Mein Jahr mit Stadelmaier Foto: Charlotte Oswald Woher des Wegs? Von Gerhard Stadelmaier, 4. März 2016 Es gibt sowieso kein größeres Lesevergnügen als die Lektüre von Nachrufen. Der »Nekrolog« auf der Internet-Allesbesserwisser-Seite namens Wikipedia aber bildet den sarkastischen Vergnügungsgipfel. Er bietet zwar nur eine Liste der weltweit jüngst Dahingeschiedenen, führt aber hinter jedem Toten auf, welcher Profession er nachging. Und woher er kam. Zum Beispiel: »Schottischer Massenmörder« oder »Französische Zuhälterin« oder »Bosnisch-serbischer Offizier und Kriegsverbrecher«, aber auch »Finnischer Dirigent« oder »Österreichisch-griechischer Bildhauer« und »Syrisch-britischer Terrorist«. So wird hier zwar der Trost gespendet, dass der Tod alle über die gleiche Sense schert – Massenmörder wie Dirigenten, Kriegsverbrecher wie Bildhauer. Andererseits liegt die Frage nahe, was denn das Schottische am Massenmörder, das Französische an der Zuhälterin, das Österreichisch-Griechische am Bildhauer sei? Vielleicht fühlte sich die Zuhälterin in ihrer Liebe zu altem Single Malt Whisky als wahre Schottin, der Massenmörder, der im Peugeot zu seinen Opfern fuhr, als halber Franzose, der spätzlesüchtige Bildhauer als heimlicher Schwabe, und der finnische Dirigent hat sich womöglich als österreichischer Triangel-Spieler gesehen. Wer weiß das schon? Gerade jetzt, wo alle Grenzen so gewaltig überwandert werden und die nationalen Identitäten weltweit ins hintergründliche Migrationsrutschen geraten, wirkt die Frage »Woher des Wegs?«, dem Tod auf die Wikipedia-Sense gedengelt, doch etwas arg komisch. Die nächste Kolumne in dieser Reihe erscheint am 18. März 2016. Wenn Sie die Kolumne regelmäßig per E-Mail erhalten möchten, können Sie sich mit einer Nachricht an [email protected] eintragen lassen. Newsletter Kalender RSS-Feed PDF Pressemitteilung zur Reihe Archiv Seite 3 Beiträge Kolumne: Mein Jahr mit Stadelmaier © 2016 Deutsches Literaturarchiv Marbach – Impressum - Datenschutzerklärung
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