargie und sein Leben pendelt sich wieder ein, mehr oder weniger. Skål und eine neue Liebe Ein Freund aus der Ferne, der als einer der wenigen weiss, wie es um René W. wirklich steht, lädt ihn zu Ferien auf Gran Canaria ein. «Weihnachten stand an und ich hatte überhaupt keine Lust, mit meiner Familie zu feiern. Dieses Friede-Freude-Eierkuchen-Getue war für mich zu diesem Zeitpunkt ein Ding der Unmöglichkeit. Und dann geschah es am Jahreswechsel, an der Tür zu einem Fetischclub. «Er überreichte mir einen Drink, sagte Skål! und ich war hin und weg. So ein erotisch schöner Mann!» Bald darauf ist der erste Flug nach Dänemark gebucht und die Liebesgeschichte nimmt ihren Lauf. Auch das Positiv-Outing von René W. schreckt den neuen Mann in seinem Leben nicht ab. Denn der schöne Mann aus Skandinavien lebte bereits mit einem HIV-positiven Mann zusammen. Eine neue Erfahrung für René W., zogen doch bis anhin alle seine Bekanntschaften, die über eine Sexgeschichte hinausgingen, die Reissleine, wenn sie von seinem Status erfuhren. «Weisst du, ich habe keine Angst vor einer Ansteckung. Aber ich könnte dich nicht pflegen oder gar in den Tod begleiten», hört René W. mehr als einmal. Wir sind: Aids-Hilfe Schweiz Überhaupt staunt er immer wieder darüber, dass unter Schwulen das Thema HIV und Aids oft nicht zur Sprache kommt. Man weiss vieles rund um die Infektion, man weiss, dass dieser oder jener Mann positiv ist, aber darüber sprechen, sich damit auseinandersetzen, mag man nicht. Im Leben angekommen Auf der Regenbogenwolke schwebend, entschliesst sich René W., sein Leben wieder in die Hand zu nehmen und sich mehr auf die Ups und weniger auf die Downs zu konzentrieren. Er realisiert auch, wie viel er in Bezug auf seine Homosexualität, in Bezug auf HIV, seine Kindheit bei Pflegeeltern etc. verdrängt hat. Ein Psychologe des Checkpoint Zürich (mycheckpoint-zh.ch) unterstützt ihn auf seinem Weg. Er macht die Erfahrung, dass das Darüberreden heilsam ist. Erzählen, sich öffnen als Therapie. Im Rückblick bezeichnet René W. seine Diagnose als Startschuss zu einer Metamorphose: «Die Verwandlung eines Würmchens in einen selbstbewussten Schmetterling, der seine Flügel ausbreitet und das Leben geniesst.» Das schönste Geschenk macht ihm sein leiblicher Vater zu seinem 50. Geburtstag. 13 Jahre nach seiner Diagnose zeigt er u.a. voller Stolz vor versammelter Festgemeinde einen TV-Bericht über seinen HIV-positiven Sohn. Renè W. ist angekommen. jak * Name geändert «Ich habe mich so geschämt. Die Mischung aus Liebeskummer und Diagnose HIV-positiv brachte mich beinahe um.» Andreas Lehner MSM – Männer, die Sex mit Männern haben Das Programm MSM trägt aktiv dazu bei, die sexuelle Gesundheit von Männern, die Sex mit Männern haben, zu fördern und diese zu einem für sich und ihre Sexualpartner risikofreien Sexualverhalten zu motivieren. Das Programm MSM setzt dafür auf internetgestützte Beratungsangebote, plant nationale Kampagnen, vernetzt die regionalen Aids-Hilfen und unterstützt die Checkpoints. Mit den jährlich wiederkehrenden Kampagnen «Break The Chains – Gemeinsam gegen HIV» und «Stopp Syphilis» spricht das Programm MSM gezielt sexuell aktive Männer an und hält ein grosses Test- und Beratungsangebot bereit. Eingebunden ins Programm MSM ist auch alles rund um Dr. Gay. breakthechains.ch/dr.gay.ch Swiss Aids News 2 | Mai 2015 17 PROGRAMM MSM Alles, was Sie schon immer über Sex wissen wollten Dr. Gay, ein Team von Redaktoren, beantwortet seit Jahren zuverlässig, kompetent und rasch Fragen von Männern zu Männern. Eine Auswahl. Mücke? Kann man sich durch einen Mückenstich mit HIV anstecken? Nein, das ist nicht möglich. HIV überträgt sich in erster Linie durch ungeschützten Sex. Rollenteilung? Wer ist in einer Schwulenbeziehung der Mann und wer die Frau? Es ist ein sich hartnäckig haltender Mythos, dass in Schwulenbeziehungen einer der Mann und einer die Frau ist. Eine klare geschlechtliche Rollenverteilung gibt es aber nicht. Wozu auch? Schwule haben den Vorteil, ihre Rollen unabhängig vom Geschlecht zu gestalten. Was zählt, ist, dass es für die Partner stimmt. Übrigens: Auch in Heterobeziehungen werden die Rollen immer mehr unabhängig vom Geschlecht wahrgenommen. HIV-Test? © Blick / Geri Born Ich hatte Sex mit einem Mann und trotz Safer Sex ein ungutes Gefühl. Soll ich einen HIV-Test machen? Vinicio Albani Vinicio Albani gehört zum Dr.