P. Marco Voigt, Predigt am Vorabend der Konfirmation in St. Martin, 25. April 2015 Zwei Namen sind für mich die Namen in dieser Woche. Der eine ist Oskar Gröning. Oskar Gröning ist ein gebürtiger Nienburger. 1921 ist er hier geboren und aufgewachsen, hat in der Langen Straße und anderswo in Nienburg gelebt. Dann ist er zur SS gegangen, wurde der „Buchhalter von Auschwitz“. Oskar Gröning stand mit an der Rampe, als die Züge mit Menschen aus Europa einfuhren. Er half mit, die Koffer wegzuschaffen, bevor der nächste Transport kam. Er hat akribisch notiert, wie viel Geld sich darin befand und leitete das Geld dann weiter. Oskar Gröning hat keinen Menschen persönlich umgebracht, aber er war einer von denen, die mitgeholfen haben, dass die Mordmaschine Auschwitz so reibungslos funktionierte. Er hat das System mitfinanziert, er hat die täuschende Fassade an der Rampe in Auschwitz aufrecht erhalten, er hat Beihilfe zum Mord in über 300.000 Fällen geleistet. Er war ein „Rädchen im Getriebe“, so hat er es früher einmal gesagt. Ein Rädchen hat ja bekanntlich kein Gehirn. Es denkt nicht darüber nach, wofür es sich dreht. Ein Rädchen hat keinen Sinn dafür, in welcher Maschine es sich befindet. Ob es in einer Brotbackmaschine oder in einem Maschinengewehr eingesetzt wird, darüber entscheiden andere, nicht das Rädchen. In der Zeit von 1933 bis 1945 gab es zigtausende von diesen Rädchen. Menschen, die nach dem Kriegsende von nichts gewusst haben wollten, die alle Verantwortung oder gar persönliche Schuld von sich gewiesen haben. Menschen, die von sich behaupteten, sie hätten ja nur Befehle ausgeführt oder sie hätten sich nicht getraut, etwas zu sagen. Aus Angst vor Unannehmlichkeiten. Aber der Vergleich mit dem Rädchen hinkt eben doch. Menschen sind keine Rädchen im Getriebe. Menschen haben ein Gehirn. Menschen sind für das verantwortlich, was sie tun. Es nützt nichts, sich immer raus zu reden und zu behaupten: „Ich konnte nichts dafür. Ich habe nur gemacht, was andere mir gesagt haben. Ich dachte eigentlich ganz anders, aber ich hatte Angst.“ In diesen Tagen steht der ehemalige Nienburger Oskar Gröning in Lüneburg vor Gericht. Siebzig Jahre nach Kriegsende muss er sich nun doch juristisch verantworten. Im wahrscheinlich letzten Prozess dieser Art steht ein fast 94 Jahre alter Mann im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Die Welt schaut nach Lüneburg und auf ihn. Was wird er zu seinen Taten damals sagen? „Ich habe mich moralisch schuldig gemacht, ich bekenne mich dazu in Demut und Reue; das, was ich in Auschwitz erlebt habe, verfolgt mich ein Leben lang.“ P. Marco Voigt, Predigt am Vorabend der Konfirmation in St. Martin, 25. April 2015 Wegen dieses Satzes ist Oskar Gröning für mich einer der Namen dieser Woche. Er streitet nicht ab. Er redet sich nicht raus. Er spricht nicht mehr davon, nur ein Rädchen im Getriebe gewesen zu sein. Nein, er nimmt seine Schuld an. Er bekennt sich. Er zeigt Demut und Reue. Wie lange haben die Opfer auf solch eine Aussage gewartet? Wie lange mussten sie sich die Rede von den Rädchen im Getriebe anhören? Oskar Gröning hat diesen Teufelskreis des Abstreitens und Schuld-aufandere-Schiebens endlich durchbrochen. Dass er so lange dafür gebraucht hat, zeigt, wie mächtig und verführerisch diese falsche Alternative ist: „Gib nur zu, was Dir auch wirklich nachgewiesen werden kann! Belaste Dich nicht selbst! Mach Dich nicht schlechter als Du bist!