Leitsätze zum Vortrag Brosius

Leibniz Universität Hannover
Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf, LL.M.
Verfassungsrechtliche Maßgaben für die Schulaufsicht des Staates
über freie Schulen – eine Grundlegung
Leitsätze zum Vortrag
I.
Der verfassungsrechtliche Schulbegriff im Wandel
1.
Gem. Art. 7 Abs. 1 GG stehen mit dem „gesamten Schulwesen“ sowohl staatliche als auch freie Schulen unter der Aufsicht des Staates. Der herkömmliche organisatorisch-formale Schulbegriff wird den
Zielen des verfassungsrechtlichen Schulauftrages nicht gerecht. Im
Lichte der Ziele des Art. 7 Abs. 1 GG erscheint ein funktionaler
Schulbegriff geboten, der als Schule jede Form der Vermittlung von
Bildung und bildungsbezogener Erziehung fasst, die geeignet und
erforderlich ist, um Kinder zu selbstbestimmten und verantwortungsbewussten Bürgern werden zu lassen und ihre chancengleiche
Teilhabe an Ausbildung, Studium und Beruf sicherzustellen.
2.
Auf der Grundlage eines funktionalen Schulbegriffes sind auch einzelne Lern- und Förderangebote für förderbedürftige Kinder im frühkindlichen Bereich (z.B. Sprachförderung) als „Schule“ zu qualifizieren. Auch unterrichtsergänzende Förderung wie Nachhilfeunterricht
im Rahmen von Ganztagsschulen unterfällt dem Verfassungsbegriff
der Schule.
II.
Verfassungsrechtlicher Begriff und Reichweite der Aufsicht des
Staates über das Schulwesen
3.
Die Aufsicht des Staates gem. Art. 7 Abs. 1 GG steht bezogen auf
freie Schulen in einem Spannungsverhältnis zu dem Grundrecht der
Privatschulfreiheit aus Art. 7 Abs. 4 Satz 1 GG. Die Auflösung dieses verfassungsrechtlichen Spannungsverhältnisses ergibt, dass die
Aufsicht des Staates über freie Schulen mehrfach begrenzt ist:
4.
Die Aufsichtsbefugnisse des Staates sind erstens auf Genehmigungs- und Kontrollbefugnisse des Staates gegenüber freien Schulen beschränkt (s. Art. 7 Abs. 4 Satz 2 bis 4, Abs. 5 GG). Die Vo-
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raussetzungen der Genehmigung privater Schulen als Ersatzschulen sind in Art. 7 Abs. 4 und 5 GG abschließend geregelt; sie dürfen
von den Ländern nicht erweitert werden. Freie Schulen haben einen
Rechtsanspruch auf Erteilung der Genehmigung, wenn ihre Lehrziele, Einrichtungen und Lehrer denen entsprechender öffentlicher
Schulen gleichwertig sind. Geboten ist nicht die Gleichwertigkeit der
Bildungsmittel, sondern nur des Bildungserfolges. Zu den Genehmigungsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 4 GG gehört weder die Gewährleistung einer Mindestschülerzahl für öffentliche Schulen noch
die generelle Einhaltung einer Deutschquote im Unterricht.
5.
Die Schulaufsicht des Staates ist zweitens im Bereich der Genehmigungskontrolle darauf beschränkt, die Einhaltung der Genehmigungsvoraussetzungen durch Rechtsaufsicht zu kontrollieren. Bei
der Ausübung der Rechtsaufsicht unterliegen sowohl die Häufigkeit
der staatlichen Kontrollen als auch die konkret ausgeübten Befugnisse den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips.
6.
Drittens wirkt sich das Spannungsverhältnis zwischen der Schulaufsicht des Staates (Art. 7 Abs. 1 GG) und dem Grundrecht der Privatschulfreiheit (Art. 7 Abs. 4 Satz 1 GG) auf die staatliche Förderung privater Ersatzschulen im Anschluss an die Genehmigung aus.
Art. 7 Abs. 4 GG verpflichtet die Länder, genehmigte Ersatzschulen
in dem Maße zu fördern, wie sie das Land von seiner öffentlichen
Schulaufgabe entlasten und ihm entsprechend finanzielle Aufwendungen ersparen (abzüglich eines angemessenen Eigenanteils des
Ersatzschulträgers, Schulgelder und sonstiger verfügbarer Finanzmittel des Privatschulträgers). Eine mehrjährige Wartefrist bei der
Schulförderung, wie sie die Schulgesetze fast aller Bundesländer
vorsehen, verstößt gegen Art. 7 Abs. 4 Satz 1 GG, wenn sie ohne
Einzelfallprüfung gilt. Weist der einzelne Schulträger nach, dass er
über eine hinreichend solide Existenzbasis und pädagogische Erfahrung verfügt, ist eine Wartefrist verfassungswidrig. Sofern eine Wartefrist im Einzelfall erforderlich ist, müssen die Länder gem. Art. 7
Abs. 4 GG in Abhängigkeit von der Länge der Wartefrist, der Höhe
der Schulgelder und der Höhe der endgültigen finanziellen Leistungen bereits während der Wartezeit Zuschüsse gewähren (keine „faktische Errichtungssperre“, BVerfG). Solche Zuschüsse dürfen weder
im Ermessen noch unter Haushaltsvorbehalt des Landes stehen.
Leitsätze zum Vortrag
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Außerdem muss das Land dem Schulträger während der Wartezeit
nicht erbrachte Zahlungen nach Ablauf der Wartefrist rückwirkend
vollständig leisten.
7.
Das Grundrecht der Privatschulfreiheit setzt der Gestaltungsfreiheit
des Staates im Schulwesen viertens bei der Organisation der Aufsicht Schranken. Ob im Lichte der Privatschulfreiheit die Einführung
einer staatsunabhängigen Schulaufsicht verfassungsrechtlich zulässig – oder geboten – ist, ist verfassungsrechtlich nicht geklärt. Eine
staatsunabhängige Aufsicht könnte gem. Art. 7 Abs. 4 GG zulässig
oder sogar geboten ein, wenn der Staat seiner Aufsichtsaufgabe
gem. Art. 7 Abs. 1 GG nicht gerecht würde, weil die zu beaufsichtigenden freien Schulen in Konkurrenz mit staatlichen Schulen stehen, was für den Staat zu Interessenkonflikten führen kann. Nimmt
der Staat die ihm obliegende Aufgabe der Genehmigung und Kontrolle freier Schulen wegen des Betriebs eigener Schulen nicht unparteiisch, ausschließlich orientiert am Maßstab des Gesetzes wahr,
kann die Herauslösung der Aufsicht aus der hierarchischen Ministerialverwaltung verfassungsrechtlich zulässig bzw. geboten sein.
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