-Gay-Team. Alle zwei Wochen beantwortet er im «Blick am Abend» Fragen von Männern zu (Safer) Sex, Homosexualität, Comingout, Liebe, Beziehung, HIV/Aids und anderen sexuell übertragbaren Infektionen. Dr. Gay ist aber auch ein Onlineberatungsangebot für Männer, die Sex mit Männern haben. drgay.ch 18 Swiss Aids News 2 | Mai 2015 Du hast die Safer-Sex-Regeln eingehalten, also ein Kondom benutzt und kein Sperma in den Mund genommen, deshalb ist ein HIV-Test nicht nötig. Wenn du dir aber trotzdem Sorgen machst oder unsicher bist, könnte dich ein Test beruhigen und dir Sicherheit geben. Weitere Informationen zum Test findest du unter mycheckpoint.ch Syphilis? Vor zwei Wochen hatte ich Sex und bekam jetzt ein kleines entzündliches Knötchen neben dem Penisansatz, welches nässte und nun nach einer Woche langsam abheilt. Die Lymphknoten sind nicht geschwollen. Könnte es sich um Syphilis handeln? Eine Syphilis durchläuft drei Stadien. Im Primärstadium entsteht circa 1–5 Wochen nach der Infektion ein schmerzloses Geschwür an der Eintrittsstelle des Bakteriums. Syphilis überträgt sich durch direkten Kontakt, denn das offene Geschwür sondert eine sehr ansteckende Wundflüssigkeit ab. Die Lymphknoten können anschwellen, dies ist aber nicht immer der Fall. Ohne Behandlung verschwinden die Symptome nach einiger Zeit von selbst und es folgt das zweite Stadium. Unbehandelt kann eine Syphilis schwerwiegende Folgen mit sich ziehen. Detaillierte Informationen findest du im Sex-Wiki auf meiner Website drgay.ch. Nach deiner Beschreibung ist es durchaus möglich, dass es sich bei dir um eine Syphilis handelt. Eine Ferndiagnose ist aber leider nicht möglich. Ich empfehle dir darum, dich möglichst bald von einem Arzt unter suchen zu lassen. Nur so kann eine Syphilis mit Bestimmtheit ausgeschlossen werden. HIV heilbar? Ist HIV heutzutage nicht heilbar? Eine HIV-Infektion ist nach wie vor nicht heilbar, aber behandelbar. Die Einnahme der antiretroviralen Medikamente wurde in den letzten Jahren einfacher und die Nebenwirkungen geringer, trotzdem ist ein Leben mit HIV kein Zuckerschlecken. Lebenslang Medikamente einnehmen, Nebenwirkungen, Diskriminierung, Mobbing, Ausgrenzung, Geheimniskrämerei und hohe Behandlungskosten sind nur einige der Probleme, mit denen sich HIV-positive Menschen auseinandersetzen müssen. Es ist darum nach wie vor wichtig, sich durch Safer Sex zu schützen. Hepatitis C? Kann ich mich in einer öffentlichen Toilette mit Hepatitis C anstecken? Was sind die Anzeichen? Nein, das ist nicht möglich. Das Hepatitis-C-Virus (HCV) überträgt sich in erster Linie durch Blut-zu-Blut-Kontakt. Ein Risiko kann zum Beispiel das Teilen von Rasierklingen, Zahnbürsten oder Drogenutensilien (Spritzen, Röhrchen zum Sniffen) sein. Auch bei härteren Sexpraktiken, wo Blut im Spiel ist, kann ein Risiko bestehen. Bei 75% verläuft die Infektion symptomlos oder mit unspezifischen Symptomen. Bei anderen Betroffenen können Symptome wie Müdigkeit, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Fieber, unspezifische Oberbauchbeschwerden, Leistungsschwäche oder Juckreiz auftreten. Hepatitis C wird mit antiviralen Medikamenten behandelt. In deutlich mehr als der Hälfte der Hepatitis-C-Infektionen wird eine dauerhafte Virusbeseitigung erreicht. Erfreulich: Von rund 1000 getesteten schwulen Männern in Zürich ist nur einer HCV-positiv. Gleitmittel? Welches Gleitmittel ist für Safer Sex zu empfehlen? Für den Sex mit Präservativen ist neben wasserlöslichen Gleitmitteln auch silikonbasiertes Gleitgel geeignet. Dieses ist zwar etwas teurer, dafür umso ergiebiger und gleitfähiger. Gerade wenn der Sex etwas länger dauert, ist silikonhaltiges Gleitmittel die bessere Wahl. Fetthaltige oder ölige Substanzen wie zum Beispiel Handcrème, Vaseline, Salatöl, Butter, Body-Lotion usw. sind als Gleitmittel ungeeignet, weil sie das Kondom angreifen. Auch ohne sichtbare Schäden werden Kondome so durchlässig und reissen eher. Sperma im Mund? Ich habe gehört, dass Sperma im Mund kein HIV-Risiko mehr sei. Stimmt das? Hauptübertragungsweg von HIV bei schwulen Männern ist ungeschützter Analverkehr. Das Risiko ist dort sehr gross. Bei Sperma im Mund ist das Risiko zwar viel kleiner, aber trotzdem vorhanden. Die Viruslast spielt dabei eine wesentliche Rolle. Wenn dein Sexpartner sich erst vor Kurzem angesteckt hat und in der Primoinfektionsphase ist, ist die Virenanzahl im Blut sehr hoch und das Risiko entsprechend höher. Grundsätzlich kann eine Ansteckung darum nicht ausgeschlossen werden. Wenn versehentlich Sperma in den Mund kommt: Ausspucken und mit Alkohol nachspülen (nicht Zähneputzen!) ist eine Möglichkeit, das Risiko zu reduzieren. Swiss Aids News 2 | Mai 2015 19 GESELLSCHAFT «Einige Freier haben schlicht keine Ahnung von Safer Sex» es dann auch «ohne» stattfindet, aber zumindest fragen viele Freier danach. Ich muss aber betonen, dass ich hier vom Strassenstrich spreche. In anderen Settings sieht das teilweise anders aus. Die Zürcher Aids-Hilfe konzentriert ihre Präventionsarbeit im