“ Vor Gerichten, die sich auf Zeugenaussagen und klare Beweise verlassen müssen, mag man damit oft durchkommen. Aber vor seinem eigenen Gewissen nicht. „…das, was ich in Auschwitz erlebt habe, verfolgt mich ein Leben lang“, sagt Gröning. Das Gewissen und die Erinnerung lassen sich eben nicht betrügen. Und Gott auch nicht. „Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, Herr, nicht schon wüsstest.“ So haben wir es heute mit Psalm 139 gebetet. Der zweite Name in dieser Woche ist für mich Joachim Gauck. Vorgestern hat er eine Rede gehalten. Eine Rede, die die einen befürchtet und die anderen erhofft hatten. Er hat davon gesprochen, dass das, was vor 100 Jahren dem armenischen Volk angetan wurde, ein Völkermord war. Und er hat zugegeben, dass Deutschland auch dabei eine unrühmliche Rolle gespielt hat. In Bündnistreue zum Kriegspartner, dem Osmanischen Reich, hat das Deutsche Reich geschwiegen und teilweise sogar mitgeholfen, Armenier umzubringen oder in die Wüste und damit auch in den sicheren Tod zu schicken. Auf Seiten der Türkei wird das nach wie vor geleugnet. Der deutsche Bundespräsident und viele andere mit ihm sind nun endlich auf die Armenier zugegangen und haben ihre Mitschuld zugegeben. Joachim Gauck hat damit Größe bewiesen. Ob es daran liegt, dass er lange Zeit, bevor er Bundespräsident wurde, einmal Pastor war? Oder liegt es daran, dass er ein Christ ist? Denn als Pastor oder als Christ hat man eine Ahnung davon, dass es sinnlos ist und sogar krank machen kann, Schuld zu leugnen. Als Christ hat man vielleicht schon einmal beim Abendmahl erfahren, wie wohltuend und heilend es ist, wenn man seine Schuld bekennen und sie vor Gott abladen kann. P. Marco Voigt, Predigt am Vorabend der Konfirmation in St. Martin, 25. April 2015 Darum ist es gut und richtig, dass wir miteinander am Vorabend der Konfirmation Abendmahl miteinander feiern. Das Abendmahl hilft uns, die Dinge nicht mehr so sehen zu müssen, wie wir es müssten, wenn wir eine Fassade aufrecht erhalten wollen. Wenn wir besser erscheinen wollen als wir sind. Im Abendmahl lernen wir, die Dinge auch anders sehen zu dürfen. Mit Gottes Augen, die uns liebevoll anschauen. Gott will uns nicht verurteilen, sondern vergeben. Das wird sehr schön an dem Text deutlich, der auf der Rückseite Ihres Liedblattes abgedruckt ist. Lassen Sie uns diesen Text gemeinsam lesen: Gottes Reich ist mitten unter uns Tatsache ist Dass die Kirche in der Gesellschaft nichts mehr zu sagen hat Dass unsere Gemeinden erst älter und dann kleiner werden Ich glaube nicht Dass sich das Blatt doch noch wenden wird Die Wahrheit ist Die Kirche in Deutschland steht kurz vor dem Aus Ich weigere mich zu glauben Dass ich als Christ etwas tun kann Dass Gott seine Kirche weiter bauen will Generationen vor uns haben das schon geglaubt Es steht doch klar vor Augen Dass heute so viele ausbrennen Es kann unmöglich sein Dass das bei uns anders sein wird Dass Gott eingreift Ich bin überzeugt Man kann den Lauf der Dinge nicht aufhalten Es wäre eine Lüge, würde ich sagen Gott kümmert sich um uns Das ist die eine Sicht auf die Welt. Die negative; die uns runter reißen und die Hoffnung nehmen will. Aber es ist Gott sei Dank nicht die einzige Art und Weise, die Welt zu sehen. Lassen Sie uns den gleichen Text noch einmal lesen. Satz für Satz. Dieses Mal aber von unten nach oben…
© Copyright 2024 ExpyDoc