Freiermilieu momentan ausschliesslich auf den Strassenstrich. Weshalb? © Thomas Radlwimmer Marijn Pulles arbeitet seit 2009 in der aufsuchenden Freierprävention. Er leitet bei der Zürcher Aids-Hilfe den Bereich Freierprävention sowie den operativen Teil der Teststelle TEST-IN. Freier, die Sex ohne Kondom suchen, gelten als schwer erreichbar für die HIV- und STI-Prävention. Marijn Pulles spricht im Interview über Freier und über die Strategien, diese von Safer Sex zu überzeugen. Herr Pulles, weshalb wollen Freier Sex ohne Kondom? Dafür gibt es viele Gründe. Einige meinen, dass ihnen nichts passieren kann, andere bekommen mit Kondom keine Erektion oder denken, mit Kondom ist es kein richtiger Sex. Und ganz wichtig: Einige Freier haben schlicht keine Ahnung von Safer Sex und STI. Wie viele Freier wollen Sex ohne Kondom? Wir haben letztes Jahr eine Umfrage bei Sexarbeiterinnen auf dem Strichplatz Zürich gemacht. Unabhängig voneinander sagten die meisten, dass etwa drei Viertel aller Freier nach Sex ohne Kondom fragen würden. Das heisst nicht, dass 20 Swiss Aids News 2 | Mai 2015 Wir setzen unsere beschränkten Ressourcen dort ein, wo die Situation der Sexarbeiterinnen unserem Wissen nach am prekärsten ist. Denn das führt dazu, dass sie sich eher auf ungeschützten Sex einlassen. Natürlich bieten auch einige Klubs «Natursex» oder «gefühlsecht» an. Doch auf dem Strassenstrich ist, so viel wir wissen, der Druck zu ungeschütztem Sex gross. «Die vermeintlich allgemein be kannten Argumente sind überhaupt nicht allgemein bekannt. Bildungs ferne und fremdsprachige Freier werden zum Beispiel von der LoveLife-Kampagne nicht erreicht.» Können Sie das erklären? Viele Sexarbeiterinnen auf dem Strassenstrich arbeiten nicht auf eigene Rechnung, sie müssen täglich eine bestimmte Mindestsumme abliefern. Wenn eine Frau heute ein paar hundert Franken abliefern muss, aber sie hat erst hundert eingenommen, dann lässt sie sich halt beim x-ten, der ohne sucht, darauf ein. Auch weil sie mehr verlangen kann. Zudem arbeiten auf dem Strassenstrich zum Teil unerfahrene oder wenig gebildete Frauen, die ihrerseits nicht gross Ahnung von Safer Sex, STI oder sogar von Schwangerschaftsverhütung haben. Diese Frauen stehen wirtschaftlich und sozial unter grossem Druck. Sie stellen die Sexarbeiterinnen auf dem Strichplatz als verletzlich dar. Sind die Freier im Gegensatz dazu rücksichtlose Ausbeuter, welche die prekäre Situation der Sexarbeiterinnen knallhart ausnutzen? Nein. Dieses Bild trifft nur auf wenige zu. Die Bandbreite bei den Freiern ist gross. Sie reicht von Freiern, die in der Sexarbeiterin nichts als eine Ware sehen, bis zu jenen, die bezahlten Sex mit Liebe verwechseln. Aber es ist wahrscheinlich, dass viele Freier, die ohne wollen, das auf dem Strassenstrich suchen. Und eher nicht in einem Club, wo die soziale Kontrolle grösser ist. Der Strassenstrich ist von der Hierarchie her die niedrigste Stufe. Wenn man ohne sucht, bekommt man es hier wahrscheinlich am ehesten. Nun ist es Ihre Aufgabe, die Freier zu Safer Sex zu motivieren. Wie machen Sie das? Wir sprechen mit ihnen. Face to face. Das ist das, was meiner Meinung nach am besten funktioniert. Und zwar vor Ort, auf dem Strichplatz. Dabei sind wir ziemlich direkt: Wir stoppen – ausgerüstet mit Leuchtweste, am Strassenrand ein aufblasbares Riesenkondom – jedes einzelne Auto, sprechen die Freier an und geben ihnen Kondome und Infobroschüren ab. Einige sagen einfach danke und fahren weiter, mit anderen kommen wir so ins Gespräch. Welche Argumente für Safer Sex können Sie bieten, die nicht sowieso schon jedem bekannt sind? Die vermeintlich allgemein bekannten Argumente sind überhaupt nicht allgemein bekannt. Bildungsferne und fremdsprachige Freier werden zum Beispiel von der Love-Life-Kampagne nicht erreicht. Zudem sind Missverständnisse und Halbwissen weit verbreitet. Schwer verständlich scheint etwa zu sein, dass Oralsex – ohne Sperma oder Blut im Mund – zwar kein HIV-Risiko, aber für beide Beteiligte das Risiko einer STI birgt. Das erklären wir immer und immer wieder. Wie aussichtsreich ist es, Freier zu Oralsex mit Kondom zu bewegen? Wahrscheinlich kommt diese Botschaft nur bei wenigen an. Es geht darum, dass sich die Freier bewusst sind, dass sie sich mit einer STI infizieren können. Und dass sie damit dann allenfalls auch eine Partnerin infizieren können. Der Schutz der Partnerin ist auch ein sehr wichtiges Argument, um beim Geschlechtsverkehr ein Kondom zu verwenden. Auch wenn es nicht hundertprozentig vor einer STI schützt, aber dennoch ziemlich gut. Die Unterscheidung zwischen dem Schutz vor HIV und dem Schutz vor STI ist generell schwierig, aber wichtig. Denn HIV ist für viele kaum noch ein aktuelles Thema. Sie erklären also im Wesentlichen die möglichen Übertragungsrisiken und Schutzmöglichkeiten bei verschiedenen sexuellen Praktiken, sozusagen einfach zielgruppengerecht? Das ist ein wichtiger Teil. Aber sehr viele Missverständnisse beziehen sich spezifisch auf die Situation auf dem Strich. Oft sagen Freier, wenn wir ihnen ein Kondom geben: «Ja, haben die denn Aids? Ich dachte, die werden getestet.» Das heisst, die Freier schieben die Verantwortung ganz den Sexarbeiterinnen, dem Staat oder sonst jemandem zu. Wir hingegen vertreten die Ansicht, dass der Freier verantwortlich für den Schutz von beiden ist. Unsere zentrale Botschaft, die wir in jedem Gespräch vermitteln, umfasst deshalb drei Punkte. Erstens: Respektiere die Frauen, zweitens: Erwarte nicht zu viel, mache klare Abmachungen, drittens: Benütze ein Kondom. wahren, zugleich aber spontan und mit Humor auf die individuelle Situation und den einzelnen Freier eingehen. Aus einem Auto mit vier Achtzehnjährigen kommt zum Beispiel der Spruch: «Die Kondome, die ihr verteilt, sind mir zu klein.» Dann sag ich: «Komm, wir messen schnell nach, ob es passt.» Und schon sind wir im Gespräch. Wir sind: Aids-Hilfe Schweiz Ist Ihre Arbeit erfolgreich? Ja, wir bewirken auf jeden Fall etwas. Wir erhalten Rückmeldungen bei den Telefonund E-Mail-Beratungen, auch bei unserer Teststelle TEST-IN melden sich vermehrt Freier. Leider erhält die Freierprävention allerdings nicht gerade üppige Mittel, sodass sich unsere Möglichkeiten in engen Grenzen halten. Man müsste meiner «Erstens: Respektiere die Frauen, zweitens: Erwarte nicht zu viel, ma che klare Abmachungen, drittens: Benütze ein Kondom.» Meinung nach die aufsuchende Arbeit im Freiermilieu auf nationaler Ebene stärker gewichten. Hier überschneiden sich verschiedene Zielgruppen und sexuelle Netzwerke, von der heterosexuellen Allgemeinbevölkerung über MSM zu Transgender und verschiedenen Migrationsgruppen. Die Bedeutung der Freierprävention für die gesamte Präventionsstrategie wird allgemein unterschätzt. sp Tipps und Infos für Männer, die für Sex bezahlen: don-juan.ch Barbara Beaussacq Sex Work Das Programm Sex Work setzt sich für eine nachhaltige und breit abgestützte HIV/STI-Prävention im Sexgewerbe ein. Das Programm Sex Work vertritt die Anliegen von Sexarbeitenden gegenüber Behörden und anderen Organisationen und unterstützt die APiS-Fachstellen (Aidsprävention im Sexgewerbe). Ein weiterer Programmschwerpunkt liegt auf der Vermittlung von Information zu HIV/STI. National und international ist das Programm mit den wichtigen Akteuren im Bereich Sexarbeit vernetzt. aids.ch/sexwork Verfängt das beim frauenverachtenden Macho? Einfach so als Info nicht. Deshalb ist das individuelle Gespräch sehr wichtig. Da spüre ich heraus, was verfangen könnte. Man muss dabei einerseits stets die Rolle des Experten, also ein wenig Autorität Swiss Aids News 2 | Mai 2015 21 M E D I Z I N Altern ohne Risiko? Jein Alterskrankheiten treten bei älteren HIV-Patienten häufiger auf als bei HIV-negativen älteren Menschen. Daran haben die HIV-Infektion und die Therapie vermutlich einen Anteil. Allerdings einen eher geringen. Wichtiger ist der Lebensstil. HIV war eine tödliche Krankheit, die vorwiegend junge Menschen betraf. Sie infizierten sich in jungen Jahren und starben in jungen Jahren. Das Bild hat sich gewandelt: Heute sind vier von fünf HIV-Patienten in der Schweiz über vierzig Jahre alt, von diesen wiederum fast die Hälfte über fünfzig. Die Lebenserwartung von HIV-Patienten hat dank der antiretroviralen Therapie deutlich zugenommen, HIV ist zu einer chronischen Krankheit geworden. Von «the graying epidemic», der ergrauenden Epidemie, ist mittlerweile die Rede. HIV-Patienten dürfen heute also mit einem langen Leben rechnen. Aber dürfen sie auch damit rechnen, ein langes Leben bei guter Ge- sundheit zu führen? Diese Frage stellen sich viele HIV-Patienten mit einiger Sorge. Denn obwohl in der Schweiz fast neunzig Prozent aller HIV-Patienten das Therapieziel einer nicht mehr nachweisbaren Viruslast erreichen, und obwohl sich bei den meisten das Immunsystem gut erholt, sind sie überdurchschnittlich oft von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Altersdiabetes, Gedächtnisverlust und weiteren Alterskrankheiten betroffen. Der Zusammenhang zwischen HIV und dem Alterungsprozess des Körpers ist deshalb in den Fokus der medizinischen Forschung gerückt. Altern HIV-positive Menschen anders als HIV-negative? Altern sie schneller? Wenn © KEYSTONE / IMAGE SOURCE «Der ältere HIV-Patient ist immer mehr auf die Kompe tenz der Allgemeinmedizin angewiesen: der umfassende Blick auf alle gesundheits relevanten Aspekte eines Patienten, von der Erkennung und Behandlung diverser Krankheiten bis zu Fragen des Lebensstils.» 22 Swiss Aids News 2 | Mai 2015 es Unterschiede gibt: Welche Faktoren sind entscheidend? HIV selbst? Die Medikamente der Therapie? Koinfektionen wie Hepatitis? Andere Risikofaktoren wie Rauchen oder die genetische Veranlagung? Die vorläufige Antwort auf die meisten Fragen lautet: Es ist unklar. Studie: Alterskrankheiten häufiger, nicht früher Den Alterungsprozess von HIV-Patienten mit jenem von HIV-negativen Menschen zu vergleichen, ist schwierig. Denn es gibt keine Gruppe von HIV-negativen Menschen, die in allen potenziell wichtigen Faktoren wie Alter, Koinfektionen, Alkoholkonsum, Rauchverhal ten etc. mit der HIV-Patientengruppe übereinstimmt. Hinzu kommt, dass HIV-Patienten medizinisch viel exakter untersucht werden als die Allgemeinbevölkerung, sodass man bei ihnen zum Teil nur deswegen früher und mehr Alterskrankheiten entdeckt. Vor diesem Hintergrund erhält eine im Oktober 2014 veröffentlichte Studie einige Bedeutung: Forscher verglichen über 30 000 HIV-positive mit fast 70 000 HIV-negativen Personen, die alle an der grossen US-amerikanischen Veterans Aging Cohort Study teilnehmen. Das heisst, sowohl HIV-positive wie HIV-negative Teilnehmer werden seit Jahren von denselben Ärzten nach denselben Kriterien untersucht. Analysiert wurden in der Studie Herzinfarkte, fortgeschrittene Nierenkrankheiten und nichtaidsdefinierende Krebsarten. Ergebnis: Bei HIV-Patienten traten alle drei Erkrankungen häufiger auf. Allerdings nicht früher, sondern im gleichen Alter wie bei HIV-negativen Patienten. Das ist eine wichtige Erkenntnis, denn sie relativiert die oft geäusserte Vermutung, HIV und die HIV-Medikamente beschleunigten den Alterungsprozess. Auf der anderen Seite bestätigt sie, dass HIV und die HIV-Medikamente das Risiko für bestimmte Alterskrankheiten erhöhen. Stop Smoking! Weshalb das so ist, ist Gegenstand zahlreicher Forschungsansätze. Wahrscheinlich scheint, dass verschiedene Ursachen zusammenspielen: chronische Entzündungsprozesse und die konstante Aktivierung des Immunsystems als direkte Folgen der HIV-Infektion, aber auch langfristige Nebenwirkungen der HIV-Therapie, vor allem von älteren Medikamenten. Diese Zusammenhänge zu klären und ihnen entgegenzuwirken, ist wichtig. Allerdings dürften sie nur zu einem kleinen Teil dafür verantwortlich sein, dass Alterskrankheiten bei HIV-Patienten häufiger auftreten. Die meisten Forscher sind sich einig, dass klassische Risikofaktoren eine grössere Rolle spielen. Dazu zählen das Alter selbst, die genetische Veranlagung, das Geschlecht, Ernährung, Bewegungsverhalten sowie Nikotin-, Alkohol- und Drogenkonsum. Einige davon sind nicht einfach gegeben, sondern lassen sich beeinflussen. Doch sie sind unter HIV-Patienten überdurchschnittlich verbreitet, wie die Daten der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie bestätigen. Für Thomas Frey, Hausarzt mit HIV-Schwerpunkt, ist deshalb klar: «Viele HIV-Patienten haben es in der Hand, ihre Risiken für Alterskrankheiten zu senken. Und zwar deutlich.» Frey betont, dass infolge der gestiegenen Lebenserwartung die Prävention von Begleit erkrankungen, die nicht nur auf HIV zurückzuführen sind, grosse Bedeutung erhalte. Er diskutiert deshalb bereits mit jungen Patienten regelmässig Verhaltensmassnahmen wie mehr Bewegung, ausgewogenere Ernährung und reduzierten Suchtmittelkonsum, vor allem von Nikotin. Denn eine jüngst veröffentlichte Studie zeigt gar, dass HIV-positive Raucher mehr Lebensjahre durch das Rauchen verlieren als durch HIV. «Trotzdem erscheinen diese Risiken oft sehr abstrakt», sagt Frey, «und ein Rauchstopp ist sehr schwierig.» Umso wichtiger sei es, den Patienten die biologischen Zusammenhänge genau zu erklären. «Dabei sollte man einen Patienten nicht einfach unaufgefordert mit Ratschlägen überhäufen», erklärt er. «Voraussetzung für eine erfolgreiche Verhaltensänderung ist in jedem Fall, dass jemand tatsächlich daran interessiert ist.» «Eine zentrale Herausfor derung ist es, die verschie denen Medikamente für verschiedene Erkrankungen so aufeinander abzustimmen, dass sie sich gegenseitig nicht beeinträchtigen und sich Nebenwirkungen nicht verstärken.» HIV-Patienten – ein Fall für die Allgemeinmedizin Auch wenn sich immer mehr HIV-Patienten auf ein längeres Leben einstellen und ihren Lebensstil darauf ausrichten, werden in den kommenden Jahren Patienten mit mehreren Alterskrankheiten eine der wichtigen Herausforderungen in der Praxis bleiben. Dabei am häufigsten sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bestimmte Krebsarten, Erkrankungen der Niere und der Leber, Osteoporose und Diabetes. «Sowohl für Patienten wie Ärzte bedeutet das Swiss Aids News 2 | Mai 2015 23 M E D I Z I N eine Verschiebung der Aufmerksamkeit», sagt Barbare Hasse, Infektiologin am Universitätsspital Zürich, «HIV ist nicht mehr das alleinig dominierende Gesundheitsthema.» Eine zentrale Herausforderung ist es, die verschiedenen Medikamente für verschiedene Erkrankungen so aufeinander abzustimmen, dass sie sich gegenseitig nicht beeinträchtigen und sich Nebenwirkungen nicht verstärken. Das gelingt in aller Regel sehr gut, wie eine Studie der Schweizerischen HIV-Kohorte zeigt: Obwohl ältere HIVPatienten nebst den HIV-Medikamenten oft noch mehrere andere Wirkstoffe einnehmen, fanden die Forscher keine negativen Auswirkungen. Weder auf die HIV-Therapie noch auf die Behandlung der anderen Erkrankungen. Ältere HIV-Patienten unterscheiden sich also kaum mehr grundlegend von anderen älteren Patienten. HIV ist für sie oft lediglich eine von mehreren Erkrankungen, die jedoch gut kontrolliert ist. Das hat auch Folgen für die medizinische Betreuung: War bisher der Infektiologe der erste Ansprechpartner für alle Fragen, ist er zunehmend nur noch einer von mehreren Fachspezialisten, der bei Bedarf hinzugezogen wird. «In Zukunft dürften Haus ärzte in der Betreuung von HIV-Patienten an Bedeutung gewinnen», sagt Frey. Der ältere HIV-Patient ist immer mehr auf die Kompetenz der Allgemeinmedizin angewiesen: der umfassende Blick auf alle gesundheitsrelevanten Aspekte eines Patienten, von der Erkennung und Behandlung diverser Krankheiten bis zu Fragen des Lebensstils. Denn die Frage, ob man mit HIV ein langes, aber auch gesundes Leben führen kann, hängt nicht nur von Viruslast und CD4-Werten ab. sp I N S E R AT Angebot für Frauen, die mit HIV leben: PFS – Positive Frauen Schweiz Selbststärkungsgruppen: Wir beschäftigen uns mit allen Aspekten des Lebens mit HIV wie Diagnose, Medikamente, Therapiestart, Sex, Selbstwertgefühl, Lebenserwartung. Mit einem eigens entwickelten Trainingsprogramm für Frauen mit HIV. Gegenseitige solidarische Hilfestellung Training: Umgang mit schwierigen Situationen Erfahrungsaustausch Geleitet von Frauen, die selbst seit vielen Jahren mit HIV leben. Zürich: erster Samstag im Monat von 9–11 Uhr, monatlich, Info via Zürcher AIDS-Hilfe, 044 455 59 00 oder [email protected] Bern: erster Dienstag im Monat von 19–21 Uhr, 2-monatlich ab 5.5., Info via AIDS Hilfe Bern, 031 390 36 36 oder [email protected] Weinfelden: letzter Donnerstag im Monat von 19-21 Uhr, monatlich, Info via Selbsthilfethurgau, 071 620 10 00 oder www.selbsthilfe-tg.ch Positive Frauen Schweiz ist eine Initiative von HIV-positiven Frauen und HIV-Ärztinnen mit Unterstützung durch die Aids-Hilfe Schweiz, regionale Aids-Hilfen und unabhängige finanzielle Gaben der Firmen BMS, AbbVie und Gilead. 24 Swiss Aids News 2 | Mai 2015 RECHT «Mit den Mitteln des Rechts Vorurteile bekämpfen» Seit 18 Jahren bietet die Aids-Hilfe Schweiz unentgeltliche Rechtsberatung an. Gegründet wurde sie 1997 von Prof. Dr. iur. Kurt Pärli. Jeweils am Dienstagvormittag beriet er Mitarbeitende der regionalen Aids-Hilfen und Menschen mit HIV/Aids in rechtlichen Angelegenheiten. Das Angebot war und ist auch heute noch sehr gefragt. Caroline Suter und Julia Hug, Juristinnen bei der Aids-Hilfe Schweiz, stellten Kurt Pärli Fragen zur Geschichte der Rechtsberatung. Vor der Lancierung des Angebots HIV und Recht arbeitete ich als Sozialarbeiter am Inselspital Bern. Bereits an meinem ersten Arbeitstag wurde ich mit der IV-Anmeldung eines 25-jährigen Mannes mit der Diagnose Aids im fortgeschrittenem Stadium konfrontiert. In dieser Zeit herrschte grosse Unsicherheit. Aufgrund meiner ersten Erfahrungen aus der Beratung und der Lektüre des Buches «Recht gegen Aids» kam ich zur Erkenntnis, dass das Recht gegen Aidskranke eingesetzt werden kann. Aber dass es auch möglich ist, HIV/Aids mit den Mitteln des Rechts und durch den Abbau von Vorurteilen zu bekämpfen. Menschen mit HIV erleben auch heute noch Diskriminierung und Stigmatisierung. Obwohl HIV heute in der Regel gut therapierbar ist und die meisten Menschen besser über HIV informiert sein sollten, werden uns immer wieder unglaubliche Fälle zugetragen. In den ersten Wochen und Monaten meiner Tätigkeit wurde mir die Bedeutung der Menschenrechte in der HIV/ Aids-Arbeit bewusst. Einmal war ein junger Mann in der Beratung, der von seinen Eltern im Estrich versteckt wurde, wenn Bekannte zu Besuch kamen. Der Mann litt unter einem, an unbekleideten Körperstellen sichtbaren, Kaposi-Sarkom. Kaposi bedeutete «Schwulenseuche». Ich erinnere mich auch an einen unterdessen längst verstorbenen, damals bekannten Volksmusiker, der seine Diagnose versteckte. Ärzte, Krankenpfleger und auch ich als Sozialarbeiter mussten vor Angehörigen von einer Krebsdiagnose sprechen. Der «soziale Tod» bedrohte viele Patienten lange vor dem Ausbruch der Krankheit und dem medizinischen Tod. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn das Umfeld des Volksmusikers von seiner Diagnose erfahren hätte. Es gab in dieser Zeit auch zahlreiche fristlose Entlassungen. Insbesondere im Gastgewerbe wurden viele Menschen nach Bekanntwerden der HIV-Diagnose von einem auf den anderen Tag entlassen. «Die Verfahren zur Abklärung von Ansprüchen dauerten sehr lange, zu lange für viele Patienten; sie starben und erhielten nach ihrem Tod rückwirkend IV-Leistungen zugesprochen.» Heute ist der Grossteil der Menschen mit HIV erwerbstätig. Bevor es eine wirksame Therapie gab, kam meist irgendwann die Erwerbsunfähigkeit. Wie reagierte das Sozialversicherungsrecht auf HIV/Aids? © Ursula Hersperger Warum engagierten Sie sich für eine Rechtsberatung zum Thema HIV/Aids? Prof. Dr. iur. Kurt Pärli leitet das Zentrum für Sozialrecht der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften und ist Privatdozent für Arbeits- und Sozialversicherungsrecht an der Universität St. Gallen. Er ist bekannt für sein grosses Engagement und Autor mehrerer Publikationen im Bereich HIV/Aids und Recht. 2002 bis 2006 war er Präsident der Aids-Hilfe Bern. Wer an Aids erkrankte, war zwingend mit einem auch heute noch sehr komplexen System konfrontiert (IV, Taggeld, Lohnfortzahlung, Pensionskasse, Krankenpflegeversicherung usw.), das anfänglich überhaupt nicht auf die Krankheit Aids vorbereitet war. Die Verfahren zur Abklärung von Ansprüchen dauerten sehr lange, zu lange für viele Patienten; sie starben und erhielten nach ihrem Tod rückwirkend IV-Leistungen zugesprochen. Später kam das Gegenteil. Sobald eine Aidsdiagnose vorlag, wurde gar nicht Swiss Aids News 2 | Mai 2015 25 R E C H T «Das Recht kann also einen klei nen, ganz bescheidenen Beitrag leisten zu einem rationaleren Umgang mit Krankheit. Es dauert natürlich seine Zeit, bis sich dann die Einstellung in den Köpfen ändert.» mehr genau geprüft, ob beispielsweise noch Eingliederungsmassnahmen möglich wären. Man ging davon aus, dass die Person dem Tode schon sehr nahe ist, das traf auf viele zu, aber nicht auf alle. Die Zeit bis 1995 war für viele Betroffene geprägt durch den Satz «Den Jahren Leben geben». Die womöglich nur noch kurze Zeit zu nutzen, bedingte aber auch, dass die materielle Existenz gesichert war, was aus den genannten Gründen manchmal schwierig war. So bildete das Auftreiben finanzieller Unterstützung einen gewichtigen Teil meiner damaligen Arbeit. Auch der Kündigungsschutz war ein Thema, primär ging es aber vor allem um Geld und um Ersatzleistungen zum Lohn. Und wie kam es zur Gründung der Rechtberatung der Aids-Hilfe Schweiz? 1997 stellte ich der damaligen Geschäftsführerin der Aids-Hilfe Schweiz Ruth Rutman meine Vision einer Rechtsberatung zu HIV und Recht vor. Ich schlug vor, die Stelle auf vier Säulen abzustellen: Beratung zu HIV und Recht Weiterbildung von Mitarbeitenden der regionalen Stellen und Aktivisten Grundlagenarbeit (Positionspapiere etc.) Lobbying Ruth Rutman unterstütze meinen Plan und zwei Monate später führte ich das erste Beratungsgespräch durch. Ich war mit einem 25%-Pensum angestellt und zwei Stunden pro Woche war das Beratungstelefon offen. Zeitgleich fing ich an, Stellungnahmen zu schreiben, zum Beispiel zu Gesetzesrevisionen im Gesundheits- und Sozialbereich. Rasch sprach sich das Angebot herum. Nach wenigen Monaten stockte ich das Pensum auf 40% und dann auf 70% auf und bald waren wir dann zu Dritt in der Rechtberatung. Heute arbeiten Sie als Dozent und Leiter des Zentrums für Sozialrecht an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften. Darüber hinaus sind 26 Swiss Aids News 2 | Mai 2015 Sie noch immer mit der Aids-Hilfe Schweiz und dem Thema HIV verbunden. Was ist derzeit aktuell? Ende Juni 2015 werde ich an einer Konferenz in Amsterdam drei Rechtsfälle analysieren, die 2013 entschieden wurden. Einen Entscheid des Zürcher Obergerichts, einen aus Deutschland und einen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Alle drei Gerichte haben entschieden, dass eine Entlassung wegen HIV unzulässig ist. Es ist spannend, dass 2013 – also 30 Jahre nach Auftauchen von HIV – an drei unterschiedlichen Orten in der Sache gleich entschieden wurde. Es gibt keine Pflicht, über HIV zu informieren, deshalb ist ein Vertragsrücktritt nicht gültig. Der Züricher Entscheid, von den Medien aufgenommen, löste einmal mehr eine Diskussion rund um HIV und Arbeit aus. Worum ging es? Der FC Zürich löste den Vertrag eines Profifussballers auf, nachdem sich dieser geweigert hatte, seine Mitspieler über seine HIV-Diagnose zu informieren. Aber auch ein FC Zürich musste zur Kenntnis nehmen, dass wenn die FIFA und alle Fachleute sagen, es gibt keine Übertragung beim Fussball – dafür gibt es Evidenz –, man den Vertrag mit einem Profifussballer nicht auflösen kann, weil er angeblich über die HIV-Infektion hätte informieren müssen. Ein solches Verhalten wäre irrational oder verpönt rational. Das Recht kann also einen kleinen, ganz bescheidenen Beitrag leisten zu einem rationaleren Umgang mit Krankheit. Es dauert natürlich seine Zeit, bis sich dann die Einstellung in den Köpfen ändert. Aber die Symbolik, die ist wichtig und nicht zu unterschätzen. jh /cs FORUM RECHT Sie fragen – wir antworten Anfrage von Frau B. E. Wie kann ich mich gegen einen negativen Entscheid wehren? Ich habe bei der Invalidenversicherung eine Rentenerhöhung beantragt, welche mit einer Verfügung abgelehnt wurde. Mit dieser Ablehnung bin ich nicht einverstanden und möchte mich dagegen wehren. Können Sie mir sagen, wie ich nun vorgehen soll? Antwort von Dr. iur. Caroline Suter Am Ende der Verfügung sollte eine Rechtsmittelbelehrung (meistens unter der Rubrik «Wichtige Hinweise») enthalten sein. Diesem Absatz können Sie entnehmen, innert welcher Frist, an welche Adresse und in welcher Form Sie eine Eingabe machen können, wenn Sie mit dem Entscheid nicht einverstanden sind. Sehr wichtig ist, dass Sie die Frist einhalten, denn eine verpasste Frist führt dazu, dass Sie von den Behörden und Gerichten nicht mehr angehört werden, auch wenn Sie sehr gute Argumente haben. Fristen können entweder mit einem Datum (z. B. bis 14. August 2015) oder in Tagen (z. B. innert 30 Tagen) angegeben sein. Die schriftliche Eingabe (gegen eine Verfügung wird sie «Beschwerde» genannt) muss spätestens am letzten Tag der Frist der Schweizerischen Post übergeben worden sein. Damit Sie später beweisen können, dass Sie die Frist eingehalten haben, sollten Sie die Beschwerde per Einschreiben verschicken. Die Frist in Tagen beginnt übrigens erst am ersten Tag nach dem Empfang der Verfügung zu laufen. Das Invalidenversicherungsverfahren kennt sogenannte Gerichtsferien. Während diesen steht die Frist still und läuft erst nach den Gerichtsferien weiter. Gerichtsferien bestehen vom siebten Tag vor Ostern bis und mit dem siebten Tag nach Ostern, vom 15. Juli bis 15. August und vom 18. Dezember bis und mit 2. Januar. Ihre Beschwerde muss schriftlich sein und einen Antrag (z. B. «die Verfügung der IV-Stelle vom X.X. sei aufzuheben», «mein IV-Grad sei zu erhöhen»), eine kurze Darstellung des Sachverhalts sowie eine Begründung enthalten. Sie sollten die Beschwerde im Doppel zusammen mit einer Kopie der Verfügung und dem Briefumschlag, in dem sie zugestellt wurde, schicken. Wichtig ist auch, dass Sie der Beschwerde allfällige Beweismittel, z. B. ein aktuelles Arztzeugnis, beilegen. Ein Beschwerdeverfahren ist kostenpflichtig, Sie müssen meistens im Voraus eine Gerichtsgebühr entrichten. Es steht Ihnen frei, sich anwaltlich vertreten zu lassen. Wenn Sie eine Rechtsschutzversicherung haben, werden die Anwaltskos ten allenfalls übernommen. Klären Sie dies frühzeitig ab. «Erst wenn das Verfahren abge schlossen ist, wird entschieden, wer die Verteidigung bezahlen muss.» Die Rechtsberatung der Aids-Hilfe Schweiz unterstützt Sie kostenlos beim Abfassen von Einwänden, Einsprachen und Beschwerden. Bei Bedarf kann sie Sie in Sozialversicherungsverfahren auch rechtlich vertreten. Nehmen Sie nach Erhalt eines negativen Entscheids so schnell wie möglich mit uns Kontakt auf, damit genügend Zeit bleibt zur Akteneinsicht und Eingabenprüfung/-verfassung. Wir sind: Aids-Hilfe Schweiz Caroline Suter Rechtsberatung Die Rechtsberatung beantwortet kostenlos Rechtsfragen im Zusammenhang mit HIV in folgenden Gebieten: Sozialversicherungsrecht Sozialhilferecht Privatversicherungen Arbeitsrecht Datenschutzrecht Patientenrecht Einreise- und Aufenthaltsrecht Die Aids-Hilfe Schweiz ist die eidgenössische Stelle für Diskriminierungen und Persönlichkeitsverletzungen im HIV/Aids-Bereich. Sie sammelt die ihr gemeldeten Fälle und leitet diese zweimal jährlich an die Eidgenössische Kommission für sexuelle Gesundheit (EKSG) weiter. Öffnungszeiten Di und Do 9–12, 14–16 Uhr Tel. 044 447 11 11 [email protected] Swiss Aids News 2 | Mai 2015 27 I N S E R AT NACH DEM SEX NOCH IMMER HEISS? Bei Grippesymptomen nach ungeschütztem Sex: Sprich mit deinem Arzt über HIV. Mehr erfahren und Risikocheck unter lovelife.ch/grippe B H E NIC U E R E TS Das Bundesamt für Gesundheit in Zusammenarbeit mit der Aids-Hilfe Schweiz und SEXUELLE GESUNDHEIT Schweiz. 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